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Photosynthese auch bei Hitze: Helferprotein sichert die Bildung von Chlorophyll ab

Neue Studie zeigt Hitzeschutzfunktion des Chaperon cpSRP43

Sperrfrist: 2. September 2021 at 17:00 (Berlin time), 16:00 (London time),
at 11:00 (US Eastern Time).

Mithilfe komplexer Stoffwechselprozesse stellen Pflanzen Chlorophyll her –
den Stoff, der Pflanzen ihre grüne Farbe verleiht und Photosynthese
ermöglicht. Dass die sogenannte Chlorophyllbiosynthese auch bei Hitze
reibungslos funktioniert, verdanken die Pflanzen einem bestimmten
Helferprotein: dem Chaperon cpSRP43. Es sorgt dafür, dass wichtige
Stoffwechselenzyme auch in der Mittagshitze ihre Form behalten und für die
Chlorophyllproduktion sorgen.

Das zeigen Wissenschaftler:innen des Instituts für Biologie der Humboldt-
Universität zu Berlin (HU) und des California Institute of Technology
(Caltech). Für die Studie, die nun in der Fachzeitschrift Nature Plants
erschienen ist, setzten die Forscher Pflanzen Hitzestress aus und
analysierten Enzyme im Labor. Dabei entdeckten sie die wichtige
Hitzeschutzfunktion des Chaperons cpSRP43.

Auch der Stoffwechsel von Pflanzen ist hitzeempfindlich

Pflanzen können sich vor extremen Umweltbedingungen nicht verstecken und
müssen ihre Stoffwechselaktivitäten schnell an unterschiedliche
Temperaturen oder Lichtintensitäten anpassen. Auch die zahlreichen Enzyme
und Regulatorproteine, die an den komplexen Stoffwechselprozessen
beteiligt sind, reagieren auf die wechselnden Umweltbedingungen
empfindlich. Hitze oder hohe Lichtintensität können die Funktion und drei-
dimensionale Struktur von Proteinen erheblich beeinträchtigen und sie
funktionslos machen. Damit dies nicht passiert und die Proteine ihre
Funktion beibehalten, haben auch Pflanzen verschiedene Schutzsysteme
entwickelt, die die Proteine vor Oxidationen, Verklumpung oder
Strukturveränderungen schützen. Dazu gehören auch Chaperone, die als
unterstützende Proteine dafür sorgen, dass wichtige Proteine korrekt
gefaltet werden, also ihre richtige drei-dimensionale Form einnehmen und
beibehalten.

Chaperon cpSRP43 schützt Enzyme vor falscher Faltung

Einer der wichtigsten Stoffwechselprozesse von Pflanzen ist die
Chlorophyllbiosynthese. Auch bei großer Hitze oder starker Sonnenstrahlung
müssen Pflanzen die Chlorophyllproduktion aufrechterhalten, um die
Photosynthese so abzusichern, dass sie für die Energieumwandlung des
Sonnenlichtes adäquat ist. Wie Pflanzen dies schaffen, konnten Shuiling
Ji, Dr. Peng Wang und Prof. Bernhard Grimm aus der Arbeitsgruppe
Pflanzenphysiologie des Instituts für Biologie an der HU Berlin gemeinsam
mit Kolleg:innen von der Caltech nun zeigen. Das Chaperons
„chloroplastidäres Signalerkennungspartikel 43“ (cpSRP43) schützt wichtige
Enzyme während der Chlorophyllbiosynthese vor einer falschen Faltung durch
Hitze.

Chlorophyllbiosynthese wird auch bei Hitze ermöglicht

Schon länger ist bekannt, dass das Chaperon cpSRP43 und sein
Partnerprotein cpSRP54 gemeinsam einen anderen Stoffwechselprozess in
Pflanzenzellen unterstützen: Sie sorgen für den Transport der LHCPs
(light-harvesting chlorophyll-binding proteins) durch die Chloroplasten
und ihre Integration in die Thylakoidmembranen. In Studien mit Pflanzen
und mit Laboruntersuchungen der Enzyme ermittelten die Forscher:innen,
dass sich bei erhöhtem Hitzestress cpSRP43 von seinem Partner cpSRP54 löst
und in einem eigenständigen Einsatz wichtige Enzyme der
Chlorophyllbiosynthese schützt. Es stellt die Stabilität und Löslichkeit
der Enzyme GluTR, CHLH und GUN4 sicher und gewährleistet so, dass in
Pflanzenzellen auch bei hohen Temperaturen die Enzyme gleichmäßig und
störungsfrei im Stoffwechselweg der Chlorophyllbiosynthese arbeiten
können.

„Die Entkopplung des Chaperon cpSRP43 von seinem Partner bei
Hitzeeinwirkung und seine autonome Funktion als Hitzeschutz sind ein
wichtiger Regulationsmechanismus in Pflanzenzellen. Für die Adaptation der
Pflanzen an wechselnde klimatische Bedingungen ist der Mechanismus
essenziell,“ erläutert Gruppenleiter Prof. Dr. Bernhard Grimm die
Studienergebnisse.

Kopfschmerztag 2021: Auswirkungen des Corona-Lockdowns auf Patientinnen und Patienten mit primären Kopfschmerzen

Eine in Deutschland durchgeführte Studie [1] untersuchte, welche
Auswirkungen der Lockdown auf Patientinnen und Patienten mit primären
Kopfschmerzerkrankungen hatte. Es wurden die Einträge der
Studienteilnehmenden in ein digitales Kopfschmerztagebuch analysiert. Zwar
gaben viele eine anfängliche Stressreduktion durch den Lockdown an, aber
es gab keine langfristigen positiven Auswirkungen auf die primären
Kopfschmerzerkrankungen. Eine ähnliche Erhebung [2], die in Italien an
Patientinnen/Patienten mit Migräne durchgeführt worden war, ergab, dass
womöglich die Stressreduktion durch die Arbeit im Homeoffice positive
Effekte hatte.

Am 5. September ist Kopfschmerztag. Ziel des Aktionstags ist, auf die
häufig unterschätzten Kopfschmerzerkrankungen und das Leiden der
Betroffenen hinzuweisen. Aktuell untersuchten zwei Erhebungen, wie es
Kopfschmerzpatientinnen und -patienten im Lockdown ergangen ist.

Eine Studie [1] analysierte die Daten von deutschen Patientinnen und
Patienten mit primären Kopfschmerzerkrankungen, die ein digitales
Kopfschmerztagebuch mit der App „M-sense“ führten und die in den 28 Tagen
vor dem Lockdown sowie in den ersten 28 Tag des Lockdowns regelmäßig ihre
Daten eingepflegt hatten. Insgesamt konnten die Daten von 2.325 App-
Nutzerinnen und -Nutzern ausgewertet werden. Analysiert wurden mögliche
Veränderungen im Hinblick auf die monatlichen Kopfschmerztage, die
monatlichen Migränetage, der akuten Bedarfsmedikation und der
Schmerzintensität. Außerdem wurde erfasst, ob sich Schlafdauer,
Schlafqualität, Lebensenergie, Gemütszustand, Stress- und Aktivitätslevel
im Lockdown verändert hatten.

Im Ergebnis zeigte sich, dass es keinen signifikanten Unterschied im
Hinblick auf die Kopfschmerztage gab (7,01 ± 5,64 vor dem Lockdown vs.
6,89 ± 5,47 währenddessen, p>0,999). Auch in Bezug auf die monatlichen
Migränetage und die Schmerzintensität konnte kein Unterschied festgestellt
werden. Allerdings hatte sich die Anzahl der Tage, an denen die
Betroffenen eine Akuttherapie benötigten, signifikant reduziert – von 4,50
± 3,88 auf 4,27 ± 3,81 (p < 0.001). Auch berichteten die App-User einen
geringeren Stress- und Aktivitätslevel sowie längere Schlafzeiten, bessere
Laune und mehr Energie. „Demnach war der Lockdown in einem gewissen Umfang
positiv für Menschen mit Kopfschmerzerkrankungen. Es ist bekannt, dass es
einen Zusammenhang zwischen hoher Arbeitsbelastung, mangelnder Erholung
und Kopfschmerzen gibt, und offensichtlich führte der Lockdown dazu, dass
die Betroffenen etwas ‚herunterfahren‘ konnten. Viele Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer waren in Kurzarbeit und bei den anderen fielen die
Wegezeiten zur Arbeit weg, was zu mehr Freizeit führte, außerdem dauerte
es oft mehrere Tage oder gar Wochen, bis eine funktionierende Homeoffice-
Infrastruktur etabliert war und sie in gewohnter Weise weiterarbeiten
konnten“, erklärt Prof. Peter Berlit, Generalsekretär der DGN.

Allerdings war der positive Effekt nicht nachhaltig: In einer
weiterführenden Analyse der Daten von 439 der Nutzerinnen und Nutzer
wurden die monatlichen Kopfschmerztage, die monatlichen Migränetage, die
akute Bedarfsmedikation und die Schmerzintensität dann erneut nach drei
Monaten erhoben und mit den Ausgangswerten von vor dem Lockdown
verglichen. Es zeigte sich, dass es nun keinerlei Unterschiede mehr gab,
auch nicht in Bezug auf die Akutmedikation. Die Autorinnen und Autoren
schlussfolgern, dass die anfängliche Stressreduktion durch den Lockdown
keine langfristigen Auswirkungen auf die primären Kopfschmerzerkrankungen
hatte. „Womöglich brachte der Lockdown neue Stressoren mit sich, durch das
Homeschooling, die soziale Isolation oder auch durch Zukunftsängste und
finanzielle Sorgen“, erklärt Prof. Berlit weiter.

Eine ähnliche Erhebung [2] war in Italien an Migränepatientinnen und
-patienten mittels eines E-Mail-Fragebogens durchgeführt worden. 92
Betroffene nahmen an der Umfrage teil. Die Attackenhäufigkeit war bei
40,2% der Befragten während des Lockdowns konstant geblieben, bei 33,7%
hatte sie sich erhöht, bei 26,1% reduziert. Die Dauer der Attacken war bei
55,4% gleichgeblieben, bei 23,9% war sie länger geworden, bei 20,7% hatte
sie sich verkürzt. Der Migräneschmerz war bei 65,2% gleich oder
vermindert, bei 34,8% hatte die Schmerzintensität zugenommen. Die
Wirksamkeit der Migränemedikamente gaben 73,9% der Befragten mit gleich
gut an, 17,4% nahmen sie als vermindert wahr, 8,7% als verbessert.
Zusammenfassend hatte der Lockdown in dieser Erhebung bei ca. der Hälfte
der Patientinnen und Patienten keinerlei Auswirkungen, bei einem Viertel
führte er zu Verbesserungen, bei einem anderen Viertel zu
Verschlechterungen.

Was aber besonders interessant war: Die Arbeitsgruppe analysierte auch
Faktoren, die auf die Migräne Einfluss nehmen: Interessant war das
Ergebnis, dass die Patientinnen/Patienten, die im Homeoffice arbeiteten,
weniger Medikamente benötigten, eine geringere Schmerzintensität hatten
sowie eine kürzere Attackendauer. Die Autorinnen und Autoren
schlussfolgern, dass das Arbeiten im Homeoffice ein möglicher Weg sein
könnte, um die Lebensqualität von Menschen mit Migräne zu verbessern.
„Diese Hypothese ist nicht abwegig, denn wir wissen, dass bestimmte
Trigger, wie beispielsweise Stress oder Lärm, Migräne-Attacken auslösen.
Im Großraumbüro kann man sich dem weniger gut entziehen als im Homeoffice.
Auch hat man zuhause immer einen Rückzugsraum und kann sich ‚rausnehmen‘,
wenn eine Attacke beginnt, was die Intensität und Länge der Schmerzen
günstig beeinflussen kann“, erklärt DGN-Pressesprecher Prof. Dr. Hans-
Christoph Diener. „Arbeiten im Homeoffice kann also für Patientinnen und
Patienten mit Migräne durchaus sinnvoll sein.“ Weitere Tipps, wie
Betroffene mit der Migräne umgehen können, welche attackenauslösenden
Faktoren es gibt und wie die Erkrankung durch medikamentöse und
nichtmedikamentöse Therapien behandelt werden kann, finden sich im
„Migräne-Therapiekompass“ von Prof. Diener [3].

Literatur
[1] Raffaelli, B., Mecklenburg, J., Scholler, S. et al. Primary headaches
during the COVID-19 lockdown in Germany: analysis of data from 2325
patients using an electronic headache diary. J Headache Pain 22, 59
(2021).
https://thejournalofheadacheandpain.biomedcentral.com/articles/10.1186/s10194-021-01273-z

[2] Currò, C.T., Ciacciarelli, A., Vitale, C. et al. Chronic migraine in
the first COVID-19 lockdown: the impact of sleep, remote working, and
other life/psychological changes. Neurol Sci (2021).
https://link.springer.com/article/10.1007/s10072-021-05521-7

[3] Diener C. Der Migräne-Therapiekompass. Migräneattacken vorbeugen:
Welche Medikamente und andere Therapien wirklich helfen. Trias Verlag.
ISBN: 9783432114484

BAuA stellt Daten zur mentalen Gesundheit bei der Arbeit bereit

Ab sofort können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Daten der Studie
zur Mentalen Gesundheit bei der Arbeit (S-MGA) der Bundesanstalt für
Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) für ihre Forschung nutzen. Dazu
stellt das Forschungsdatenzentrum der BAuA einen Scientific Use File zur
Verfügung, der Daten aus der ersten und zweiten Befragungswelle der Studie
enthält.

Die Studie zur Mentalen Gesundheit bei der Arbeit entstand in
Zusammenarbeit zwischen der BAuA, dem Institut für Arbeitsmarkt- und
Berufsforschung sowie dem infas Institut für angewandte
Sozialwissenschaft. Die Studie untersucht Zusammenhänge zwischen
Arbeitsbedingungen, mentaler Gesundheit, Arbeitsfähigkeit und
Erwerbsteilhabe im Längsschnitt. Hierfür wurde eine repräsentative
Stichprobe von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten der
Geburtsjahrgänge 1951 bis 1980 in ganz Deutschland wiederholt befragt. An
der ersten Welle 2011/12 nahmen 4.511 Befragte teil, von denen 2.637 im
Jahr 2017 wiederbefragt werden konnten.

Das Forschungsdatenzentrum der BAuA hat jetzt für die Weitergabe der in
beiden Wellen erhobenen Daten an die wissenschaftliche Forschung einen
Scientific Use File bereitgestellt. Dazu wurden die Befragungsdaten
gezielt anonymisiert. Die dazugehörige umfangreiche Datendokumentation
stellt den Inhalt des Datensatzes einschließlich der Aufbereitungs- und
Anonymisierungsschritte dar. Die Daten für wissenschaftliche Zwecke stehen
kostenfrei zur Verfügung. Den Datenzugang gibt es über einen Antrag an das
Forschungsdatenzentrum der BAuA. Dazu schließt das Forschungsdatenzentrum
einen Vertrag mit den Nutzenden über die Rechte und Pflichten bei der
wissenschaftlichen Auswertung. Weiterführende Informationen zum Datensatz
und zum Datenzugang finden sich auf der Homepage der BAuA unter
www.baua.de/fdz

Das Forschungsdatenzentrum der BAuA, das der Rat für Sozial- und
Wirtschaftsdaten im Juli 2021 akkreditierte, stellt darüber hinaus weitere
Daten aus der Forschung der BAuA zur Verfügung.

Forschung für Arbeit und Gesundheit
Die BAuA ist eine Ressortforschungseinrichtung im Geschäftsbereich des
BMAS. Sie betreibt Forschung, berät die Politik und fördert den
Wissenstransfer im Themenfeld Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit.
Zudem erfüllt die Einrichtung hoheitliche Aufgaben im Chemikalienrecht und
bei der Produktsicherheit. An den Standorten Dortmund, Berlin und Dresden
sowie in der Außenstelle Chemnitz arbeiten über 750 Beschäftigte.
www.baua.de

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Braucht sozial digital? Die Soziale Arbeit im Wandel.

Eine wichtige Kernkompetenz der Sozialen Arbeit ist die soziale Nähe,
weshalb die Face-to-Face-Kommunikation als Königsweg galt – bis die
Corona-Pandemie kam. Diese stellte die Soziale Arbeit vor viele offene
Fragen und spaltete sie in systemrelevante und systemirrelevante
Handlungsfelder. Der Leitgedanke, Hilfe geht von Hilfebearf aus, wurde auf
eine harte Probe gestellt. Wie verändert dieser noch nie dagewesene
Wandlungsprozess die Identität der Sozialen Arbeit?

Mit COVID-19 sieht sich die Soziale Arbeit aufgrund einer Flut an
Veränderungen einem noch nie dagewesenen Wandlungsprozess, in einigen
Bereichen sogar einer Identitätskrise gegenüber. Der Leitgedanke, Hilfe
geht von Hilfebedarf aus, wurde auf eine harte Probe gestellt. Die Soziale
Arbeit als Anwendungswissenschaft mit normativem Charakter war gezwungen,
Prämissen und Methoden völlig „uneitel“, aufzugeben bzw. anzupassen und
einer politisch vorgebenen Spaltung zuzusehen, die die Handlungsfelder in
Systemrelevanz unterteilte. Corona wird uns alle und auch die Soziale
Arbeit wohl noch lange begleite. Daraus entstehen Herausforderungen und
Chancen entstehen, welche ihre Identität maßgeblich prägen werden.

Dauerhaft. Systemrelevant.
Während der Corona-Pandemie standen weite Teile der Sozialen Arbeit still
oder fuhren mit „halber“ Kraft. Viele Träger gerieten in finanzielle
Schieflage und Fachkräfte verloren ihre Jobs. Warum durften Pflege und
Medizin dauerhaft arbeiten, die Soziale Arbeit musste in weiten Teilen
stillstehen? Systemrelevanz erscheint als politisch motiviertes Mandat
nicht ganz unproblematisch für die Soziale Arbeit. Ein solches Label lässt
sowohl die Stellung der Dienstleistung in der Gesellschaft vermuten als
auch Rückschlüsse auf die Wertigkeit der unterschiedlichen Handlungsfelder
erahnen. Sollte Leben nicht immer systemrelevant sein? Die Soziale Arbeit
kann nicht als medizinischer Notfall firmieren, aber welche Folgen haben
Isolation und Depressionen für die Gesellschaft? Kurz gesagt, nicht
tödlich, aber langfristig schädlich. Ein bekanntes Beispiel hierfür sind
die Waisenkindversuche von Friedrich II. von Hohenstaufen zur Ursprache
(sog. Kaspar-Hauser-Versuche), bei denen Waisenkinder nur mit dem
Nötigsten versorgt wurden und starben. Die Soziale Arbeit muss sich
orientieren und die Soziale Nähe als eine ihrer Kernkompetenzen nicht den
Veränderungen und Notwendigkeiten unterordnen, sondern diese „verteidigen“
und mit neuem Leben füllen.

Notlösungen oder Chance?
COVID-19 stellte die Soziale Arbeit vor unzählige Herausforderungen, zwei
davon können allerdings als dauerhaft gestaltend für die Identität der
Sozialen Arbeit angesehen werden. Zum einen die Digitalisierung, welche
tradierte Beratungsformen ablöst und eine Mehrbelastung für die Fachkräfte
mit sich bringen kann. Zum anderen die Träger in Schieflage, da auch mit
Mindestabständen genug Teilnehmende generiert werden müssen.

Soziale Nähe gehört unstrittig zur Kernkompetenz der Sozialen Arbeit. Body
Distancing schließt Soziale Nähe nicht aus, aber erfordert neue Formen und
Methoden. Vielfach konnte der Königsweg „Face-to-Face“, nicht mehr
aufrecht erhalten werden. Die Lösung schien in Beratungen per Telefon oder
Videokonferenz zu liegen. Sicherlich ein zunächst gangbarer Weg, bleiben
aber die Fragen, warum z. B. häusliche Gewalt, trotz umfänglicher
Bemühungen, dennoch so stark zugenommen hat, sich die Anzahl an sozialer
Isolation und Depressionen verdoppelt hat und psychisch Kranke kaum noch
erreichbar waren. Scheinbar konnten doch nicht alle ratsuchenden Personen
auf diesem Weg gleichermaßen erreicht werden.

Ungeachtet des Erfolgs der Digitalisierung sollten die Mitarbeitenden
nicht vergessen werden. Viele fühlten sich durch die Maßnahmen
überfordert, isoliert und zweifelten deren Wirksamkeit an. Zudem
betrachteten viele Träger die Mehrbelastung ihrer Mitarbeitenden nicht so
sensibel, wie es für sie sinnvoll wäre. Wahrscheinlich sind zwei
Erklärungen, einerseits, dass die Träger vermehrt in finanzielle
Schieflagen gerieten und schlichtweg mit „Überleben“ beschäftigt waren und
andererseits, dass die Solidarität und das Engagement der Fachkräfte über
die eigentlichen Fragen hinwegtäuschen.

Zusammengefasst steht die Soziale Arbeit vor der Herausforderung, sich
selbst eine modifizierte Identität zu ermöglichen und sinnstiftend für
alle Beteiligten sich zu rekonfigurieren.

Bewährtes neu denken
Die Soziale Arbeit gilt tradiert als eine Anwendungswissenschaft, die
Neuerungen eher skeptisch gegenübersteht und zumeist langsam annimmt.
Damit ist natürlich nicht die Adaption gesellschaftlicher Problemlagen
gemeint, die sich zeitnah mit den gewohnten Methoden vollzieht. Mit der
Pandemie folgte ein Quantensprung in der Entwicklung der Sozialen Arbeit,
der mit der meist gelungenen Einbindung digitaler Wege und signifikanter
Flexibilität einherging. Zentral für die Soziale Arbeit waren und bleiben
die Klienten:innen und so wurden kreativ Wege gefunden. Viele Ratsuchenden
konnten digital erreicht werden und die Kommunikationswege haben sich
deutlich erweitert. Eine gänzlich veränderte Form von Niederschwelligkeit
gehört nun genauso zum Repertoire wie klientenseitig erweiterte Chancen
zur Teilhabe und sozialer Inklusion. Dabei ist aber nicht zu vergessen,
dass manche Handlungsfelder der Sozialen Arbeit, ihren Fachkräften keine
Möglichkeit gaben, regelkonform zu arbeiten und einige Fachkräfte sich
durch ihr Weiterarbeiten strafbar machten.

Soziale Arbeit nach COVID-19 sollte bewusst darüber diskutieren, was vom
Alten bleibt und was an Neuem dazu kommt. Zum Einstehen für die Profession
gehört auch ein Blick auf Bewährtes und Chancen. Letztlich wird eine
normative Anwendungswissenschaft sich selbst und ihre Identität auch in
Chancen- und Experimentierräumen finden, die sensibel bewertet und im
Live-Betrieb getestet werden sollten. Dabei darf die Corona-Pandemie und
der damit einhergehende Strudel an Ereignissen nicht leitend sein, sondern
der Fokus wieder vermehrt auf das System Sozialer Arbeit gelenkt werden.

Ein Blick in die Zukunft der Sozialen Arbeit
Der Utopie, dass die Corona-Pandemie irgendwann vorbei geht, sollte sich
die Soziale Arbeit nicht hingeben. Bleiben ohnehin die Fragen, wann soll
das sein und welche Veränderungen die Gesellschaft dauerhaft begleiten
werden. Die Soziale Arbeit sollte sich auf ihre Grundsätze und
Kernkompetenzen fokussieren, Wege und Methoden finden, die eigene
Identität zu bestimmen und für sich und ihre Klient:innen einzustehen.
Befindlichkeiten und Wertigkeiten sind die eine Seite, auf der anderen
Seite geht Hilfe von Hilfebedarf aus. Einen Königsweg wird es
wahrscheinlich nicht geben, sondern das Verständnis von Sozialer Nähe und
den zugehörigen (neuen) Methoden. „Face-to-Face“ ist nicht mehr die
einzige Kernkompetenz für Soziale Nähe. Die Soziale Arbeit wird sich und
ihre Professionalität neu konfigurieren und nicht zum Call-Center für
soziale Dienstleistungen avancieren.

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