Internationale Gäste erschließen planetare Räume
Planetary Scholars & Artists in Residence Program: Innovatives
Stipendienprogramm der Universität Gießen für Tandems aus Wissenschaft und
Kunst steht 2023 unter dem Motto „Planetary Spaces“ – Reflexive Forschung
zur Nachhaltigkeit
Denkräume schaffen, um Zusammenhänge hinterfragen und Folgen abschätzen zu
können – eine planetari¬sche Gesamtperspektive ist nötig, um Antworten auf
die Fragen unserer Zeit zu finden. Vor dem Hintergrund von Klimawandel,
Artensterben und Umweltzerstörung im planetaren Maßstab rückt das „Panel
on Planetary Thinking” an der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU)
Wechselwirkungen zwischen dem Planeten und den Menschen in den
Mittel¬punkt des Erkenntnis- und Handlungsinteresses. Ein innovatives
Stipendienprogramm (Planetary Scholars & Artists in Residence Program)
bringt dazu internationale Tandems aus Wissenschaft und Kunst zusammen, um
von Gießen aus kreativ zu arbeiten und zu forschen. Erstmals wird 2023
zudem eine Wissenschaftsautorin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in die
Arbeit des Panels eingebunden sein. Die Gäste sind eingeladen, aus
unterschiedlicher Perspektive „planetare Räume“ zu erschließen – gemäß dem
Motto „Planetary Spaces“.
Der Blick richtet sich im „Panel on Planetary Thinking” aufs „große
Ganze“; Nachhaltigkeits-themen stehen im Fokus des Stipendienprogramms.
Während die Fellows der ersten Ausschreibungsrunde 2022 „Planetare
Materialien“ ins Visier nahmen, wird es im kommenden Jahr um „planetare
Räume“ gehen. Ab Januar 2023 widmet sich die Astrophysikerin und
Philosophin Dr. Sibylle Anderl aus Frankfurt am Main einem Buchprojekt zur
Entdeckungsgeschichte der Sonne. Zu Gast an der JLU werden ab April 2023
die nigerianische Klimaaktivistin und Ökofeministin Adenike Titilope
Oladosu und der US-amerikanische Künstler und Wissenschaftler Dr. Jason
Waite sein. Von den Stipendiatinnen und Stipendiaten erhoffen sich die
Initiatoren Impulse für die wissenschaftlichen Debatten über Fächergrenzen
hinweg. Eingeladen werden für jeweils drei Monate internationale
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Künstlerinnen und Künstler,
die mit ihrem akademischen oder künstlerischen Wirken in der Lage sind,
Vertreterinnen und Vertreter der Geistes-, Sozial-, Natur- und
Kulturwissenschaften miteinander ins Gespräch zu bringen.
Die Gäste sollen an der JLU Workshops oder Masterclasses anbieten, die als
potenzielle Keimzelle für Ideen zu künftiger Forschung, Lehre und zum
Transfer dienen. Dazu arbeiten sie als Tandems zusammen; die Stipendien
bieten den Raum und die Rahmenbedingungen. Im Jahr 2023 werden zwei
Stipendien und ein Schreibstipendium für das Sommersemester sowie zwei
weitere Stipendien für das Wintersemester vergeben, die mit jeweils 5.000
Euro pro Monat (inklusive Reise- und Unterhaltskosten) dotiert sind und
eine Laufzeit von drei Monaten haben, die entweder im Zeitraum April bis
Juni oder September bis November durchgeführt werden können.
„Mit unseren Gästen loten wir gemeinsam aus, welche Impulse die sich
gegenwärtig formierenden Denkströmungen – von den Environmental Humanities
bis zur Anthropozänforschung – für die Nachhaltigkeitsforschung an der JLU
geben können und welchen Beitrag die JLU zu diesen Debatten liefern kann“,
erklärt Prof. Dr. Claus Leggewie, Inhaber der Ludwig Börne-Professur an
der JLU und Initiator des Panel on Planetary Thinking. Dass sich die
Erstauflage des Stipendienprogramms gelohnt habe, zeige die erfreuliche
Resonanz. „Wir freuen uns sehr, dass uns in der zweiten
Ausschreibungsrunde erneut Bewerbungen aus aller Welt erreicht haben“,
freut sich der Politikwissenschaftler. „Auf diese Weise können wir unser
Netzwerk an Planetary Scholars & Artists weiter ausbauen und das
Fellowship Programm weltweit noch bekannter machen“, ergänzt Liza Bauer,
die zurzeit die wissenschaftliche Geschäftsführung des „Panel on Planetary
Thinking“ in Vertretung für Dr. Frederic Hanusch innehat.
Das Profil der JLU im Bereich Nachhaltigkeit wird durch das Planetary
Scholars & Artists in Residence Program zusätzlich gestärkt. Das
Stipendienprogramm wird aus dem Profilbudget des Hessischen Ministeriums
für Wissenschaft und Kunst (HMWK) finanziert.
Projekte (1. Halbjahr 2023)
I. Schreibprojekt: Die Sonne. Eine Entdeckung
Wir alle bestehen aus Sternenstaub. Diese gern zitierte Einsicht der
Astrophysik – fast alle Elemente jenseits des Heliums wurden schließlich
im Inneren von Sternen per Kernfusion erbrütet oder sind entstanden, als
Sterne ihr Leben beendeten – stellt eine Verbindung her zwischen unserer
eigenen Existenz und unserem eigenen Heimatstern, der Sonne, zu der wir
nicht nur hinsichtlich unserer materiellen Konstitution, sondern in
praktisch allen Aspekten unseres Lebens in Abhängigkeit stehen. Das
Projekt nimmt die Entdeckungsgeschichte der Sonne aus drei Blickwinkeln
heraus ins Auge: Es beschreibt, wie die Sonne entdeckt wurde und was die
Menschheit heute über sie weiß, es untersucht die Formen des
„Sonnenaufgangs“ in kulturellen Vorstellungen und Praktiken, und es fragt
(3) in wie fern „Sonnenkraft“ zukunftsfähige Lebensformen erschließen
könnte.
Die Astrophysikerin und Philosophin Dr. Sibylle Anderl leitet das
Wissenschaftsressort der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und
Sonntagszeitung, ist Mitherausgeberin des „Kursbuch“ und tritt als TV-
Moderatorin auf, darunter für das monatliche Magazin „Space Night
Science“. Dr. Anderl wurde nach dem Magisterabschluss in Philosophie 2013
im Fach Astronomie/ Astrophysik promoviert. Bis 2020 war sie
Gastwissenschaftlerin am Institut des Planétologie et d’Astrophysique in
Grenoble. Ihre Forschungsinteressen gelten u.a. den Frühphasen der
Sternentstehung, der Astrochemie und der Wissenschaftsphilosophie. Den
Bestsellern über „Dunkle Materie“ (2022) und „Das Universum und ich“
(2018) soll jetzt ein Buch über die Sonne folgen.
II. Erdbeobachtungssysteme und Wiederherstellung schwindender
planetarer Räume: eine Fallstudie über den Lake Chad (Tschadsee)
Das Fellowship-Projekt nutzt Fernerkundungstechnologien wie
Erdbeobachtungssatelliten, um die Probleme des Lake Chad aus der Ferne zu
betrachten und an die Öffentlichkeit zu kommunizieren. Adenike Oladosu
entwickelt Lösungsstrategien für die vielschichtigen Konflikte in der
Region und die auf den Klimawandel zurückzuführende Krise. Da der
Lebensunterhalt der Bevölkerung unmittelbar an die Verfügbarkeit von
Wasser aus dem Lake Chad gekoppelt ist, stellt der drastische Rückgang des
Wasserspiegels ein großes Problem in der Region dar. Das Projekt verbindet
daher die Erforschung dieses bedrohten Ökosystems mit soziopolitischem
Aktivismus. Es sind Workshops, Diskussionen und eine Ausstellung geplant,
die über die planetare Dimension der Problematik aufklären sollen.
Adenike Titilope Oladosu ist Ökofeministin, Ökoreporterin aus Nigeria und
engagiert sich als Vorreiterin für Klimagerechtigkeit. Als Gründerin der I
Lead-Climate-Action-Initiative setzt sie sich für eine ökologisch
orientierte Demokratie in Afrika und für die Regeneration des Tschadsees
ein. Mit ihren Forschungsarbeiten sowie ihrem politischen Engagement will
sie einen Beitrag leisten für Frieden, Sicherheit und Gleichberechtigung.
Sie bringt ihr Engage-
ment für den Klimaschutz regelmäßig auf internationalen und lokalen Foren
zum Ausdruck.
III. Gedeihen nicht-menschlicher Lebewesen in toxischen planetaren
Räumen
Im Jahr 2021 war die Sperrzone von Fukushima größer als die Stadt
Frankfurt, das Gebiet ist seit 2011 für die Öffentlichkeit gesperrt;
Zehntausende Menschen wurden vertrieben. Innerhalb der Sperrzone von
Fukushima transformiert sich ein planetarer Ort: War er vor der
Nuklearkatastrophe ein landwirtschaftlicher „animal space“, so entstand
dort im Laufe der vergangenen zehn Jahre ein „beastly place“. Innerhalb
der radioaktiven Sperrzone haben sich Hausschweine, die von evakuierten
Landwirten freigelassen wurden, mit Wildschweinen gepaart; eine neue
Kreuzung ist entstanden. Das Fellowship-Projekt erforscht das verborgene
Leben dieser Wildschweine durch eine interdisziplinäre Analyse von
Videoaufnahmen, die mit installierten Kameras aufgezeichnet wurden. Diese
Bilder bieten einen Einblick in den „beastly place“ und dokumentieren die
Anpassungsfähigkeiten nicht-menschlicher Lebewesen an ihre radioaktive
Umgebung. Zum einen erinnert dieser toxische Ort an vergangene, stärker
radioaktive Phase des Planeten. Zum anderen halten die nicht-menschlichen
Lebewesen wichtige Lektionen für unser zukünftiges Überleben bereit.
Jason Waite ist ein derzeit in Großbritannien ansässiger Kurator, Autor
und Kultur
schaffender. Er arbeitet besonders an Krisenherden und versucht mit seiner
Kunst Werkzeuge zu kreieren, die radikalen Vorstellungen über alternative
Formen des Zusammenlebens und -arbeitens einen Weg bereiten. Er ist Teil
des Kollektivs Don't Follow the Wind, das ein Projekt in der unbewohnten
Sperrzone von Fukushima durchführt. Waite war Mitkurator v Ausstellungen
in Paris, New York und Utrecht. Er wurde in zeitgenössischer
Kunstgeschichte und -theorie an der Universität Oxford promoviert, erwarb
einen MA in Kunst und Politik an der Goldsmiths Universität in London und
war Helen Rubinstein Curatorial Fellow am Whitney Museum ISP. Außerdem ist
er Chefredakteur der Art Review Oxford und Mitherausgeber des Buches Don't
Follow the Wind (Sternberg Press, 2021).