Erstmals sind sieben nordische Künstlerkolonien in einer Schau vereint: Unter dem Titel
„Lieblingsorte – Künstlerkolonien. Von Worpswede bis Hiddensee“ zeigt das Gustav-Lübcke-
Museum in Hamm einen umfassenden Überblick über das kunstgeschichtliche Phänomen der
Koloniegründungen im ausgehenden 19. Jahrhundert. Worpswede als bekannteste
Malerkolonie in Norddeutschland macht den Anfang. Es folgen wie auf einer Reiseroute
Schwaan und Hiddensee, Heikendorf und Nidden, Ahrenshoop und Ferch. Insgesamt rund 40
Maler führen auf etwa 80 Bildern vor, wie vielfältig sich die Landschaft als neues Sujet der
Malerei entwickelt hat. In Worpswede werden zunächst die fünf Gründerväter Fritz Mackensen,
Heinrich Vogeler, Fritz Overbeck, Otto Modersohn und Hans am Ende eingehend vorgestellt.
Die Besucher können eintauchen in den weiten Himmel über dem Weyerberg, sie sehen die
schnurgeraden Birkenalleen, das oftmals unheimliche Teufelsmoor, blühende Gärten,
gedrungene Bauernhäuser, Torfkanäle und Landarbeiter, die idyllische kleine Kirche oder
einfach eine Gruppe weidender Schafe. „An diesen Bildern kann man schnell sehen, warum
Worpswede zum Lieblingsort der Künstler wurde“, sagt Kuratorin und Museumsdirektorin Dr.
Friederike Daugelat. „Um 1900 hat sich das Phänomen der Künstlerkolonien europaweit
ausgebreitet. Die Maler suchten als Reaktion auf die um sich greifende Industrialisierung in den
Städten den scheinbar noch ungebrochenen Zusammenhang zwischen Mensch und Natur.“
Malerische Orte wie Worpswede begeisterten die Künstler in ganz Europa. Ausgehend vom
französischen Barbizon gründeten sich etwa 30 Künstlerkolonien allein in Deutschland. „Durch
die Erfindung der Farbtube konnten Maler plötzlich ihre Ateliers verlassen und direkt draußen vor der Natur ihre Bilder in leuchtenden Farben entstehen lassen – das war eine Revolution in der Malerei“, fasst Daugelat zusammen. Heute unterscheidet man drei Arten von Künstlerkolonien: Den Gasthaustyp wie in Barbizon oder Nidden, den Landhaustyp wie auf Hiddensee und den Kolonistentyp. Worpswede gehört zu letzterem. Während in anderen Fällen eine Wohn- und Begegnungsstätte als Zentrum eines freien, künstlerischen Lebens existierte oder ins Leben gerufen wurde, war es hier tatsächlich der Ort selbst, der seine Künstler anlockte.
Die Landschaft jenseits der Großstadt wurde gleichzeitig zum alternativen Lebensraum und zum Schauplatz einer antiakademischen Strömung, die der klassischen Moderne des 20. Jahrhunderts den Boden bereitete. Impressionismus, Jugendstil und Expressionismus sind in den Künstlerkolonien entstanden und befördert worden. All dies wird auch in der Ausstellung deutlich. „Gerade Norddeutschland mit seinen Mooren und Seenplatten, mit den Wäldern, Stränden und Dörfern, in denen die Zeit stillzustehen schien, bot länger als anderswo ideale Bedingungen für die Suche nach dem einfachen Leben in unberührter Natur“, fasst Daugelat den Fokus der Schau zusammen. „Dies waren ausgesprochen günstige Voraussetzungen für die Entstehung einer neuen Kunst, die sich als Gegenbewegung zur Verstädterung auf ursprüngliche Lebensformen besinnen wollte.“ Die Freilichtmalerei war gleichzeitig eine Absage an die traditionelle Kunstauffassung des Kaiserreichs. An den Hochschulen wurde Landschaft lange nicht als eigenständiges Sujet unterrichtet, sondern diente, streng komponiert, lediglich als Hintergrund für Historienbilder. In den offiziellen Salons suchte man die Bilder aus den Kolonien deshalb oft vergeblich. Sie fanden vielmehr im Umfeld der Secessionsbewegungen ihren Platz, was den fortschrittlichen Charakter dieser Kunstrichtung unterstreicht. Die heute berühmteste deutsche Künstlerkolonie, Worpswede, brachte mit Paula Modersohn-Becker sogar eine der bedeutendsten Malerinnen der europäischen Moderne hervor. „Gerade für Frauen waren die Künstlerkolonien eine wichtige Ausbildungsstätte: Da sie bis zum Ende des Ersten Weltkriegs an den staatlichen Kunsthochschulen nicht zugelassen wurden, konnten sie nur auf eine der drei Damenakademien in Deutschland ausweichen“, erklärt die Museumsdirektorin. „Dort waren die Standards jedoch niedriger. In den Künstlerkolonien mit ihren freieren Lebensformen auf dem Lande konnten die Frauen, die oft als ,Malweiber‘ verspottet wurden, hingegen qualifizierten Unterricht bei hoch angesehenen Malern nehmen – eine seltene Chance.“
Während für Worpswede vor allem die Düsseldorfer Malschule entscheidend war, die schon früh Landschaftsklassen im Lehrplan hatte, hielt die Freilichtmalerei in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern vornehmlich von Weimar und Berlin aus Einzug. Hier entstanden die Künstlerkolonien Ferch südlich von Potsdam, Schwaan bei Rostock, Ahrenshoop und Hiddensee. Besonders die Weimarer Malerschule hatte sehr großen Einfluss auf das Schaffen in diesen neuzeitlichen Refugien. In Schwaan führte dies dazu, dass einheimische Künstler plötzlich die Schönheit ihrer eigenen Umgebung entdeckten. Darüber hinaus trugen die progressiven Künstler in den Kolonien auch wesentlich zu einer touristischen Entwicklung der Gegenden bei. Überall in Norddeutschland entstanden so Lieblingsorte für Maler und Besucher: Auf dem Darß etwa durch die Ahrenshooper Malschule St. Lucas von Paul Müller-Kaempff, oder auf Hiddensee, wo sich vor allem der „Hiddensoer Künstlerinnenbund“ hervortrat. Bis heute stehen viele dieser Orte in der Tradition der Künstlerkolonien. Auch der Schwielowsee, Mittelpunkt der Havelländischen Malerkolonie um Karl Hagemeister, ist nach wie vor ein beliebtes Ausflugsziel der Großstädter.
Rund 700 Kilometer weiter östlich entstand vor rund hundert Jahren ein weiterer Lieblingsort im Norden: Nidden, damals Ostpreußen, jetzt Nida in Litauen, zog Literaten wie Thomas Mann und Künstler wie Lovis Corinth oder Max Pechstein an. Unter dem Einfluss der Königsberger Kunsthochschule formte sich auch hier eine Künstlerkolonie, die sich bald in Anhänger des Impressionismus und des Expressionismus spaltete. Führender Kopf wurde Ernst Mollenhauer, der die Sammlung seines Schwiegervaters, des Gastwirts Hermann Blode, übernahm. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Nidden für deutsche Künstler durch die neuen politischen Grenzen jedoch nicht mehr zugänglich. In den Kriegswirren wurden viele Werke zerstört, neue konnten nur noch in der Erinnerung an den einstigen „Lieblingsort“ entstehen. Doch auch in Nida blüht heute wieder künstlerisches Leben auf. „Ein Geheimtipp ist noch Heikendorf, wo sich eine Gruppe von Künstlern um den Maler Heinrich Blunck niederließ und die Schönheit der Rapsfelder oder das bunte Treiben an der Kieler Förde auf die Leinwand bannte“, erklärt Friederike Daugelat. „Die Gemälde gerade dieser Malergruppe überraschen mit einer ungeahnten Vielfalt an Stilen – eine lohnende Entdeckung.“
Für viele Maler bedeutete ihr Aufenthalt in den kleinen Orten eine Alternative zum traditionellen Künstlerdasein in den Metropolen. Auf dem Land war das Leben günstiger, das Licht frischer als in den dunklen Ateliers der Hochschulen. Ein kleiner Karren genügte ihnen, wenn sie malend über Land zogen. Dort konnten sie Proviant, Staffelei und Farbtuben verstauen und
waren auch vor Wind, Regen oder Schnee geschützt. „Es waren die realen topografischen Gegebenheiten der einzelnen Orte, die den Künstlern Inspiration boten“, sagt Friederike Daugelat. „Daher gibt es aus den Kolonien häufig bestimmte prägende, immer wiederkehrende Ansichten. Gleichzeitig gibt es aber auch verblüffend ähnliche Motive, die die Malerkolonien miteinander verbinden und die Künstler offenbar anzogen: weite Landstriche, Bäume, Wälder, das Meer und der Strand, Boote oder Bauernhäuser. Und durch die enge Verbundenheit mit der Natur brachen sich in den Kolonien übrigens auch frühe Umweltschutzgedanken Bahn.“
Der Erste Weltkrieg markierte in vielfacher Weise einen Einschnitt für die Künstlerkolonien. Einige Maler waren gefallen, andere hatten sich neue Betätigungsfelder gesucht. Manche Kolonien konnten sich als Ferienorte etablieren und erlebten so eine zweite Blüte. Die Hochzeit der Künstlerkolonien ging jedoch mit dem Schrecken des Krieges zu Ende. Danach strebten die Maler nach anderen Ausdrucksformen und suchten neue Motive abseits der Naturidyllen. „Dennoch haben die Bilder aus den Künstlerkolonien bis heute nichts von ihrer Faszination verloren“, sagt Friederike Daugelat. „Die Kolonien sind immer noch Lieblingsorte für Künstler wie Besucher und so möchten auch wir unser Publikum zu einer Entdeckungstour von Worpswede bis Hiddensee einladen. Mit unserem kostenlosen Audioguide kann jeder auf eine individuelle Reise zu malerischen Orten im Norden starten.“ Apropos Audioguide: Pünktlich zur Eröffnung der Künstlerkolonie-Ausstellung bietet das Gustav-Lübcke-Museum seinen Besuchern ein weiteres neues Angebot. Nachdem bisher im Bereich der Dauerausstellung eine Highlight-Führung das ganze Museum in 60 Minuten vorgestellt hat, gibt es nun eigene einstündige Rundgänge für die einzelnen Abteilungen. Die Kuratorinnen persönlich begleiten das Publikum auf eine akustische Reise durch das Alte Ägypten, die Angewandte Kunst, die Archäologie, die Stadtgeschichte und die Kunst des 20. Jahrhunderts. Und das Beste: Auch dieses Audioguide-Angebot ist kostenlos!
Die Ausstellung „Lieblingsorte – Künstlerkolonien. Von Worpswede bis Hiddensee“ wird von einem Veranstaltungsprogramm mit Führungen, Vorträgen und Ferienkursen begleitet. Förderer der Schau sind das Land Nordrhein-Westfalen und die Kunststiftung NRW. Die Ausstellung ist vom 18. Dezember 2016 bis zum 21. Mai 2017 täglich geöffnet außer montags von 10 bis 17 Uhr, sonntags von 10 bis 18 Uhr. Es gelten besonders Feiertagsregelungen. Diese und weitere aktuelle Informationen finden sich unter www.museum-hamm.de. Der Eintritt in die Ausstellung inkl. Audioguideführung kostet 9 Euro (inkl. Dauerausstellung), 7 Euro ermäßigt, Kinder bis 15 Jahre zahlen 5 Euro.