Auf der Spur der Romanhelden
Warum LeserInnen den Figuren ihrer Lieblingsbücher folgen und in
Wanderstiefeln auf Krimi-Touren gehen, hat Raphaela Knipp im Rahmen ihrer
Doktorarbeit an der Uni Siegen herausgefunden.
Sie tragen Trekkingschuhe und Outdoor-Jacken und stehen an einem grauen
Tag auf einem Acker in der Eifel. Drei Teilnehmer halten Texte in der
Hand, die sie der Wandergruppe vortragen. Es handelt sich um Passagen aus
den Eifel-Krimis von Jaques Berndorf. Der Acker ist einer der Schauplätze,
an denen der Protagonist der Krimis, Reporter Siggi Baumeister, ermittelt.
Wenn LeserInnen den Figuren aus ihren Lieblingsbüchern folgen, spricht man
von Literaturtourismus. Mit diesem Phänomen hat sich Dr. Raphaela Knipp im
Rahmen ihrer Doktorarbeit am DFG-Graduiertenkolleg „Locating Media“ an der
Universität Siegen beschäftigt.
„Touren wie die Krimi-Wanderungen in der Eifel sind extrem beliebt.
Insgesamt ist Literaturtourismus ein Trend, der in den nächsten Jahren
noch zunehmen wird“, sagt Knipp. Unter dem Titel „Begehbare Literatur.
Eine literatur- und kulturwissenschaftliche Studie zum Literaturtourismus“
ist ihre Arbeit gerade im Universitätsverlag Winter Heidelberg („Reihe
Siegen“) veröffentlicht worden.
Doch nicht nur in der Eifel wandeln Leserinnen und Leser auf den Spuren
ihrer Roman-Helden. In den Straßen Dublins folgen sie der Fährte von
Leopold Bloom aus James Joyce` Klassiker „Ulysses“. In Lübeck ist das
Buddenbrookhaus eine beliebte Anlaufstelle für Literaturfans, das Zuhause
der fiktiven Buddenbrook-Familie aus Thomas Manns gleichnamigem Roman.
Auch diese Orte der „begehbaren Literatur“ hat Raphaela Knipp für ihre
Doktorarbeit immer wieder besucht, an Führungen teilgenommen und vor Ort
mit Leserinnen und Lesern gesprochen. „Es hat mich schon immer
interessiert, wie Leser mit Literatur umgehen, wie sie sich einen
literarischen Text aneignen“, sagt Knipp.
Was hat es also für Effekte, wenn Literaturreisende Roman-Schauplätze
besuchen? „Das hängt stark davon ab, wie die jeweiligen Orte in der
Literatur geschildert werden – und wie es dort tatsächlich aussieht“,
erklärt Knipp. Bei Joyce werden beispielsweise zahlreiche Gebäude oder
Straßen zwar konkret benannt, aber kaum näher beschrieben. Die
Literaturreisenden hätten daher keine festen Vorstellungen im Kopf und
seien offen für das, was sie vor Ort erwartet. Andere Erfahrungen hat
Knipp im Buddenbrookhaus gemacht, das im Roman sehr detailliert
beschrieben wird. „Viele sind regelrecht enttäuscht, wenn sie das Haus
betreten“, sagt die Literatur- und Medienwissenschaftlerin. „Denn hinter
der Original-Fassade verbirgt sich heute ein modernes Gebäude, der Rest
wurde im Krieg zerstört.“
Den Hauptfiguren eines Romans nahe sein, das Gelesene auch körperlich
nacherleben. Das ist ein wichtiges Motiv von Literaturreisenden, hat Knipp
durch ihre Befragungen herausgefunden. Die Trips haben also eine starke
emotionale Komponente und daher immer auch ein gewisses
Enttäuschungspotential. Es gehe den Literaturfans aber nicht nur um den
Abgleich des Gelesenen mit der Realität, betont Raphaela Knipp: „Auch das
Gemeinschaftserlebnis ist wichtig. Mich direkt am Schauplatz eines Romans
mit anderen Lesern auszutauschen ist etwas Anderes, als allein mit meinem
Buch im stillen Kämmerlein zu sitzen.“ Bei den literarischen
Stadtrundgängen oder Wanderungen finde daher regelmäßig eine Art
Vergemeinschaftung unter den TeilnehmerInnen statt.
Obwohl die Gruppen insgesamt eher heterogen sind, hat Knipp doch einige
typische Merkmale von Literaturtouristen festgemacht: Sie sind vorwiegend
weiblich, zwischen 40 und 60 Jahren alt und bringen meist einen gewissen
Bildungshintergrund mit. „Es sind aber immer wieder auch Menschen dabei,
die den zugrundeliegenden Roman gar nicht gelesen haben“, stellt die
Nachwuchswissenschaftlerin fest. „Vor allem, wenn es sich um einen
anspruchsvollen Text wie Joyce` ‚Ulysses‘ handelt.“ Diese Nichtleser
wollten trotzdem Teil der Kultur sein und sich mit Literatur
auseinandersetzen. Der Literaturtourismus biete daher große Chancen für
eine neue, andere Art der Literaturvermittlung, ist Knipp überzeugt: „Wer
einmal vor Ort war und über die Besichtigung der Schauplätze einen Zugang
gefunden hat, greift anschließend vielleicht doch noch zum Roman, um das
Erlebte nachzulesen.“
Auch aus wirtschaftlicher Perspektive ist der Literaturtourismus ein
interessantes Phänomen. „Ländliche Regionen wie die Eifel gewinnen so ganz
neue Möglichkeiten der Vermarktung“, erklärt Knipp. Vielerorts würden
sogar fiktive Roman-Welten nachgebaut und damit in die Realität geholt. So
ist im Buddenbrookhaus beispielsweise ein Bereich exakt so eingerichtet,
wie in Manns berühmtem Gesellschaftsroman beschrieben. „Klassische
Autoren- und Dichterhäuser wie das Goethehaus in Frankfurt zu besichtigen,
ist nichts Neues. Sie werden schon seit dem 19. Jahrhundert touristisch
vermarktet“, sagt Knipp. „Durch den Nachbau fiktiver Welten ergeben sich
weitere, literatur-museale Konzepte. Dieser Ansatz ist relativ neu. Und er
bietet ein enormes Potenzial.“
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