Interview mit FAU-Medizinethiker Prof. Dr. Andreas Frewer
Die Corona-Pandemie hat die Kostbarkeit und Endlichkeit des Lebens neu ins
Bewusstsein gebracht. Zugleich stellte sie etablierte Formen der
Begleitung am Lebensende auf die Probe. Die Notwendigkeit einer neuen
Sterbekunst (Ars moriendi nova) wurde deutlich. Derzeit wird nach dem
Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2020 die gesetzliche Neuregelung des
Suizids diskutiert. Damit verbunden sind intensive (medizin-)ethische und
gesellschaftliche Diskurse. Andreas Frewer, Professor am Institut für
Geschichte und Ethik der Medizin der Friedrich-Alexander-Universität
Erlangen-Nürnberg (FAU), thematisiert aktuelle Fragen der Sterbekultur.
Seine Forschungsschwerpunkte sind Ethik und Menschenrechte in der Medizin,
Lebensende und „Euthanasie“, Medizingeschichte des 20. Jahrhunderts sowie
Ethikberatung.
Welche Facetten des Lebensendes müssen in den Blick genommen werden, wenn
wir uns mit dem Thema „Sterbekultur“ auseinandersetzen?
Dies betrifft ein weites Spektrum des Handelns in Kliniken, Stationen für
Palliativmedizin und Hospizen, aber natürlich auch die Betreuung in
niedergelassenen Praxen und viele soziale Umgangsformen. Letztlich ist die
gesamte „Kultur“ einer Gesellschaft relevant, ob wir sowohl bei der
fachlichen Seite wie Schmerztherapie, Suizidprävention und
Sterbebegleitung wie auch im sozialen Miteinander von ehrenamtlichem
Engagement der Bürgerschaft bis hin zur „letzten Hilfe“ professionelle
Kompetenz und differenzierte Angebote haben. Auch deswegen beschäftigt
sich ein neues Buch, das wir gemeinsam mit Dorothee Arnold-Krüger,
Philosophin am Zentrum für Gesundheitsethik in Hannover und Daniel
Schäfer, Professor am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der
Universität zu Köln, herausgebracht haben, mit den Herausforderungen der
Sterbekultur und möchte eine „neue Kunst“ am Lebensende stärken: „Ars
moriendi nova“.
Welche aktuellen Fragestellungen beeinflussen die Sterbekultur im Jahr
2024?
In der Gegenwart ist gerade die schwierige Phase der Covid-19-Pandemie
einigermaßen bewältigt, da steht mit den gesellschaftlichen Debatten und
der parlamentarischen Entscheidung zur Regelung des „assistierten Suizids“
eine weitere große Herausforderung an. Das Bundesverfassungsgericht hat
mit seinem Urteil vom Februar 2020 eine Neugestaltung angemahnt, zwei
parteiübergreifende Gesetzesentwürfe haben im Sommer 2023 jedoch keine
Mehrheit erhalten. Aus diesem Grund steht die Neuregelung des Paragrafen
217 in Kürze an.
Welche besonderen moralischen Herausforderungen sind damit verbunden?
Die ärztliche Profession sollte aus ethischer Sicht per se für das Leben
und eine Unterstützung bei Krankheit und Leiden stehen. Die Möglichkeit
von „ärztlich assistiertem Suizid“ könnte hier eine schwierige Änderung
der Grundwerte in der Medizin mit sich bringen. Kranke sollten sich
eigentlich immer darauf verlassen können, dass die Ärzteschaft alles für
Lebenserhalt und Leidensminderung tut. Wenn das Angebot von
Lebensverkürzung eine Option ist, stellen sich manche Betroffene und vor
allem Menschen in vulnerablen Situationen womöglich viel schneller die
Frage, ob sie für andere eine „Last“ darstellen und nicht den „Freitod“
wählen sollten. Auch die Aktivitäten von Suizidhilfe-Organisationen sind
aktuell in einem Wandel begriffen mit größerer Ausbreitung von Angeboten.
Hier ist die gesamte Gesellschaft stark herausgefordert, denn alle
Entwicklungen in diesen Gebieten sind womöglich nicht mehr so leicht oder
schnell zu revidieren.
Braucht es hierzulande eine neue Sterbekultur in Zeiten der
Hochleistungsmedizin, zunehmender kultureller Diversität etc.?
Das Themenfeld hat in der Tat noch weitere Facetten. Mit der Entwicklung
einer immer vielfältigeren und inklusiven Gesellschaft müssen auch mehr
interkulturelle Kompetenzen in der Medizin realisiert und neue Fragen
beantwortet werden: Wie möchten andere Religionsgemeinschaften bestimmte
Rituale am Lebensende gestalten? Welche Handlungen sind in Kliniken und
Hospizen für Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen sinnvoll und
erforderlich? Wie kann in der Hochleistungsmedizin nicht nur „High Tech“,
sondern „High Care“ gewährleistet werden? Und wie sollte man manchmal auch
bewusst „Low Tech“ umsetzen, um der direkten menschlichen Begegnung mehr
Raum zu geben?
Man sieht schon in der Gegenwart bei einem wichtigen Instrument wie der
Patientenverfügung, wie komplex die sich dabei stellenden Fragen in der
klinischen Praxis sind und wie wenig Zeit etwa in der hausärztlichen
Praxis für wichtige Hintergrundgespräche bleibt. Wie soll der Drang nach
immer mehr Selbstbestimmung bis hin zum (assistierten) Suizid durch
kompetente Beratung differenziert beantwortet werden, wenn schon kaum Zeit
für Beratungen im Sinne eines „Advance Care Planning“ bleibt?
Gibt es postmoderne Konzepte des Sterbens und welche normativen Inhalte
tragen sie in sich?
Eine dieser Ideen ist der Transhumanismus: Durch Technik soll der Tod
nicht nur bekämpft, sondern langfristig sogar abgeschafft werden. Mittels
Kryonik, also dem Einfrieren bis zum erneuten Wiederbeleben, wird auf
diese Weise der alte Menschheitstraum der Unsterblichkeit angestrebt.
Technikorientierung bis zum unkritischen Optimismus eines möglichen
„Uploading“ von Bewusstsein führt zu Lebensmodellen, die unserer
Gesellschaft durchaus gefährlich werden können. Sie sind ungerecht und
verändern menschliches (Zusammen-)Leben grundlegend. Schon der antike
Mythos der Sibylle von Cumä, die sich 1.000 Lebensjahre wünschte, aber
dann am unweigerlichen Verfall nur noch mehr litt, zeigen alten Wünsche
und gleichzeitig anthropologische Gefahren. Der Tod gibt dem menschlichen
Leben Sinn, denn wenn man unendlich leben würde, wäre jede Handlung egal
oder könnte auf später verschoben oder revidiert werden. Sterblichkeit ist
kostbar, der Tod etwas sehr Besonderes.
Die gesetzliche Neuregelung des assistierten Suizids wird intensiv
diskutiert, ein diesbezügliches Gesetz mit Spannung erwartet. Ist der
assistierte Suizid in die gegenwärtige Sterbekultur integrierbar oder
stellt er gar deren Kontrapunkt dar?
Hier stellen sich grundsätzliche Fragen. Aspekte der ärztlichen Rolle und
der Profession mit ihren normativen (Selbst-)Verpflichtungen werden hier
neu zu bewerten sein. Aus meiner ärztlichen Erfahrung in verschiedenen
Bereichen der Berliner Universitätsmedizin, aber auch nach 20 Jahren
Ethikberatung in unterschiedlichen Einrichtungen des Gesundheitswesens,
rate ich hier zu großer Vorsicht. Schon die Sprache kennt dies: Man kann
zwar getötet oder gar ermordet werden, man kann jedoch nicht „gestorben
werden“. Der Tod ist etwas höchst individuelles, das Sterben persönlich zu
gestalten.
Der „gute Tod“, ein „humanes Sterben“ wird immer wieder angestrebt, aber
nicht nur die Pervertierung der „Euthanasie“ im NS-Staat hat dieses
Konzept grundsätzlich in Frage gestellt. Die fehlgeleiteten Ideen dazu
waren durchaus schon deutlich früher zu sehen, etwa in Büchern wie „Die
Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ des Psychiaters Hoche und
des Juristen Binding in einer ersten Auflage 1920 sowie einer zweiten
1922. Die menschenverachtenden Bewertungen und Rassismen sind keineswegs
nur eine Erfindung der Nazis. Auch in Zukunft stellen sich große
Herausforderungen, etwa durch Altersdiskriminierung oder wenn durch
Expertensysteme wie Künstliche Intelligenz Lebensentscheidungen und
Ressourcenzuteilungen (Triage) dominiert werden könnten.