Luzerner Sinfonieorchester Michael Sanderling & Julia Fischer, KKL Luzern, 18. Mai 2025, besucht von Léonard Wüst

Solistin Violine Julia Fischer, Dirigent Michael Sandeling und ihre Mitmusiker freuen sich über den Applaus Foto Vanessa Bösch
Besetzung und Programm:
Luzerner Sinfonieorchester
Dirigent Michael Sanderling
Solistin Violine Julia Fischer
Benjamin Britten (1913 ‒ 1976)
Konzert für Violine und Orchester d-Moll op. 15
Dmitri Schostakowitsch (1906 ‒ 1975)
Sinfonie Nr. 11 g-Moll op. 103 «Das Jahr 1905»
Benjamin Britten Konzert für Violine & Orchester d-Moll op. 15
Ein Werk zwischen Welten
Benjamin Brittens Violinkonzert in d-Moll op. 15 ist ein selten aufgeführtes Juwel des 20. Jahrhunderts. Entstanden am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, oszilliert es zwischen romantischer Expressivität und moderner Dissonanz. Das Luzerner Sinfonieorchester unter der Leitung von Michael Sanderling wagte sich gemeinsam mit der gefeierten Solistin Julia Fischer an dieses technisch wie emotional anspruchsvolle Werk – mit bemerkenswerter Tiefe und Feinsinn.
Einführung mit Feingefühl
Schon im ersten Satz, Moderato con moto, beeindruckte Fischer mit einem Ton von kristallklarer Präzision. Ihre Phrasierungen wirkten nie manieriert, sondern natürlich und erzählerisch. Sanderling schuf eine transparente orchestrale Struktur, die Brittens düstere Untertöne und ironische Brechungen fein ausbalancierte. Die Kommunikation zwischen Solistin und Orchester war von Anfang an sensibel und hellwach.
Virtuosität ohne Eitelkeit

Der zweite Satz, Vivace, stellt höchste Anforderungen an Technik und Rhythmusgefühl. Fischer meisterte die teils gnadenlosen Doppelgriffe und synkopischen Passagen mit beeindruckender Leichtigkeit, ohne jemals in bloße Virtuosität abzugleiten. Ihr Spiel war stets dienlich dem Ausdruck – mit pointierter Energie, aber auch einer Prise sarkastischen Humors, ganz im Sinne Brittens.
Ein stiller Triumph im Finale

Im letzten Satz, einer Passacaglia, zeigte sich Brittens Genie in voller Tiefe. Hier wurde die Aufführung zu einem geistigen Erlebnis: Fischer und das Orchester entwickelten eine innere Spannung, die sich erst ganz am Schluss, fast unmerklich, auflöste. Die stille Coda ließ den Saal atemlos zurück. Sanderling führte mit ruhiger Hand, nie dominant, aber stets präsent, und ließ Raum für die Solistin, sich perfekt in die dunkle Melancholie der Musik einzufühlen.
Zusammenspiel auf Augenhöhe

Das Luzerner Sinfonieorchester zeigte sich dabei in exzellenter Form. Besonders die Holzbläser fielen durch Klarheit und klangliche Wärme auf. Auch in den komplexen Tuttipassagen gelang es dem Ensemble, Struktur und Dynamik präzise herauszuarbeiten. Es war ein durchweg kammermusikalisch geprägtes Zusammenspiel – getragen von gegenseitigem Respekt und musikalischem Verständnis.
Fischer als Erzählerin
Julia Fischer bewies erneut, dass sie zu den bedeutendsten Geigerinnen ihrer Generation zählt. Sie interpretierte Brittens Konzert nicht nur als technische Herausforderung, sondern als seelische Reise. Ihre Fähigkeit, klangliche Schönheit mit emotionaler Vielschichtigkeit zu verbinden, verlieh dem Werk eine seltene Tiefe. Besonders in den leisen Momenten zeigte sie Mut zur Zurücknahme – ein Zeichen echter künstlerischer Reife.
Ein Abend mit Nachhall
Der Applaus nach dem letzten verklingenden Ton war lang, bewegt – und völlig verdient. Diese Aufführung war mehr als nur ein musikalisches Ereignis: Sie war eine eindrucksvolle Wiederbegegnung mit einem unterschätzten Meisterwerk. Brittens Violinkonzert wurde hier nicht nur technisch gemeistert, sondern in all seiner Ambivalenz zum Leben erweckt – durch eine kongeniale Zusammenarbeit von Orchester, Dirigent und Solistin.
Für den langen stürmischen Applaus bedankte sich die Solistin schließlich mit der Sarabande in E Moll, BWV 810, von Johann Sebastian Bach als Zugabe.
Dmitri Schostakowitsch Sinfonie Nr. 11 g-Moll op. 103 «Das Jahr 1905»
Ein Klangbild der Revolution
Dmitri Schostakowitschs elfte Sinfonie ist mehr als bloße Programmmusik: Sie ist ein musikalischer Zeitzeuge. Die Aufführung des Luzerner Sinfonieorchesters unter Michael Sanderling offenbarte das Werk als emotionale Anklage und klangliche Wucht. «Das Jahr 1905» wurde nicht historisch distanziert dargeboten, sondern mit einer Dringlichkeit, die das Publikum unmittelbar in das Geschehen hineinzog.
Stille vor dem Sturm

Der erste Satz, Der Palastplatz, begann in fast erstarrter Ruhe. Sanderling bewies großes Gespür für das Dehnen der Zeit. Die Streicher des Luzerner Sinfonieorchesters zeichneten mit zurückhaltendem Vibrato eine frostige Atmosphäre, fast unbeweglich und doch voller Spannung. Diese Kälte war keine bloße Klangkulisse – sie war der Atem einer erstickten Gesellschaft am Vorabend der Explosion.
Ein musikalischer Aufschrei
Mit Der 9. Januar folgte der dramatische Kern der Sinfonie: das brutale Zerreißen der Stille. Hier brillierte das Orchester in aller Wucht – donnernde Schläge, markerschütternde Trompetensignale, schrille Piccoloflöten. Sanderling hielt das Ensemble mit klarer Zeichengebung fest zusammen und steigerte die dramatische Wucht ohne Effekthascherei. Der Aufschrei wurde zur Anklage – und zur Mahnung.
Lamentieren mit Würde

Im dritten Satz, In Memoriam, wandelte sich die Klangsprache zu einem tiefen Klagegesang. Die Bratschen und Celli führten den Trauermarsch mit edlem, dunklem Klang an. Hier zeigte sich Sanderlings Fähigkeit, große emotionale Bögen zu formen, ohne ins Sentimentale zu kippen. Die Musik schien still zu trauern, aber nicht zu zerbrechen – ein Zeichen innerer Stärke trotz kollektiven Leids.
Zerreißprobe der Hoffnung
Der vierte Satz, Tuschki, setzte ein letztes Fragezeichen. Hoffnung und Bedrohung wechselten sich in beklemmender Dichte ab. Das Blech triumphierte, doch der Jubel blieb hohl – ein Spuk, nicht Sieg. Das Luzerner Sinfonieorchester hielt die Spannung bis zum letzten Schlag. Sanderling entlockte der Partitur alle Ambivalenz: Triumph als Trugbild, Klang als Kommentar. Eine meisterhafte Gratwanderung.
Orchester in Hochform
Das Luzerner Sinfonieorchester zeigte sich in jeder Sekunde präsent. Besonders das Schlagwerk bestach durch Präzision und Kraft – ohne martialisch zu wirken. Die Holzbläser setzten emotionale Lichtpunkte, die Blechbläser überzeugten mit Klanggewalt und Kontrolle. Sanderling formte das Ensemble mit sicherer Hand, nuanciert und stets durchdrungen vom Geist der Partitur.
Kunst als Zeugnis
Diese Aufführung war mehr als ein sinfonischer Abend – sie war ein künstlerisches Statement. Schostakowitschs Musik, oft politisch instrumentalisiert, wurde hier als ehrliches Zeitdokument gelesen: voller Schmerz, Hoffnung, Wut und Erinnerung. Michael Sanderling und das Luzerner Sinfonieorchester machten das Werk zu einem Mahnmal in Tönen – ohne Pathos, aber mit erschütternder Klarheit.
Nachklang der Stille
Der Applaus setzte zögerlich ein – wie oft nach Musik, die nicht unterhalten, sondern aufrütteln will. Doch er steigerte sich zu lang anhaltender Anerkennung und mündete in eine partielle „Standing Ovation“. Eine Aufführung, die nicht nur musikalisch brillierte, sondern auch ethisch berührte. So wurde Schostakowitschs Elfte zu dem, was sie sein muss: ein klingendes Denkmal des Gewissens.
Schostakowitsch Werke sind meist auch für die Schlagwerker dankbar, sie, die sonst eher unauffällig, aber nicht minder wichtig, in der hintersten Reihe agieren, konnten hier mal so richtig auf die sprichwörtliche Pauke hauen, was ihnen, aber auch dem Publikum, sichtlich Spaß machte.
Text: www.leonardwuest.ch
Fotos: Philipp Schmidli www.sinfonieorchester.ch und https://www.juliafischer.com/
Homepages der andern Kolumnisten: www.marinellapolli.chwww.gabrielabucher.ch www.herberthuber.chwww.maxthuerig.ch
- Aufrufe: 82