Analyse für die letzten drei Jahre
IMK-Check zeigt erfolgreiche Stabilisierungspolitik in der Corona- und
Inflationskrise, aber Abstriche bei Nachhaltigkeit
Die Corona- und die Ukrainekrise haben in Deutschland auf dem Arbeitsmarkt
und bei den Einkommen der Bevölkerung geringere Schäden angerichtet als
angesichts der starken wirtschaftlichen Schocks zu erwarten gewesen wäre.
Die große Koalition und die „Ampel“ haben in den vergangenen Krisenjahren
mit hohem Aufwand, darunter weit verbreitete Kurzarbeit,
Unterstützungszahlungen und Energiepreisbremsen, Schlimmeres abgewendet.
Dieser Stabilisierungserfolg der Wirtschaftspolitik hat allerdings nicht
verhindern können, dass Deutschland zwischen 2020 und 2022 bei zentralen
Kenngrößen wirtschaftlicher, staatlicher, sozialer und ökologischer
Nachhaltigkeit relativ schwach abschneidet. Mit Blick auf die
Nachhaltigkeit der Staatstätigkeit und der Staatsfinanzen haben die dafür
nötigen hohen Ausgaben sogar zu einer Verschlechterung gegenüber den
Jahren davor geführt. Das ergibt der neue Nachhaltigkeits-Check im Auftrag
des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-
Böckler-Stiftung anhand von 14 Indikatoren, wobei für 13 Daten aus dem
Untersuchungszeitraum vorliegen. Lediglich bei zwei davon geben die
Forschenden im Durchschnitt der drei Jahre uneingeschränkt grünes Licht.*
Allerdings liegen insbesondere bei der sozialen Nachhaltigkeit noch nicht
alle Daten für das Jahr 2022 vor. Und: In der außergewöhnlichen Situation
eng aufeinanderfolgender Großkrisen sei es wenig sinnvoll, den
Nachhaltigkeitscheck „mechanisch“ vorzunehmen, schreiben die Forschenden.
Denn sowohl die Corona-Pandemie als auch die Explosion der Preise nach dem
russischen Überfall auf die Ukraine sind äußere Ereignisse, auf die die
deutsche Wirtschaftspolitik nur wenig Einfluss hatte, betonen Prof. Dr.
Fabian Lindner und Prof. Dr. Anita Tiefensee, die die Untersuchung für das
IMK erstellt haben.
Die Einordnung der Forschenden fällt dementsprechend erheblich positiver
aus als es die geringe Quote erreichter Ziele zunächst erwarten lässt:
Alles in allem ergebe sich „ein durchwachsenes Bild zur Entwicklung der
Nachhaltigkeit in Deutschland“, so Lindner und Tiefensee. „Die Politik hat
insgesamt gut auf die Krisen reagiert. Sie hat Einkommen gestützt, was
dazu geführt hat, dass sowohl der wirtschaftliche Wohlstand als auch die
soziale Nachhaltigkeit nicht noch stärker gesunken sind als es in der
Krise ohnehin der Fall war. Die Vernachlässigung einer strengen Einhaltung
der Nachhaltigkeit der Staatstätigkeit war dafür der Preis“, fassen der
Ökonomieprofessor von der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW)
Berlin und die Professorin an der Hochschule des Bundes wesentliche Trends
zusammen. Und weiter: „Eine Überschuldung des Staates ist deswegen zwar
nicht abzusehen, aber die niedrigen Investitionen belasten den Standort.
Die Stützungsmaßnahmen der Bundesregierung und die Erhöhung vieler
Sozialleistungen haben die Folgen der Krisen für Armut und Ungleichheit
insgesamt begrenzt. Die Inflation hat aber zu realen Einkommensverlusten
geführt. Die Treibhausgasemissionen und der Energieverbrauch sind
gefallen. Das dürfte allerdings ein temporärer Effekt sein, weil es auf
die geringe Produktion in der Krise zurückzuführen ist.“
Der Nachhaltigkeits-Check folgt dem Modell des „Neuen Magischen Vierecks“,
das die etablierten Zieldimensionen der Wirtschaftspolitik für das 21.
Jahrhundert aktualisiert. Traditionell geht es um hohe Beschäftigung,
stabile Preise, außenwirtschaftliches Gleichgewicht sowie stetiges und
angemessenes Wirtschaftswachstum. In Zeiten von Klimawandel und lange
steigender Einkommensungleichheit reicht eine Ausrichtung allein auf
Wirtschaftswachstum nicht mehr aus, so der modernisierte Ansatz. Das
Konzept hat der Wissenschaftliche Direktor des IMK, Prof. Dr. Sebastian
Dullien, mitentwickelt. Es greift mit verschiedenen Zielwerten
Anforderungen auf, auf die sich die Bundesregierung etwa im Rahmen der
Europa-2020-Strategie sowie der Erneuerbare-Energien-Richtlinien der
Europäischen Union selbst festgelegt hat und erweitert sie um weitere
wichtige Nachhaltigkeitsziele. Seit 2012 wurde der Check mehrmals
durchgeführt.
Lindner und Tiefensee haben anhand aktueller Daten aus zahlreichen
offiziellen Quellen überprüft, inwieweit Deutschland in den vergangenen
drei Jahren mehr materiellen Wohlstand und ökonomische Stabilität,
Nachhaltigkeit der Staatstätigkeit und Finanzen sowie soziale und
ökologische Nachhaltigkeit erreicht hat. Dabei haben sie insgesamt 13
verschiedene Indikatoren betrachtet (siehe auch Abbildungen 1 bis 4 in der
pdf-Version dieser PM; Link unten).
– Wachstum, Beschäftigung, Außenhandel: Dreimal „rot“, einmal „grün“ –
Die Krisen der jüngsten Vergangenheit haben tiefe Spuren bei den
volkswirtschaftlichen Kennzahlen hinterlassen. Das reale
Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf lag der Studie zufolge 2022 fast auf
dem gleichen Niveau wie 2019. Damit ergibt sich praktisch ein
Nullwachstum, weit unter dem Zielwert von 1,25 Prozent Zunahme im
Jahresdurchschnitt. Der Konsum legte etwas stärker zu, was angesichts von
drastischen Einbrüchen in der Corona-Krise und der Energiepreisexplosion
bereit ein positives Zeichen ist. Mit 0,3 Prozent im Mittel der Jahre 2020
bis 2022 wurde das Ziel von durchschnittlich 1,25 Prozent aber ebenfalls
klar verfehlt.
Deutlicher sind die Erfolge der Anti-Krisen-Politik am Arbeitsmarkt
abzulesen: Die Quote der Erwerbstätigen lag im gesamten Analysezeitraum
oberhalb des Zielwertes von 77 Prozent. 2022 übertraf sie mit 80,7 Prozent
sogar den Vorkrisenstand. Die „Stabilisierung des Arbeitsmarktes trotz
Rekordrezession“ bezeichnen Lindner und Tiefensee als „gewaltigen
beschäftigungspolitischen Erfolg“. Denn: „Ein Anstieg der Arbeitslosigkeit
wäre unter den Bedingungen der Corona- und der aktuellen Energiepreiskrise
sozialpolitisch katastrophal gewesen.“
Das vierte Kriterium in diesem Teil des Checks ist der
Leistungsbilanzsaldo. Über viele Jahre hat Deutschland im Außenhandel
gewaltige Überschüsse verzeichnet. Diese überschritten seit 2012
durchgängig das – von der EU-Kommission mit Blick auf außenwirtschaftliche
Stabilität recht großzügig gezogene – Limit von sechs Prozent des
deutschen BIPs. Das war sogar in den Corona-Jahren 2020 und 2021 der Fall.
2022 sank der Überschuss dann drastisch auf 4,3 Prozent des BIP. Grund
waren die stark verteuerten Energieimporte. Aus Sicht der
Verbraucher*innen in Deutschland bedeutete die auf dem Papier „bessere
Balance“ im Außenhandel daher keinen Wohlstandszuwachs, sondern einen
Wohlstandsverlust. Und gerechnet auf den Dreijahreszeitraum blieb der
Außenhandelsüberschuss im Durchschnitt trotzdem oberhalb von sechs
Prozent.
– Budget und Investitionen: Kein Kriterium erfüllt –
Um die Nachhaltigkeit von Staatstätigkeit und -finanzen zu überprüfen,
betrachtet der IMK-Check drei zentrale Größen: Ob der Staatshaushalt
strukturell im Plus oder im Minus ist, die staatliche Gesamtverschuldung
gemessen am BIP sowie die öffentlichen Nettoinvestitionen. Während der
2010er Jahre wiesen die Budgets meist Überschüsse und die
Schuldenstandsquote eine sinkende Tendenz auf. Beim letzten Check gaben
den Forschenden vor allem die Investitionen Anlass zur Sorge, die trotz
leichter Steigerungen viel zu niedrig ausfielen. Wenig überraschend ist,
dass sich zwischen 2020 und 2022 die Situation weiter eingetrübt hat: In
den drei Krisenjahren ist kein Ziel erreicht worden.
Die Stützungsmaßnahmen des Staates sowohl gegen die Folgen der Corona- als
auch der Energiepreiskrise haben zu strukturellen Defiziten und 2020 und
2021 auch zu Steigerungen der Schuldenstandquote geführt. Die stark
gestiegenen Preise haben wiederum die öffentlichen Investitionen belastet.
Diese hatten sich 2020 noch recht positiv entwickelt, sind im Jahr 2022
aber stark eingebrochen. „Die Verschlechterung der Defizite und der
Schuldenstandquote waren angesichts der großen Krisen notwendig, um
Wirtschaft und Gesellschaft zu stützen. Die niedrigen Investitionen führen
aber langfristig zu einer Belastung, da weniger öffentliche Güter und
Dienstleistungen bereitgestellt werden können als notwendig wären. Dazu
gehört nicht zuletzt die Umstellung der öffentlichen Infrastruktur auf
Klimaneutralität“, warnen Lindner und Tiefensee.
– Armut, Ungleichheit, Bildung: Daten für 2022 fehlen noch, bis dahin
schwaches Bild –
Auch bei der sozialen Nachhaltigkeit kommen die Forschenden zu eher
ernüchternden Ergebnissen – auch wenn für die verwendeten Indikatoren
bislang nur Werte bis 2021 vorliegen und diese nur eingeschränkt mit
früheren Jahren vergleichbar sind. Der Anteil der Armutsgefährdeten an der
Gesamtbevölkerung übertraf in beiden Jahren deutlich den Zielwert von 12
Prozent. 2021 lag er bei gut 16 Prozent.
Die Ungleichheit der Haushaltseinkommen, gemessen daran, wie viel mehr das
nach Einkommen „reichste“ gegenüber dem „ärmsten“ Fünftel der Haushalte,
hat sich in den ersten beiden Corona-Jahren uneinheitlich entwickelt. Klar
ist: Beide Werte liegen deutlich über dem Zielwert von 4 (also das
Vierfache).
Stark negativ war die vorläufige Entwicklung beim Bildungserfolg, gemessen
an der Quote der Personen, die höchstens die Haupt- oder Realschule
abschließen und keine weitere Ausbildung machen. Der Anteil lag 2020 mit
10,1 Prozent nahe bei der anvisierten Grenze von 10 Prozent, stieg 2021
aber auf 11,6 Prozent. Zum problematischen Trend könnten die hohen
Belastungen während der Pandemie beigetragen haben, schätzen Lindner und
Tiefensee. Hier müsse die Politik verstärkt gegensteuern. Eine inklusivere
Bildungspolitik sei für die gesellschaftliche Chancengleichheit ebenso
wichtig wie für das Fachkräftepotenzial.
– Ökologische Nachhaltigkeit: Vier Ziele, eines erreicht –
Anders als in den Jahren zuvor hat Deutschland im Bereich der ökologischen
Nachhaltigkeit von 2020 bis 2022 immerhin ein Ziel erreicht, und zwar ein
zentrales, schreiben die Forschenden: Die Treibhausgasemissionen sind
zwischen 1990 und 2022 um 40,4 Prozent gesunken. Auch das konkret
festgeschriebene Ziel, bis 2020 eine Reduzierung um 40 Prozent zu
erreichen, wurde erfüllt. Allerdings lag das vor allem an Sonderfaktoren
in der Krise: 2020 ließ die Corona-Rezession die Energienachfrage stark
sinken, 2022 dämpften die explodierenden Energiepreise und die Angst vor
einer Gasmangellage den Verbrauch.
Der Anteil der Erneuerbaren Energien an der Energieerzeugung, ein zweites
Kriterium im Check, wächst zwar, aber besonders 2022 wurde durch den
Rückgang des Einsatzes relativ emissionsarmen Erdgases und der starken
Reduzierung der Kernenergie zugunsten von Kohle und Mineralöl der
Energiemix insgesamt kohlenstoffreicher. So ist das Ziel zum Anteil der
Erneuerbaren an der Endenergie 2020 erreicht worden. Der Zielpfad, der
sich aus den neuen europäischen Zielen zum Ausbau der Erneuerbaren
Energien ergibt, wurde allerdings bisher verfehlt. Unter dem Strich bleibe
trotz unübersehbarer Fortschritte also weiterer großer Handlungsbedarf, so
Lindner und Tiefensee.
Bei der Biodiversität, die ebenfalls als Indikator im „Neuen Magischen
Viereck“ erfasst wird, liegen für den Untersuchungszeitraum keine neuen
Daten vor, daher wird dieser in der aktuellen Analyse zwar ausgewiesen,
aber nicht gewertet. Der Nationale Vogelindex, der Artenvielfalt und
Landschaftsqualität misst, wurde zuletzt 2016 aktualisiert. Der damals
gemessene Wert von 70,3 war weit entfernt vom Zielwert 100. Als Ursachen
gelten vor allem die intensive Landwirtschaft, die Zersiedelung, die
Versiegelung von Flächen und die Belastung von Gewässern.