Zum Hauptinhalt springen

Vermischtes

Internationale Gäste erschließen planetare Räume

Planetary Scholars & Artists in Residence Program: Innovatives
Stipendienprogramm der Universität Gießen für Tandems aus Wissenschaft und
Kunst steht 2023 unter dem Motto  „Planetary Spaces“ – Reflexive Forschung
zur Nachhaltigkeit

Denkräume schaffen, um Zusammenhänge hinterfragen und Folgen abschätzen zu
können – eine planetari¬sche Gesamtperspektive ist nötig, um Antworten auf
die Fragen unserer Zeit zu finden. Vor dem Hintergrund von Klimawandel,
Artensterben und Umweltzerstörung im planetaren Maßstab rückt das „Panel
on Planetary Thinking” an der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU)
Wechselwirkungen zwischen dem Planeten und den Menschen in den
Mittel¬punkt des Erkenntnis- und Handlungsinteresses. Ein innovatives
Stipendienprogramm (Planetary Scholars & Artists in Residence Program)
bringt dazu internationale Tandems aus Wissenschaft und Kunst zusammen, um
von Gießen aus kreativ zu arbeiten und zu forschen. Erstmals wird 2023
zudem eine Wissenschaftsautorin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in die
Arbeit des Panels eingebunden sein. Die Gäste sind eingeladen, aus
unterschiedlicher Perspektive „planetare Räume“ zu erschließen – gemäß dem
Motto „Planetary Spaces“.

Der Blick richtet sich im „Panel on Planetary Thinking” aufs „große
Ganze“; Nachhaltigkeits-themen stehen im Fokus des Stipendienprogramms.
Während die Fellows der ersten Ausschreibungsrunde 2022 „Planetare
Materialien“ ins Visier nahmen, wird es im kommenden Jahr um „planetare
Räume“ gehen. Ab Januar 2023 widmet sich die Astrophysikerin und
Philosophin Dr. Sibylle Anderl aus Frankfurt am Main einem Buchprojekt zur
Entdeckungsgeschichte der Sonne. Zu Gast an der JLU werden ab April 2023
die nigerianische Klimaaktivistin und Ökofeministin Adenike Titilope
Oladosu und der US-amerikanische Künstler und Wissenschaftler Dr. Jason
Waite sein. Von den Stipendiatinnen und Stipendiaten erhoffen sich die
Initiatoren Impulse für die wissenschaftlichen Debatten über Fächergrenzen
hinweg. Eingeladen werden für jeweils drei Monate internationale
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Künstlerinnen und Künstler,
die mit ihrem akademischen oder künstlerischen Wirken in der Lage sind,
Vertreterinnen und Vertreter der Geistes-, Sozial-, Natur- und
Kulturwissenschaften miteinander ins Gespräch zu bringen.

Die Gäste sollen an der JLU Workshops oder Masterclasses anbieten, die als
potenzielle Keimzelle für Ideen zu künftiger Forschung, Lehre und zum
Transfer dienen. Dazu arbeiten sie als Tandems zusammen; die Stipendien
bieten den Raum und die Rahmenbedingungen. Im Jahr 2023 werden zwei
Stipendien und ein Schreibstipendium für das Sommersemester sowie zwei
weitere Stipendien für das Wintersemester vergeben, die mit jeweils 5.000
Euro pro Monat (inklusive Reise- und Unterhaltskosten) dotiert sind und
eine Laufzeit von drei Monaten haben, die entweder im Zeitraum April bis
Juni oder September bis November durchgeführt werden können.

„Mit unseren Gästen loten wir gemeinsam aus, welche Impulse die sich
gegenwärtig formierenden Denkströmungen – von den Environmental Humanities
bis zur Anthropozänforschung – für die Nachhaltigkeitsforschung an der JLU
geben können und welchen Beitrag die JLU zu diesen Debatten liefern kann“,
erklärt Prof. Dr. Claus Leggewie, Inhaber der Ludwig Börne-Professur an
der JLU und Initiator des Panel on Planetary Thinking. Dass sich die
Erstauflage des Stipendienprogramms gelohnt habe, zeige die erfreuliche
Resonanz. „Wir freuen uns sehr, dass uns in der zweiten
Ausschreibungsrunde erneut Bewerbungen aus aller Welt erreicht haben“,
freut sich der Politikwissenschaftler. „Auf diese Weise können wir unser
Netzwerk an Planetary Scholars & Artists weiter ausbauen und das
Fellowship Programm weltweit noch bekannter machen“, ergänzt Liza Bauer,
die zurzeit die wissenschaftliche Geschäftsführung des „Panel on Planetary
Thinking“ in Vertretung für Dr. Frederic Hanusch innehat.

Das Profil der JLU im Bereich Nachhaltigkeit wird durch das Planetary
Scholars & Artists in Residence Program zusätzlich gestärkt. Das
Stipendienprogramm wird aus dem Profilbudget des Hessischen Ministeriums
für Wissenschaft und Kunst (HMWK) finanziert.

Projekte (1. Halbjahr 2023)

I.      Schreibprojekt: Die Sonne. Eine Entdeckung

Wir alle bestehen aus Sternenstaub. Diese gern zitierte Einsicht der
Astrophysik – fast alle Elemente jenseits des Heliums wurden schließlich
im Inneren von Sternen per Kernfusion erbrütet oder sind entstanden, als
Sterne ihr Leben beendeten – stellt eine Verbindung her zwischen unserer
eigenen Existenz und unserem eigenen Heimatstern, der Sonne, zu der wir
nicht nur hinsichtlich unserer materiellen Konstitution, sondern in
praktisch allen Aspekten unseres Lebens in Abhängigkeit stehen. Das
Projekt nimmt die Entdeckungsgeschichte der Sonne aus drei Blickwinkeln
heraus ins Auge: Es beschreibt, wie die Sonne entdeckt wurde und was die
Menschheit heute über sie weiß, es untersucht die Formen des
„Sonnenaufgangs“ in kulturellen Vorstellungen und Praktiken, und es fragt
(3) in wie fern „Sonnenkraft“ zukunftsfähige Lebensformen erschließen
könnte.

Die Astrophysikerin und Philosophin Dr. Sibylle Anderl leitet das
Wissenschaftsressort der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und
Sonntagszeitung, ist Mitherausgeberin des „Kursbuch“ und tritt als TV-
Moderatorin auf, darunter für das monatliche Magazin „Space Night
Science“. Dr. Anderl wurde nach dem Magisterabschluss in Philosophie 2013
im Fach Astronomie/ Astrophysik promoviert. Bis 2020 war sie
Gastwissenschaftlerin am Institut des Planétologie et d’Astrophysique in
Grenoble. Ihre Forschungsinteressen gelten u.a. den Frühphasen der
Sternentstehung, der Astrochemie und der Wissenschaftsphilosophie. Den
Bestsellern über „Dunkle Materie“ (2022) und „Das Universum und ich“
(2018) soll jetzt ein Buch über die Sonne folgen.

II.     Erdbeobachtungssysteme und Wiederherstellung schwindender
planetarer Räume: eine Fallstudie über den Lake Chad (Tschadsee)

Das Fellowship-Projekt nutzt Fernerkundungstechnologien wie
Erdbeobachtungssatelliten, um die Probleme des Lake Chad aus der Ferne zu
betrachten und an die Öffentlichkeit zu kommunizieren. Adenike Oladosu
entwickelt Lösungsstrategien für die vielschichtigen Konflikte in der
Region und die auf den Klimawandel zurückzuführende Krise. Da der
Lebensunterhalt der Bevölkerung unmittelbar an die Verfügbarkeit von
Wasser aus dem Lake Chad gekoppelt ist, stellt der drastische Rückgang des
Wasserspiegels ein großes Problem in der Region dar. Das Projekt verbindet
daher die Erforschung dieses bedrohten Ökosystems mit soziopolitischem
Aktivismus. Es sind Workshops, Diskussionen und eine Ausstellung geplant,
die über die planetare Dimension der Problematik aufklären sollen.

Adenike Titilope Oladosu ist Ökofeministin, Ökoreporterin aus Nigeria und
engagiert sich als Vorreiterin für Klimagerechtigkeit. Als Gründerin der I
Lead-Climate-Action-Initiative setzt sie sich für eine ökologisch
orientierte Demokratie in Afrika und für die Regeneration des Tschadsees
ein. Mit ihren Forschungsarbeiten sowie ihrem politischen Engagement will
sie einen Beitrag leisten für Frieden, Sicherheit und Gleichberechtigung.
Sie bringt ihr Engage-
ment für den Klimaschutz regelmäßig auf internationalen und lokalen Foren
zum Ausdruck.

III.    Gedeihen nicht-menschlicher Lebewesen in toxischen planetaren
Räumen

Im Jahr 2021 war die Sperrzone von Fukushima größer als die Stadt
Frankfurt, das Gebiet ist seit 2011 für die Öffentlichkeit gesperrt;
Zehntausende Menschen wurden vertrieben. Innerhalb der Sperrzone von
Fukushima transformiert sich ein planetarer Ort: War er vor der
Nuklearkatastrophe ein landwirtschaftlicher „animal space“, so entstand
dort im Laufe der vergangenen zehn Jahre ein „beastly place“. Innerhalb
der radioaktiven Sperrzone haben sich Hausschweine, die von evakuierten
Landwirten freigelassen wurden, mit Wildschweinen gepaart; eine neue
Kreuzung ist entstanden. Das Fellowship-Projekt erforscht das verborgene
Leben dieser Wildschweine durch eine interdisziplinäre Analyse von
Videoaufnahmen, die mit installierten Kameras aufgezeichnet wurden. Diese
Bilder bieten einen Einblick in den „beastly place“ und dokumentieren die
Anpassungsfähigkeiten nicht-menschlicher Lebewesen an ihre radioaktive
Umgebung. Zum einen erinnert dieser toxische Ort an vergangene, stärker
radioaktive Phase des Planeten. Zum anderen halten die nicht-menschlichen
Lebewesen wichtige Lektionen für unser zukünftiges Überleben bereit.

Jason Waite ist ein derzeit in Großbritannien ansässiger Kurator, Autor
und Kultur
schaffender. Er arbeitet besonders an Krisenherden und versucht mit seiner
Kunst Werkzeuge zu kreieren, die radikalen Vorstellungen über alternative
Formen des Zusammenlebens und -arbeitens einen Weg bereiten. Er ist Teil
des Kollektivs Don't Follow the Wind, das ein Projekt in der unbewohnten
Sperrzone von Fukushima durchführt. Waite war Mitkurator v Ausstellungen
in Paris, New York und Utrecht. Er wurde in zeitgenössischer
Kunstgeschichte und -theorie an der Universität Oxford promoviert, erwarb
einen MA in Kunst und Politik an der Goldsmiths Universität in London und
war Helen Rubinstein Curatorial Fellow am Whitney Museum ISP. Außerdem ist
er Chefredakteur der Art Review Oxford und Mitherausgeber des Buches Don't
Follow the Wind (Sternberg Press, 2021).

Wie wirken soziale Initiativen in Städten?

Ausstellung mit Forschungsergebnissen des „U!REKA Lab: Urban Commons“

Vor allem in urbanen Zentren schließen sich immer mehr Menschen in
organisierten Gruppen zusammen und suchen nach Lösungen für
unterschiedliche Probleme der Stadt. Wie gut diese sozialen Initiativen,
auch Urban Commons-Initiativen genannt, wirklich funktionieren, untersucht
das internationale und interdisziplinäre U!REKA-Konsortium (Urban Research
and Education Knowledge Alliance), an dem sich auch Lehrende und
Studierende der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS)
beteiligen. Die Forschungsergebnisse werden vom 19. bis 22. Dezember 2022
im Deutschen Werkbund Hessen e.V. ausgestellt.

Die Fragen, die angesichts der Globalisierung aufgeworfen werden, können
gut mit der Hilfe von Netzwerken beantwortet werden – daher hat sich das U
!REKA-Konsortium zusammengeschlossen, um gemeinsam die Herausforderungen
urbaner Zukunftsfragen zu gestalten. Derzeit erforscht das „U!REKA Lab:
Urban Commons“, ob und welchen Einfluss die sozialen Urban Commons-
Bewegungen auf die aktuelle Stadtplanung haben können und sollen: Welche
Initiativen gibt es in den teilnehmenden Städten? Wie funktionieren sie?
Welche Co-Creation-Modelle und -Prozesse können in die reale Stadtplanung
gewinnbringend eingebracht werden?

Studierende der sechs beteiligten Hochschulen für Angewandte
Wissenschaften (HAW) aus Frankfurt, Amsterdam, Gent, Helsinki, Lissabon
und Ostrava präsentieren in der Ausstellung ihre künstlerisch-
ethnografischen und dokumentarischen Recherchen zu Urban Commons-
Initiativen in den verschiedenen Städten sowie Projektvorschläge zur
Förderung der urbanen co-kreativen Zusammenarbeit und der gemeinsamen
Nutzung des urbanen Raums. Zudem werden die Ergebnisse eines U!REKA-
Netzwerkstreffens vorgestellt, bei welchem Lehrende und Studierende zu
lokalen stadtplanerischen und gesellschaftlichen Problemstellungen
arbeiteten. In Frankfurt lag der Schwerpunkt auf den Themen „Bezahlbarer
Wohnraum“, erarbeitet von Studierenden des Master-Studiengangs
Zukunftssicher Bauen, sowie „künstlerisch-ästhetische und ethnografische
partizipative Sozialraumforschung“, erarbeitet von Studierenden des
Master-Studiengangs „Performative Künste in sozialen Feldern“. Angeleitet
wurden die Studierenden von Angelika Plümmer, Petra Schwerdtner, Raul
Gschrey und Jutta Stocksiefen.

Termine Ausstellung: „U!REKA Lab: Urban Commons and City Development“
Ausstellungseröffnung/Präsentationen: Montag, 19. Dezember 2022, ab 17:30
Uhr
Öffnungszeiten Ausstellung: Montag, 19. Dezember 2022, ab 15:30 Uhr
Dienstag, 20. Dezember 2022, 15:30-20:00 Uhr
Mittwoch, 21. Dezember 2022, 15:30-20:00 Uhr.
Veranstaltungsort: Deutscher Werkbund Hessen e.V., Weckmarkt 5, 60311
Frankfurt
Mehr zum U!REKA Lab: <https://urcommons.eu>; weitere Informationen zum U
!REKA-Konsortium: <www.frankfurt-university.de/ureka>

  • Aufrufe: 1

Simulationen für durchdachten Einbau: Wie Kabel reibungsloser ins Auto kommen

Autos sind bis unters Dach vollgepackt mit Technik. Immer neue Funktionen
machen das Fahren angenehmer oder sicherer. Dies alles auf kleinstem Raum
zu verkabeln, ist ein hartes Stück Handarbeit. Professor Stefan Diebels
erforscht mit seinem Team an der Universität des Saarlandes, welche Kräfte
auf Kabel wirken, wenn sie zugleich gebogen und verdreht werden. Mit dem
Fraunhofer ITWM und der Firma fleXstructures arbeitet er an Simulationen,
mit denen die Autoindustrie den Einbau vorausschauend planen und die Kabel
leichter und besser im Wagen unterbringen kann. Das Transferprojekt wird
gefördert von der Fraunhofer-Gesellschaft und der Deutschen
Forschungsgemeinschaft (DFG).

In Oldtimern ist noch alles überschaubar: Von Batterie oder Lichtmaschine
führen Kabel zu Motor, Lichtern, Radio oder Scheibenwischern. Heute
dagegen stecken Tausende von Einzelkabeln in dicken Kabelbäumen, die sich
im Fahrzeug verästeln wie ein Wurzelwerk. Sie versorgen und verknüpfen
unzählige Sensoren und Minicomputer, die untereinander kommunizieren und
alles Mögliche steuern: vom Tempomat, Spur- oder Bremsassistenten bis hin
zum Fensterheber – etwa damit Scheiben beim Verriegeln der Türen
automatisch hochfahren. „Je mehr Komfort, Sicherheit und Multimedia Einzug
halten und je autonomer das Fahrzeug agieren soll, desto mehr Kilometer
verschiedenster Kabel müssen im Auto untergebracht werden“, erklärt der
Ingenieurwissenschaftler Professor Stefan Diebels von der Universität des
Saarlandes.

Das Verlegen der Kabel geht nur von Hand; die flexiblen und mitunter
laschen Leitungen sind für Roboterhände unberechenbar und nicht zu
händeln: Kabeleinbau ist nach wie vor eine komplexe und aufwändige
Geduldsarbeit für Autobauer. Schließlich muss das gesamte Nervenkostüm des
Autos in Karosserie und Innenverkleidung verschwinden, ohne dass sich
Kabel verheddern. Oft wird es dabei eng. Vor allem darf kein Kabel zu sehr
verbogen oder verdreht werden, sonst funktioniert bald weder Strom- noch
Datenfluss. Nicht selten stellen sich Engstellen erst im Prototyp heraus,
und es muss umgeplant werden. Auch können Kabel infolge des komplizierten
Einbaus Schaden nehmen und zu Sicherheitsrisiken oder teuren
Rückrufaktionen führen.

Neuartige Simulationen sollen jetzt den Kabeleinbau erleichtern und
sicherer machen. Hieran forschen Professor Stefan Diebels und sein Team am
Saarbrücker Lehrstuhl für Angewandte Mechanik gemeinsam mit der Abteilung
„Mathematik für die digitale Fabrik“ unter Leitung von Dr.-Ing. Joachim
Linn am Kaiserslauterer Fraunhofer-Institut für Techno- und
Wirtschaftsmathematik sowie dem Fraunhofer-Spin-off fleXstructures als
Praxis-Partner.

„Unser Ziel ist es, dass die Entwicklungsabteilungen der Autoindustrie den
Einbau der Kabel schon in der Designphase durchspielen können“, erklärt
Stefan Diebels. Auf diese Weise sollen sie am virtuellen Reißbrett zum
einen früh Schwachstellen wie Engstellen beim Verlegen erkennen, wo Kabel
etwa Gefahr laufen, durch Knicken oder Biegen Schaden zu nehmen. Zum
anderen wird so planbar, wo welche Kabel für den späteren Betrieb am
besten durchgeführt und befestigt werden, so dass Schäden und früher
Verschleiß durch Scheuern oder scharfe Kanten verhindert werden können.

Um solche Simulationen entwickeln zu können, sind zunächst genaueste
Kenntnisse nötig, wie sich verschiedene Kabeltypen verhalten, wenn sie –
wie beim Einbau ins Auto – belastet werden. Dies ist der Forschungspart
des Teams der Universität des Saarlandes: Professor Diebels und seine
Arbeitsgruppe, darunter auch Doktorandinnen und Doktoranden im Rahmen
ihrer Doktorarbeit, führen umfangreiche experimentelle Untersuchungen an
unterschiedlichen Kabelproben durch und bestimmen mechanische Parameter
der Kabelsysteme – will heißen: An mehreren, eigens hierfür
weiterentwickelten Versuchsständen biegen, belasten und verdrehen sie
verschiedene Kabelarten und sammeln dabei Daten, welche Kräfte wirken und
was genau mit den Kabeln passiert.

Was sich einfach anhört, ist hoch komplex. Wird das Kabel frei verformt,
kommen verschiedenste Effekte auf, die sich durch die Kopplung von
Biegeverhalten bei gleichzeitiger Drehung, also Torsion, ergeben. „Solche
Kombinationen aus Biegen und Drehen kommen in der Praxis beim Verlegen der
Kabel typischerweise vor. Wir untersuchen gezielt diese Wechselwirkungen
bei Überlagerung von Biegen und Torsion unterschiedlicher Kabeltypen und
modellieren die mechanischen Belastungen“, erläutert Stefan Diebels.
„Hierzu haben wir spezielle Versuchsstände entwickelt, in denen die
unterschiedlichen Lastfälle einzeln und in Kombination aufgebracht werden
können“, sagt Dr. Prateek Sharma, der in Diebels Team forscht. „Wegen der
großen Vielfalt an unterschiedlichen Kabeln benötigen wir für die
Modellierung eine große Basis an experimentellen Daten. Da die
Zusammenhänge sehr komplex sind, ist eine Auswertung der Daten mittels KI-
Methoden erforderlich“, erläutert Doktorandin Carole Tsegouog, die im
Rahmen ihrer Doktorarbeit am Projekt arbeitet.

Auf derartige Belastungsforschung ist die Saarbrücker Arbeitsgruppe
spezialisiert. In anderen Forschungsprojekten untersuchen sie
beispielsweise die Belastung in Unterschenkelknochen beim Gehen, was
Grundlage für neuartige Behandlung von Knochenbrüchen durch „intelligente“
Implantate ist.

Die so in Saarbrücken gewonnenen Daten nutzen die Kaiserslauterer
Forscherinnen und Forscher vom Fraunhofer-ITWM für die
Materialmodellierung. Sie setzen die Daten mithilfe maschineller
Lernmethoden in Simulationen um.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und die Fraunhofer-Gesellschaft
fördern das trilaterale Projekt „ProP4CableSim - Property Predictor für
die Simulation von Kabelsystemen“, das Forschung, anwendungsorientierte
Wissenschaft und Industriepraxis verbindet, als Transfer von Erkenntnissen
aus DFG-geförderten Vorhaben in die Wirtschaft mit einem Gesamtvolumen von
850 000 Euro für drei Jahre. 263.000 Euro davon fließen an die Saarbrücker
Arbeitsgruppe.

Die Projektleitung liegt bei Professor Stefan Diebels, Universität des
Saarlandes, und Dr.-Ing. Joachim Linn vom Fraunhofer-Institut für Techno-
und Wirtschaftsmathematik ITWM in Kaiserslautern, wo in der von ihm
geleiteten Abteilung "Mathematik für die Digitale Fabrik" die
Forschungsgruppe von Dr. Vanessa Dörlich beteiligt ist. Anwendungspartner
ist die Fraunhofer-Ausgründung fleXstructures GmbH (Projektgruppe von Dr.
Meike Schaub), die eng mit der Automobilindustrie zusammenarbeitet und die
Materialproben liefert, die sämtliche Varianten an Kabeln und Schläuchen
abdecken.

„Die Psychotherapie verarmt in der Lehre“

Trotz neuem Psychotherapeutengesetz bleibt das Studium der Psychotherapie
an staatlichen Universitäten fast ausschließlich auf die
Verhaltenstherapie beschränkt. Die analytische Psychotherapie,
tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie sowie systemische
Psychotherapie bleiben auf der Strecke. Dazu äußert sich Diplom-Psychologe
Georg Schäfer, Psychoanalytiker in Bonn und stellvertretender Vorsitzender
der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie,
Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT).

Sie sehen gravierende Probleme im Psychotherapie-Studium. Welche sind das?

Theoretisch werden an den Hochschulen alle vier wissenschaftlich
anerkannten Verfahren unterrichtet, das sind die analytische
Psychotherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie,
Verhaltenstherapie sowie systemische Psychotherapie. Das gravierende
Problem in der praktischen Lehre ist jedoch, dass fachkundige
Hochschullehrer für analytische Psychotherapie, tiefenpsychologisch
fundierte Psychotherapie und systemische Psychotherapie weitgehend fehlen.
Alle Lehrstühle an den staatlichen Universitäten sind bis auf die
Universität Kassel verhaltenstherapeutisch besetzt. Die Dozenten
vermitteln die anderen Verfahren nur pro forma aus dem Lehrbuch. Das
heißt, diese werden gar nicht profund und lebendig gelehrt. Die Studenten
haben also gar nicht die Möglichkeit, die tiefenpsychologisch fundierte
und analytische Psychotherapie in der Behandlungspraxis im Studium
kennenzulernen und entsprechend wenig Interesse wird bei ihnen geweckt. Es
findet sozusagen eine Monokultur der Verhaltenstherapie statt.

Die Lehre an den Hochschulen verarmt. Was bedeutet das für die
Patientenversorgung?

Ja, genauso ist es! Die Psychotherapie verarmt in der Lehre. Diese in der
Patientenversorgung benötigten Therapien werden weder von entsprechend
fachkundigen Hochschullehrern gelehrt noch erforscht. Ungefähr 45 Prozent
der Patienten nimmt aber eine analytische oder tiefenpsychologisch
fundierte Psychotherapie wahr. Das heißt, die psychotherapeutische
Versorgung fast der Hälfte der Patienten wird aktuell über diese Verfahren
sichergestellt. Dazu kommt: Im Gegensatz zur Verhaltenstherapie
ermöglichen gerade die analytische oder tiefenpsychologisch fundierte
Psychotherapie den Patienten einen verstehenden Zugang zu ihren
Schwierigkeiten und befähigen sie damit in den meisten Fällen,
längerfristig und selbstständig mit ihrer Erkrankung umzugehen. Es tut
sich schon jetzt ein Dilemma auf, denn viele Betroffene, die gerade eine
derartige tiefgreifende Therapie benötigen und suchen, erhalten keinen
Behandlungsplatz, weil aufgrund des einseitig ausgerichteten Studiums
Psychotherapeuten mit entsprechenden Kenntnissen zunehmend fehlen.

Mit dem Psychotherapeutengesetz wurde 2020 eine neue Approbationsordnung
eingeführt. Wird diese den verschiedenen Therapieverfahren gerecht?

Im neuen Psychotherapeutengesetz ist vieles gut angelegt, was die
Notwendigkeit betrifft, an den Universitäten alle wissenschaftlich
anerkannten psychotherapeutischen Verfahren und Methoden zu vermitteln. In
der Gesetzesbegründung wird eindeutig gesagt, dass es nicht ausreicht, nur
einen „Überblick“ über die unterschiedlichen Verfahren zu geben, sondern
dass umsetzungsorientierte Kompetenzen vermittelt werden müssen, um
Patienten umfassend psychotherapeutisch zu versorgen. Der klare Wortlaut
ist sehr erfreulich. Allerdings gibt es im Gesetz und mehr noch in der
Approbationsordnung entscheidende Webfehler: Es ist nicht festgelegt, dass
die Hochschulen entsprechende Fachkräfte einstellen müssen. Deswegen
fordert die Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie,
Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT), dass die wissenschaftlich
anerkannten psychotherapeutischen Verfahren von Hochschullehrern mit
entsprechender Fachkunde zu unterrichten sind.

Werden in der psychotherapeutischen Prüfung alle anerkannten
Psychotherapie-Verfahren geprüft?

Grundsätzlich ja, und das ist ein weiterer Knackpunkt in der
Approbationsordnung. Umstritten ist der Paragraph 27 zum Inhalt der
psychotherapeutischen Prüfung, da ist jetzt ein regelrechter Kampf
entbrannt. Er besagt, dass sich die Prüfung „auf die im Studium
vermittelten Inhalte“ erstrecken soll, die zur „eigenverantwortlichen und
selbstständigen Berufsausübung“ notwendig sind. Gesetzlich vorgeschrieben
ist, dass alle wissenschaftlich anerkannten Verfahren in grundlegenden
Aspekten und praxisorientiert vermittelt werden sollen. Wenn diese nun
auch geprüft werden sollen, müssen sie im Umkehrschluss natürlich auch
fachkundig gelehrt werden. Das möchte die Deutsche Gesellschaft für
Psychologie (DGPs), die stark verhaltenstherapeutisch orientiert ist,
ändern. Aber der Deutsche Psychotherapeutentag (DPT) – das ist die
Bundesdelegiertenversammlung der Bundespsychotherapeutenkammer – hat sich
in einer Resolution an das Bundesgesundheitsministerium vor Kurzem
deutlich dafür ausgesprochen, den Verfahrens- und Praxisbezug im Studium
und in der Approbationsprüfung zu erhalten und sicherzustellen. Das ist
eine starke Stimme, bundesweit.

Warum kommt der tiefenpsychologisch fundierten und analytischen
Psychotherapie im Vergleich zur Verhaltenstherapie eine große Bedeutung
zu?

Diese psychotherapeutischen Verfahren, die in der Regel deutlich länger
dauern als eine Verhaltenstherapie, wirken tiefgreifend und langfristig.
Das hat eine Vielzahl von Studien gezeigt. So hat zum Beispiel die
sogenannte Münchener Psychotherapiestudie belegt, dass Patienten mit einer
depressiven Störung von Langzeitbehandlungen am meisten profitieren. Eine
Psychoanalyse, die Jahre dauern kann, wirkt bei Betroffenen mit Stimmungs-
und Angststörungen zwar später, dafür aber auf lange Sicht. Das hat eine
finnische Untersuchung ergeben.
Angststörungen sind die häufigsten psychischen Erkrankungen. Sie sind –
wie ein Großteil der psychischen Erkrankungen – von
Persönlichkeitsanteilen begleitet, die die psychische Störung
unterstützen. Das ist mit einem tiefenpsychologisch fundierten oder
analytischen Verfahren besser zu behandeln. Denn es geht bei diesen
Methoden darum, innere Beziehungen und/oder Ressourcen aufzubauen, die
Zuversicht vermitteln und ermöglichen, von außen kommende Schwierigkeiten
zu relativieren. Das geschieht weitgehend unbewusst. Die Patienten lernen,
sich zu verstehen und sich schließlich ohne Therapeuten selbstständig zu
helfen. Diese Verfahren führen zu inneren Veränderungen, die nur in einer
Langzeittherapie möglich sind.

Das Interview führte Ute Wegner, Medizinjournalistin in Berlin

Hintergrund:
Reform der Psychotherapie-Ausbildung in Deutschland
Mit dem Inkrafttreten des neuen Psychotherapeutengesetzes zu Beginn des
Wintersemesters 2020/21 ist die Ausbildung zum (Psychologischen)
Psychotherapeuten bundesweit neu geregelt worden. Auf das fünf Jahre
dauernde Psychotherapie-Studium folgt eine staatliche psychotherapeutische
Prüfung sowie die Approbation, also die Zulassung zum Beruf. Um sich
fachlich zu spezialisieren und die Therapiestunden über die gesetzliche
Krankenkasse abrechnen zu können, schließt sich eine fünfjährige
Weiterbildung in von den jeweiligen Landespsychotherapeutenkammern
anerkannten Weiterbildungsstätten an. Hier arbeiten die Psychotherapeuten
in Weiterbildung („PiW“) stationär oder ambulant und spezialisieren sich
auf ein wissenschaftlich anerkanntes Psychotherapie-Verfahren. Fachärzte
können ebenfalls die Weiterbildung in Psychotherapie nach den Vorgaben der
jeweiligen Ärztekammern absolvieren und dann als „Ärztliche
Psychotherapeuten“ arbeiten. Sie absolvieren eine Zusatzweiterbildung oder
qualifizieren sich innerhalb ihres Fachgebietes: Für die Fachgebiete
„(Kinder- und Jugend-) Psychiatrie und Psychotherapie“ sowie
„Psychosomatische Medizin und Psychotherapie“ ist diese Weiterbildung
vorgeschrieben.

Über die DGPT:
Die Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik
und Tiefenpsychologie (DGPT) e.V. vertritt die Standes- und
Berufsinteressen ihrer ca. 3.500 psychologischen und ärztlichen Mitglieder
gegenüber der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen und gegenüber der
Politik auf Bundesebene. Die DGPT versteht sich als wissenschaftliche
Fachgesellschaft und Berufsverband zugleich. Sie stellt Grundanforderungen
für die Weiterbildung an 60 staatlich anerkannten Aus- und
Weiterbildungsinstituten auf. Die DGPT ist der Spitzenverband der
psychoanalytischen Fachgesellschaften Deutsche Gesellschaft für
Analytische Psychologie (DGAP), Deutsche Gesellschaft für
Individualpsychologie e.V. (DGIP), Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft
(DPG), Deutsche Psychoanalytische Vereinigung (DPV) sowie des Netzwerks
Freier Institute (NFIP).

  • Aufrufe: 4