Die Welt im Krisenmodus: Warum es jetzt eine Postwachstumsstrategie braucht

Pressemitteilung des Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW)
und der Vereinigung für ökologische Wirtschaftsforschung (VÖW)
► Am 23. November 2022 diskutieren IÖW und VÖW auf der Tagung
„Ausgewachsen“ über Leben und Wirtschaften in planetaren Grenzen – vor Ort
in Berlin und online im Livestream
► Volkswirt Ulrich Petschow (IÖW): „Die Wachstumsfrage ist in Bewegung.
Immer mehr Institutionen erkennen, dass Klima- und Artenschutz einen
sozial-ökologischen Systemwechsel und Postwachstumsstrategien erfordern.“
► Forschende empfehlen ein praxisnahes Forschungs- und Handlungsprogramm
mit Fokus auf Postwachstum, Suffizienz, soziale Innovationen und
Verteilungsfragen
Berlin, 22. November 2022 – Die Weltklimakonferenz in Ägypten hat zum
Erreichen des 1,5-Grad-Ziels keinen Durchbruch gebracht. Um beim Schutz
von Klima und Biodiversität global gerecht voranzukommen, lenken das
Berliner Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) und die
Vereinigung für ökologische Wirtschaftsforschung (VÖW) den Blick diese
Woche auf das Thema Wachstum: Am Mittwoch geht es bei der Tagung
„Ausgewachsen – Wirtschaften als gäbe es ein Morgen“ darum, wie die
Menschheit zukunftsfähig innerhalb der planetaren Grenzen leben und
wirtschaften kann und warum es dafür eine Postwachstumsstrategie braucht.
Volkswirt Ulrich Petschow vom IÖW betont in seiner Grundsatzrede: „Mehrere
miteinander verwobene Krisen erschüttern Wirtschaft und Gesellschaft. Die
Klimaerwärmung verschärft sich und löst immer mehr Folgekrisen aus. Wir
brauchen jetzt eine Postwachstumsstrategie. Angesichts beispielloser
klimatischer Extreme in diesem Jahr erkennen immer mehr Institutionen,
dass Klima- und Artenschutz einen sozial-ökologischen Systemwechsel
erfordern.“
Die Zusammenkunft findet vor Ort in Berlin und zusätzlich online statt,
Interessierte können sich noch für den Livestream registrieren. Rund 500
Teilnehmende werden erwartet.
Die Welt gefangen in der Polykrise: Resilienz muss gestärkt werden
Transformationsforscher Petschow weist darauf hin, wie ausgeprägt die
Krisen der Gegenwart miteinander verwoben sind. „Wir sind längst im
Zustand einer Polykrise angekommen. Corona und seine Auswirkungen auf die
Weltwirtschaft, geopolitische Spannungen, Inflation und Finanzmarktkrisen,
Klimaerwärmung und Biodiversitätsverluste – die gleichzeitigen Krisen
schaukeln sich gegenseitig hoch“, so Petschow. „Postwachstumsansätze
können die Gesellschaft resilienter machen, wenn Staat, Markt und
Gesellschaft neu austariert werden. Dazu zählen etwa eine erneuerbare,
regionale und wachstumsunabhängige Energieversorgung, eine Stärkung des
öffentlichen und gemeinwirtschaftlichen Sektors sowie eine deutliche
Aufwertung der Care-Ökonomie.“
50 Jahre nach dem Weckruf des Club of Rome „Grenzen des Wachstums“
„Ein halbes Jahrhundert nachdem der Club of Rome in seinem ersten Bericht
die ökologischen ‚Grenzen des Wachstums‘ aufgezeigt hat, sind mehrere
planetare Grenzen weit überschritten. Und die aktuellen Krisen zeigen: Das
fossile System bröckelt. Es hat sich ausgewachsen“, so Thomas Korbun,
Wissenschaftlicher Geschäftsführer des IÖW. „Veränderungen müssen jetzt
bei denjenigen Strukturen ansetzen, die noch immer auf Wachstum fixiert
sind. Vorsorge und Wachstumsunabhängigkeit müssen ins Zentrum der
gesellschaftlichen Debatte rücken.“
Alexandra Palzkill, Vorstandsvorsitzende der VÖW fügt hinzu: „Alternative
Ansätze kooperativen und gemeinwohlorientierten Wirtschaftens zeigen
bereits heute, dass Gegenentwürfe zu den wachstumsabhängigen und damit
hochfragilen Organisationsmodellen in unserem Wirtschaftssystem
existieren. Auf diesen Erfahrungsschatz aufzubauen und den Dialog zwischen
den verschiedenen Communities zu fördern, ist Ziel unserer Tagung.“
Auf der Suche nach Postwachstumsstrategien und neuen Indikatoren für
Wohlstand
Die Forschenden weisen darauf hin, dass es in der Debatte ums Wachstum
lange Zeit eine unversöhnliche Kontroverse zwischen verschiedenen
Strömungen gegeben hat, die entweder grünes Wachstum, Postwachstum oder
Degrowth befürworten.
„Es wächst die Erkenntnis, dass wir die Zeit der Theoriedebatten
überwinden und gemeinsam in die Anwendung finden müssen. In jüngster Zeit
diskutieren auch relevante Mainstream-Institutionen darüber, wie Wohlstand
neu gefasst und gemessen werden kann“, so Ulrich Petschow. „Der
Weltklimarat IPCC etwa thematisiert in seinem jüngsten Bericht
Postwachstum und Degrowth erstmals als Ansatzpunkte, um Klimaziele doch
noch zu erreichen. Auf europäischer Ebene reden die Europäische
Umweltagentur oder der Europäische Forschungsrat über Grenzen der
Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch. Die OECD und das
Bundeswirtschafts- und Klimaschutzministerium sind auf der Suche nach
neuen Indikatoren für Wohlstand, um ihre Politik zukunftsgerichtet steuern
zu können.“
Kritischen Wachstumsdiskurs, Suffizienz und soziale Innovationen
zusammenbringen
Mit der Tagung wollen das IÖW und die VÖW von theoretischen Debatten zu
konkreten Handlungsoptionen kommen. Die Wirtschaftsforscher*innen schlagen
ein praxisnahes Forschungs- und Handlungsprogramm vor, mithilfe dessen für
zentrale Handlungsfelder weitreichende Systemwechsel anstoßen werden
können. In drei Themensträngen diskutieren Teilnehmende und
Referent*innen, wie eine neue Wirtschaftsordnung aussehen kann, wie die
Themen Effizienz und Suffizienz strategisch verbunden werden können und
auf welche Weise zukunftsfähige Wohlstandsmodelle Verteilungs- und
Gerechtigkeitsfragen beantworten können.
„Es ist an der Zeit, dass das Thema Postwachstum mit politischen Ansätzen
für Suffizienz und für soziale Innovationen zusammengebracht wird. Nur so
können kohärente Strategien für eine Transformation entwickelt werden, die
von der Gesellschaft getragen werden“, sagt Just-Transition-Forscherin
Helen Sharp vom IÖW. „Dafür ist es zentral, Verteilungsfragen zu
thematisieren und sozial gerechte Ansätze zu entwickeln. Hier können neue
gesellschaftliche Allianzen wertvolle Beiträge leisten, beispielsweise
Bündnisse aus Sozial-, Umwelt- und Entwicklungsverbänden, die
umsetzungsfähige und sozial ausgewogene Handlungsvorschläge aushandeln.“