Bei Säugetieren wandern die meisten Männchen nach Erreichen der
Geschlechtsreife in eine neue Gruppe ab. Diese Abwanderung ist oft mit
Gefahren verbunden. Neue Ergebnisse von Tüpfelhyänen zeigen, dass Männchen
aus der gleichen Geburtsgruppe – und insbesondere Zwillingsbrüder – sich
sehr oft gemeinsam auf Wanderschaft begeben und die gleiche Gruppe für ihr
künftiges Leben wählen. Das liegt zum einen daran, dass Männchen mit
ähnlichem sozialen und genetischen Hintergrund ähnliche Vorlieben haben.
Es gibt aber auch starke Hinweise darauf, dass sich miteinander verwandte
Männchen aktiv dazu entscheiden, gemeinsam abzuwandern, um sich in der
neuen Umgebung gegenseitig zu unterstützen.
Was das soziale Leben und die Evolution von Tüpfelhyänen antreibt, ist
seit einem viertel Jahrhundert Forschungsgegenstand des Hyänenprojektes
des Leibniz-Institutes für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) im
Ngorongorokrater in Tansania. Die neuen Ergebnisse sind in der Zeitschrift
„Biology Letters“ erschienen.
Tüpfelhyänen (Crocuta crocuta) sind hochsoziale Säugetiere, die in großen,
von Weibchen dominierten Gruppen (Clans) mit komplexer Sozialstruktur
leben. Während die Weibchen in ihrer Geburtsgruppe bleiben, müssen sich
die Männchen irgendwann entscheiden, ob sie in ihrem Clan weiterleben oder
in eine andere Gruppe abwandern. Diese Entscheidung ist wichtig für ihren
Fortpflanzungserfolg und die meisten Männchen entscheiden sich dafür, ihre
Geburtsgruppe zu verlassen. Abwanderung und die Eingliederung in die neue
Gruppe sind jedoch mit Hindernissen verbunden: Neuankömmlinge fallen in
der sozialen Hierarchie des neuen Clans ganz nach unten und müssen bei den
bereits etablierten Männchen als Sündenböcke herhalten. Wie entscheiden
die Männchen, wann, wo und mit wem sie abwandern? Ziehen sie allein oder
gemeinsam mit Freunden und Brüdern los? Handelt es sich bei der
koordinierten Abwanderung um eine bewusste Entscheidung oder um einen
passiven Prozess, der durch Ähnlichkeiten zwischen den Männchen in Bezug
auf ihren Genotyp und ihre soziale Herkunft bedingt ist?
Diese Fragen sind für Verhaltensbiologen und den Naturschutz von großem
Interesse, aber untersuchen lassen sie sich nur schwer, da sie
detaillierte Daten über das Verhalten und den Erfolg vieler Individuen im
Laufe ihres Lebens erfordern. Nur wenige Forschungsteams haben Zugang zu
solchen Daten über große Säugetiere. Das seit einem Vierteljahrhundert
laufende Hyänenprojekt im Ngorongoro-Krater in Tansania ist eines dieser
Projekte.
Im Ngorongoro-Krater leben ca. 400 Tüpfelhyänen, die sich in acht Clans
aufteilen Alle Hyänen dieser Population sind durch ihr Fleckenmuster
individuell bekannt und werden nahezu täglich überwacht. In den letzten 26
Jahren hat das Team des Leibniz-IZW detaillierte Daten von 2800 Hyänen mit
nahezu vollständigen individuellen Lebensläufen gesammelt. Dieser
Datensatz bietet weltweit einzigartige Möglichkeiten für die Verhaltens-
und Evolutionsforschung.
„Wir zeigen zum ersten Mal, dass bei Tüpfelhyänen Zwillingsbrüder und
Kumpel aus demselben Geburtsclan häufig in denselben Clan einwandern, um
sich fortzupflanzen“, erklärt Oliver Höner, Leiter des Ngorongoro-Krater-
Hyänenprojektes. Zwillingsbrüder wandern in 70 % der Fälle gemeinsam ab,
und männliche Verwandte gleichen Alters und gleichen Geburtsclans tun dies
in 36 % der Fälle. Im Gegensatz dazu lassen sich nicht verwandte Männchen
aus verschiedenen Clans nur in 7 % der Fälle im selben Clan nieder. „Das
ist neu und aufregend, denn bisher ging man davon aus, dass Tüpfelhyänen
alleine abwandern. Es bedeutet auch, dass Einwanderer oft genetisch
miteinander verwandt sind. Dies verbessert unser Verständnis der sozialen
Dynamik und des Genflusses in Wildtierpopulationen“, sagt Eve Davidian,
Erstautorin des Artikels.
Dass sich Zwillingsbrüder und Kumpels vom selben Geburtsclan oft gleich
entscheiden, kann theoretisch zwei Ursachen haben, eine aktive und eine
passive. Der passive Prozess entsteht, wenn Männchen mit ähnlichem
genetischen und sozialen Hintergrund ähnlich denken und handeln und
zufällig die gleiche Gruppe wählen. Alternativ könnte es eine bewusste und
adaptive Entscheidung sein, die von den Vor- und Nachteilen einer
gemeinsamen Abwanderung abhängt. „Ob die Vorteile die Kosten überwiegen,
hängt von der Größe des Clans ab“, erklärt Eve Davidian. „Wenn die Clans
groß sind und viele Männchen enthalten, kann es sehr vorteilhaft sein,
gemeinsam mit einem Verbündeten abzuwandern, um den Widerstand der
etablierten Männchen besser zu bewältigen.“ Mögliche Nachteile entstehen
dadurch, dass Männchen, die in die gleiche Gruppe abwandern, um die
gleichen Weibchen konkurrieren. „Dies ist besonders kostspielig bei
kleinen Clans mit nur wenigen Weibchen und für nahe Verwandte wie
Zwillinge, weil der Fortpflanzungserfolg des Bruders auch den eigenen
beeinträchtigt. Das ist wie eine doppelte Strafe", fügt Eve Davidian
hinzu.
Die Wissenschaftler:innen fanden heraus, dass Zwillingsbrüder und
Verwandte am ehesten gemeinsam auswanderten, wenn die Clans groß waren.
Dies zeigt, dass die Männchen eine aktive Wahl treffen. Dass aber nicht
nur Zwillingsbrüder, sondern auch Kumpels desselben Geburtsclans häufig
gemeinsam abwandern, zeigt, dass auch das soziale und ökologische Umfeld
während des Aufwachsens sowie der genetische Hintergrund die Entscheidung
beeinflussen.
Die gleichen Prozesse dürften sich auch in anderen Hyänenpopulationen
wiederfinden, da auch andere Verhaltensmuster bei Hyänen in verschiedenen
Untersuchungsgebieten ähnlich sind. Wann und wie Tiere kollektive
Entscheidungen treffen, ist ein wachsendes und spannendes
Forschungsgebiet. Die Tatsache, dass die gemeinsame Abwanderung durch eine
Kombination aus komplexen und flexiblen adaptiven Entscheidungen und
passiven Prozessen, die durch einen gemeinsamen sozio-ökologischen und
genetischen Hintergrund geprägt sind, angetrieben werden kann, wurde hier
zum ersten Mal bei einer Wildpopulation gezeigt.