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Filmreihe geht neue Wege der Glaubenskommunikation

Immer mehr Menschen wissen kaum noch über christliche Rituale Bescheid.
Dem will eine neue Filmreihe entgegenwirken, an der Theologieprofessor
Martin Stuflesser von der Uni Würzburg beteiligt ist.

Brotbrechen. Messe. Eucharistie. Herrenmahl. Das alles sind
unterschiedliche Namen für ein und dasselbe zentrale Ritual. Ein Ritual,
das Christen aller Konfessionen seit 2000 Jahren versammelt.

Im Lauf dieses Rituals kommt es nach christlichem Verständnis zu einer
Wandlung: Gaben der Schöpfung werden herausgenommen aus ihrem alltäglichen
Gebrauch und erhalten neuen Sinn. Ein Brot wird geteilt, zerbrochen, und
alle empfangen davon. Alle trinken aus einem Kelch. Aus den Gaben der Erde
und der menschlichen Arbeit werden Leib und Blut Christi, und eine
Gemeinschaft entsteht.

Pilotfilm erklärt das Hochgebet der Eucharistie

Im Zentrum der Feier steht das große Gebet über Brot und Wein, das
eucharistische Hochgebet. Was bei diesem Gebet geschieht, wird im
Pilotfilm „Wandlung!“ der neuen Filmreihe „Heilige Zeichen“ erklärt –auf
inhaltlicher Ebene und dem aktuellen Sachstand liturgiewissenschaftlicher
Forschung entsprechend.

Die neue Filmreihe entsteht in einer Kooperation von Professor Martin
Stuflesser, Leiter des Lehrstuhls für Liturgiewissenschaft an der
Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Würzburg, mit Christof
Wolf von der Produktionsfirma „Loyola Productions“ (München) des Jesuiten-
Ordens.

Filme setzen auf größtmögliche Verständlichkeit

„In einer Zeit, in der gesamtgesellschaftlich betrachtet das Wissen um
christliche Glaubensinhalte und Rituale des Christentums schwindet,
versuchen wir mit der Serie neue Wege der Glaubenskommunikation zu
erschließen“, sagt Professor Stuflesser. Damit leistet die Serie auch
einen Beitrag zur Wissenschaftskommunikation: Ihr Anspruch ist es,
aktuelle Forschung mit größtmöglicher Verständlichkeit zu verbinden.

Das erste Ergebnis dieser Bemühungen können alle Interessierten im
Internet sehen: Der Pilotfilm „Wandlung!“ ist bereits auf YouTube
erschienen.

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„Sich das Gehirn wegsaufen“ – leider mehr als nur ein Spruch

Alkohol ist gesellschaftlich akzeptiert, auch wenn der Mythos vom
„gesunden Gläschen Wein“ nicht mehr länger zu halten ist. Gerade die
Auswirkungen einer Alkoholsucht auf das Gehirn sind katastrophal, Menschen
mit „Trinkerkarrieren“ erreichen bereits in mittleren Lebensjahren
demenzähnliche Zustände mit z. T. komplettem Verlust der Selbstautonomie.
Denn Alkohol schädigt Nervenzellen über verschiedene Mechanismen. Diese
Gefahr des Alkoholkonsums wird nur selten thematisiert, da Betroffene
nicht an den neurologischen Folgen, sondern an Leberversagen oder Krebs
sterben. Das Thema „Gehirn und Alkohol“ ist auch ein Thema einer
Veranstaltung der Deutschen Hirnstiftung auf dem DGN-Kongress.

Alkoholkonsum – zu hoch und immer noch gesellschaftlich akzeptiert
Laut Angaben des Bundesministeriums für Gesundheit [1] konsumieren 7,9
Millionen Menschen der 18- bis 64-jährigen Bevölkerung in Deutschland
Alkohol sogar in gesundheitlich riskanter Menge . Der Gesamtkonsum an
reinem Alkohol (Liter pro Kopf) ist in den Jahren zwischen 2010 und 2020
zwar zurückgegangen (von 11,6 auf 10,6 l), doch im „DHS Jahrbuch Sucht
2024“ [2] ist nachzulesen: „Der Gesamtverbrauch an alkoholischen Getränken
stieg im Jahr 2022 gegenüber dem Vorjahr (2021: 118,5 l) um 1,4 % (1,6
Liter) auf 120,1 Liter Fertigprodukt pro Kopf der Bevölkerung.“ Auch wenn
der Trend offensichtlich zu weniger hochprozentigen alkoholischen
Getränken geht, ist der Konsum zu hoch, regelmäßig und offensichtlich
unbedacht.

Gut für die Gesundheit? Ein Mythos …
Woher kommt diese unkritische Einstellung? Es gab eine Reihe
epidemiologischer Studien, die eine sogenannte J-Kurve zeigten; d. h.
Menschen, die „null Alkohol“ konsumierten, hatten eine höhere
Sterblichkeit als die, die einen moderaten Alkoholkonsum angaben. Bei
höheren Alkoholmengen stieg das Sterberisiko dann deutlich an. Dann kam
aber heraus, dass unter den Personen, die einen „Null-Alkohol-Konsum“
angegeben hatten, viele abstinente Ex-Alkoholkranke waren, sodass die
„J-Kurve“ das Produkt einer methodischen Verfälschung war. Eliminierte man
diesen Fehler, stieg die Risikokurve auch bei kleinen Alkoholmengen schon
an. Damit ist der Mythos, ein „bisschen“ Alkohol sei besser als Abstinenz,
definitiv vom Tisch.

Alkohol schädigt Nerven und Gehirn – die zugrunde liegenden Mechanismen
Bekannt ist, dass Alkohol süchtig machen kann, die Leber schädigt und auch
das Krebsrisiko erhöht. Aber kaum jemand spricht von den Folgen von
Alkohol auf die Nerven und das Gehirn. Wie sehr Alkohol die Nerven
schädigt, wird klar, wenn man betrunken ist: Man reagiert verlangsamt, hat
eine gestörte Koordination und später dann Erinnerungslücken. Dies gibt
bereits einen Vorgeschmack auf die potenziellen Langzeitschäden von
Alkohol für das Nervensystem. Die neurotoxische Wirkung von Alkohol wird
über verschiedene Wirkweisen vermittelt [3]:

- Thiaminmangel
Thiamin, auch bekannt als Vitamin B1, ist entscheidend für gesunde Nerven,
denn es wird zur Bildung von Nukleinsäuren und Neurotransmittern benötigt.
Der Körper ist nicht in der Lage, Thiamin selbst zu produzieren, es muss
mit der Nahrung aufgenommen werden. Alkoholabhängige Menschen sind oft
mangelernährt und nehmen per se zu wenig Thiamin auf [4]. Es gab sogar
schon Versuche, Thiamin dem Bier beizusetzen. Doch der Effekt ist gering,
denn Alkohol unterbindet die Thiaminaufnahme und -verwertung im Körper. So
gelingt die Aufnahme dieses B-Vitamins aus dem Darm nicht mehr, weil dafür
sowohl Energie als auch ein normaler pH-Wert benötigt wird [5, 6],
Letzterer ist bei Alkoholismus reduziert. Darüber hinaus behindert Alkohol
die Fähigkeit der Zellen, Thiamin zu verwerten. Die sogenannte
Thiaminpyrophosphokinase wird durch Alkohol gehemmt [7].

- Bildung von Acetaldehyd, einem Nervengift
Alkohol wird im Körper zu Acetaldehyd verstoffwechselt. Dieses
Abbauprodukt von Ethanol führt dosisabhängig zum Absterben von
Nervenzellen (neuronaler Zelltod). Chronischer Alkoholkonsum führt daher
zu neuronaler Degeneration [8].

- Neuroinflammation
Alkohol führt zur Entzündung von Nervengewebe. Er erhöht die Zahl
entzündungsfördernder Zytokine, die die Blut-Hirn-Schranke (BHS)
überwinden und Entzündungen im Gehirn verursachen können [9]. Auch
begünstigt er die Inflammation durch Verschiebung der
Neurotransmitterspiegel. So ist beispielsweise bekannt, dass Alkohol den
Glutamatspiegel über die Hemmung des N-Methyl-D-Aspartat (NMDA)-Rezeptors
erhöht [9]. Hohe Konzentrationen von Glutamat im Gehirn können
neurotoxisch wirken und neuronale Schäden verursachen. Alkohol kann auch
über die Aktivierung von Neuroimmunzellen (Mikroglia und Astrozyten)
direkt eine neuronale Entzündung auslösen, die einen weiteren
neurotoxischen Faktor darstellt [10].

- Lebervermittelte Schädigung der Gehirnzellen
Wenn es durch Alkoholmissbrauch zu einer Leberschädigung kommt, führen die
dann anfallenden neurotoxischen Substanzen wiederum zu einer
Gehirnschädigung („hepatische Enzephalopathie“). Damit ist das Gehirn auch
indirekt ein Opfer der organbedingten Alkoholschäden [11, 12].

Alkoholassoziierte Erkrankungen von Gehirn und Nerven
Häufig unterschätzt, weil im Krankheitsbild zunächst wenig „imposant“, ist
die Polyneuropathie. Sie entsteht durch Schädigung der peripheren Nerven
durch den Alkohol. Sie kann auch andere Gründe haben (z. B. Diabetes), bei
etwa jedem fünften Betroffenen ist sie allerdings alkoholbedingt.
Anfänglich äußert sie sich durch ein unangenehmes Kribbeln in den Beinen,
im Vollbild bringt sie Dauerschmerzen mit sich und beeinträchtigt die
Lebensqualität enorm. Viele Menschen mit Alkoholproblemen sind früher oder
später betroffen (Schätzungen zufolge zwischen 22 und 66 %).

Die neurologischen Folgekrankheiten und Syndrome eines erhöhten
Alkoholkonsums, die durch Schädigungen der Nervenzellen des zentralen
Nervensystems entstehen, ähneln den typischen Symptomen der Betrunkenheit,
sind allerdings dann chronisch. Beim Korsakow-Syndrom oder dem extrem
seltenen Marchiafava-Bignami-Syndrom beispielsweise nehmen die kognitiven
Fähigkeiten ab, es kommt zu Sprachstörungen, unkontrollierten Bewegungen –
und im Endstadium zu einer Demenz (siehe Beschreibung der Krankheitsbilder
im Anhang).

„Alles in allem kann man sagen, dass die neurologischen Langzeitfolgen des
Alkoholkonsums enorm sind. Sie treten oft nicht in Erscheinung, weil sie
natürlich zusammen mit anderen alkoholinduzierten Krankheiten auftreten,
die meistens als Todesursache im Vordergrund stehen. Verstirbt ein
Alkoholiker an einer Leberzirrhose, bleibt in den Köpfen hängen, dass
Alkohol die Leber schädigt, selbst wenn der Betroffene über viele Jahre
zuvor an einer Alkoholdemenz litt“, erklärt Prof. Frank Erbguth, Präsident
der Deutschen Hirnstiftung. „Unser Anliegen ist es deshalb, die Gefahren
des Alkohols auf Nerven und Gehirn bekannter zu machen – denn, um es
einmal plakativ auf den Punkt zu bringen: Ja, man kann sich tatsächlich
sein Gehirn wegsaufen.“

Veranstaltung der Deutschen Hirnstiftung auf dem DGN-Kongress:
Flyin’ high – Drogen und Gehirn
Donnerstag, 7. November 2024, 16:30–18:00 Uhr

[1] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-
von-a-z/a/alkohol

[2] Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. Das DHS Jahrbuch Sucht 2024.
Abrufbar unter: https://www.dhs.de/service/presse/pressemeldungen/meldung
/dhs-jahrbuch-sucht-2024-ist-ab-sofort-online-verfuegbar

[3] Nutt D, Hayes A, Fonville L, Zafar R, Palmer EOC, Paterson L,
Lingford-Hughes A. Alcohol and the Brain. Nutrients. 2021 Nov
4;13(11):3938. doi: 10.3390/nu13113938. PMID: 34836193; PMCID: PMC8625009.
[4] Thomson AD, Baker H, Leevy CM. Patterns of 35S-thiamine hydrochloride
absorption in the malnourished alcoholic patient. J Lab Clin Med. 1970
Jul;76(1):34-45. PMID: 4912963.
[5] Reidling JC, Said HM. Adaptive regulation of intestinal thiamin
uptake: molecular mechanism using wild-type and transgenic mice carrying
hTHTR-1 and -2 promoters. Am J Physiol Gastrointest Liver Physiol. 2005
Jun;288(6):G1127-34. doi: 10.1152/ajpgi.00539.2004. Epub 2005 Feb 10.
PMID: 15705657.
[6] Thomson AD, Marshall EJ. The natural history and pathophysiology of
Wernicke's Encephalopathy and Korsakoff's Psychosis. Alcohol Alcohol. 2006
Mar-Apr;41(2):151-8. doi: 10.1093/alcalc/agh249. Epub 2005 Dec 29. PMID:
16384871.
[7] Takeuchi M, Saito T. Cytotoxicity of acetaldehyde-derived advanced
glycation end-products (AA-AGE) in alcoholic-induced neuronal
degeneration. Alcohol Clin Exp Res. 2005 Dec;29(12 Suppl):220S-4S. doi:
10.1097/01.alc.0000190657.97988.c7. PMID: 16385226.
[8] He J, Crews FT. Increased MCP-1 and microglia in various regions of
the human alcoholic brain. Exp Neurol. 2008 Apr;210(2):349-58. doi:
10.1016/j.expneurol.2007.11.017. Epub 2007 Dec 3. PMID: 18190912; PMCID:
PMC2346541.
[9] Lovinger DM, White G, Weight FF. Ethanol inhibits NMDA-activated ion
current in hippocampal neurons. Science. 1989 Mar 31;243(4899):1721-4.
doi: 10.1126/science.2467382. PMID: 2467382.
[10] Crews FT, Sarkar DK, Qin L, Zou J, Boyadjieva N, Vetreno RP.
Neuroimmune Function and the Consequences of Alcohol Exposure. Alcohol
Res. 2015;37(2):331-41, 344-51. PMID: 26695754; PMCID: PMC4590627.
[11] Davis BC, Bajaj JS. Effects of Alcohol on the Brain in Cirrhosis:
Beyond Hepatic Encephalopathy. Alcohol Clin Exp Res. 2018
Apr;42(4):660-667. doi: 10.1111/acer.13605. Epub 2018 Feb 27. PMID:
29417604.
[12] Erbguth F, Lange R. Alkoholenzephalopathie. In: Diener HC, Steinmetz
H, Kastrup O. Referenz Neurologie. S. 1077-1081. Georg Thieme Verlag
Stuttgart.

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Alzheimer-Update: Stand der Antikörper-Zulassung

Mitte November wird das „Committee for Medicinal Products for Human Use“
(CHMP) der europäischen Arzneizulassungsbehörde EMA erneut über die
Zulassung von Lecanemab, dem dann ersten in Europa zugelassenen Antikörper
gegen Alzheimer, entscheiden. Die DGN befürwortet eine Zulassung, auch
wenn die Therapie nicht heilt, sondern lediglich das Fortschreiten der
Erkrankung verlangsamt. Mit der Zulassung würden die Tabuisierung von
Alzheimer und der Therapie-Nihilismus fallen. Gleichzeitig mahnt die
Fachgesellschaft: Wird Lecanemab zugelassen, werden auch strukturelle
Veränderungen notwendig, gerade im Bereich der Frühdiagnostik und
Patientenversorgung.

Warum befürwortet die DGN die Zulassung von Lecanemab?
Prof. Peter Berlit, Generalsekretär der DGN, führt aus: „Die Betroffenen
warten dringend auf eine Therapieoption und für diejenigen, für die diese
Behandlung infrage kommt, ist sie eine große Chance. Sie hemmt die
Progression um etwa ein Drittel und es macht einen großen Unterschied, ob
ich als Betroffener ein oder eineinhalb Jahre im Frühstadium der
Erkrankung verbleibe, wie es die Zulassungsstudien gezeigt haben. Wir
reden hier über ein geschenktes halbes Jahr bei noch guter Lebensqualität.
Wir denken daher, dass man nach gemeinsamer Abwägung des individuellen
Nutzen-Risiko-Profils Betroffenen den Zugang zu dieser Therapie nicht
verwehren darf.“

Hinzu komme, dass diese Therapie bereits in den USA, UK und vielen anderen
Ländern verfügbar ist. „Patientinnen und Patienten mit den nötigen
finanziellen Mitteln lassen sich im Ausland behandeln oder sie beziehen
die Medikamente über die internationale Apotheke und bekommen sie in
Deutschland verabreicht. Das macht Gesundheit zu einer sozioökonomischen
Frage, das können wir als Fachgesellschaft nicht gutheißen.“

Darüber hinaus sieht der DGN-Experte auch den Forschungsstandort
Deutschland ausgebremst: Im Gegensatz zu den Ländern, die Alzheimer-
Antikörper zugelassen haben, könnten in Deutschland keine Real-World-Daten
erhoben und Erfahrungen gesammelt werden. Das benachteilige die deutsche
Alzheimer-Forschung.

Berlit glaubt darüber hinaus, dass eine Zulassung von Amyloid-Antikörpern
auch helfen würde, bestehende Tabus abzubauen. Warum? „Weil die neuen
Therapien nur in den Frühstadien der Erkrankung wirksam sind. Das
bedeutet, dass die Menschen medial und durch Aufklärungskampagnen für
erste Krankheitsanzeichen sensibilisiert werden müssen, damit sie das
Zeitfenster der Therapie nicht verpassen. Und in dem Moment, wo man über
etwas redet, fallen Tabus.“ Auch Krebs war früher, vor 50 bis 60 Jahren,
sehr stark tabuisiert. Erst die Arbeit der Deutschen Krebshilfe, das
Darstellen von Therapiefortschritten in der Öffentlichkeit und das
Schaffen von Früherkennungsmöglichkeiten habe die Erkrankung
enttabuisiert. „Das müssen wir mit Demenzerkrankungen auch schaffen. Jedes
Jahr erkranken in Deutschland 400.000 Menschen an einer Demenz – das sind
fast so viele, wie an Krebs erkranken – und diese Menschen müssen nicht
nur damit zurechtkommen, dass sie unter einer Krankheit mit infauster
Prognose leiden, sondern auch damit, dass die Erkrankung stigmatisiert und
verdrängt wird.“

Die Zulassung einer Therapie würde dazu führen, dass die Diagnose
Alzheimer nicht länger dem diagnostischen Nihilismus zum Opfer falle, der
jetzt oft noch herrsche. Ärztinnen und Ärzte nähmen erste Symptome eben
nicht zum Anlass für eine weiterführende Diagnostik – einfach, weil
kausale Therapien noch fehlen. „Kein Arzt würde hingegen Symptome einer
bislang noch unheilbaren Krebskrankheit ignorieren und nicht weiter
abklären, bloß weil es keine Chance auf Heilung gibt. Dieser Diagnose- und
Therapie-Nihilismus zeigt eigentlich deutlich, wie stark
Demenzerkrankungen auch in der Ärzteschaft noch mit Tabus belegt sind.“
Nun gebe es aber wahrscheinlich bald in Deutschland eine Therapie, die das
Fortschreiten der Alzheimer-Krankheit um 30 % vermindert – das sei mehr,
als viele Krebstherapien leisteten – und zu einem Umdenken führen wird.
„Wenn nun Symptome wie Vergesslichkeit auffällig werden, hat man etwas in
der Hand und sollte mit den Betroffenen Aufklärungsgespräche führen, sie
über mögliche Diagnosen und Therapiemöglichkeiten informieren und dann
fragen, ob sie eine weiterführende Diagnostik wünschen.“

Besonders wichtig sei dabei, dass mit dem Abbau der Tabus auch
Präventionsmaßnahmen stärker wahrgenommen, kommuniziert und umgesetzt
würden: Bislang sind 14 Risikofaktoren für Demenz bekannt, die prinzipiell
modifizierbar sind und durch medizinische Vorsorge und gesunde
Lebensgewohnheiten zum Teil persönlich beeinflusst werden können. Dazu
gehören unter anderem Bluthochdruck, Übergewicht, Diabetes, Sehstörungen,
Schwerhörigkeit, Fettstoffwechselstörungen und soziale Isolation. Bei
Beseitigung aller 14 Risiken wären rund 45 Prozent aller
Demenzerkrankungen vermeidbar – oder könnten zumindest deutlich
hinausgezögert werden [1]. Und relevante Effekte seien auch noch im
Stadium der leichten kognitiven Störung durch entsprechende Maßnahmen zu
erwarten.

Welche strukturellen Änderungen erfordert die Zulassung von Lecanemab?
Prof. Peter Berlit führt aus, dass die Zulassung von Amyloid-Antikörpern
auch Herausforderungen für das Gesundheitssystem mit sich bringe.

Die Frühdiagnostik müsse ausgebaut werden. Wohin wenden sich Betroffene
mit einem Anfangsverdacht? Anhand welcher Tests wird entschieden, ob eine
weiterführende Diagnostik auf Alzheimer erforderlich ist? Derzeit gibt es
noch keinen zugelassenen Bluttest auf Alzheimer, der in der Breite
angewendet werden könnte. Daher muss das mittels Lumbalpunktion gewonnene
Nervenwasser auf bestimmte Biomarker, erniedrigtes Beta-Amyloid-42 oder
erhöhtes Phospho-Tau 181, hin untersucht werden. Alternativ kann eine
Bildgebungsuntersuchung, eine sog. Amyloid-Positronen-Emissions-
Tomographie (Amyloid-PET), durchgeführt werden. Diese Untersuchung ist im
Gegensatz zur Lumbalpunktion nicht invasiv, aber sehr aufwendig, mit
Strahlenbelastung verbunden und steht nur in begrenztem Umfang zur
Verfügung. „Es ist erforderlich, einen klugen Diagnosepfad zu definieren
und zu implementieren, damit alle Betroffenen, die es wünschen, auch
rechtzeitig eine gesicherte Diagnose erhalten und der Antikörper-Therapie
zugeführt werden können. Dafür ist ein Ausbau der Kapazitäten für die
Liquordiagnostik und die Amyloid-PET notwendig.“

Fachärztliche Kapazitäten und eine spezialisierte MR-Bildgebung seien auch
erforderlich, damit dann nachfolgend die Infusionstherapie und ihre
Überwachung sachgerecht erfolgen können. Das fange mit dem Ausbau von
überwachten Infusionsplätzen an, gehe über die fachärztliche Beratung und
Betreuung während des Krankheitsverlaufs bis hin zum Ausbau von
Kapazitäten für erforderliche Begleitdiagnostik (spezielle MRT-
Untersuchungen) und Begleittherapien (Kognitionstraining,
Bewegungstherapie). „Die Diagnose Alzheimer erfordert auch eine
psychologische Betreuung. Die Betroffenen müssen nach dieser
lebensverändernden Diagnose aufgefangen werden. Bei Krebspatientinnen und
-patienten hat sich mittlerweile eine psychoonkologische Beratung
etabliert. Eine solche psychologische Begleitung muss auch Menschen mit
Demenzerkrankungen zustehen.“ Hier müssten zügig entsprechende Strukturen
geschaffen werden.

Können wir uns die Alzheimer-Antikörper leisten?
„Wir müssen sie uns leisten, wenn wir alle Patientinnen und Patienten
gleich behandeln möchten. Wenn eine Therapie ein halbes Jahr Leben bei
guter Qualität schenkt, können wir doch nicht sagen, der Mensch mit Krebs
oder Herzinfarkt erhält sie, der mit Alzheimer aber nicht“, erklärt Prof.
Berlit. Auch seien die eigentlichen Therapiekosten im Vergleich zu anderen
modernen Antikörpertherapien z. B. gegen MS oder Krebs nicht teurer und
die Alzheimer-Antikörper wiesen somit eine gute Effizienz auf [2].

„Um die Behandlung für das System stemmbar zu machen, ist allerdings eine
gute Selektion der Patientinnen und Patienten erforderlich“, sagt der
Experte. Bei Weitem nicht jede/jeder Betroffene komme für die Therapie
infrage: Die Diagnose muss im Frühstadium gestellt worden sein und es muss
eine Alzheimer-Pathologie vorliegen, denn bei anderen Demenzerkrankungen
oder späten Stadien hilft die Behandlung nicht. Da die Antikörper im
Gehirn zu Blutungen führen können, kommen Betroffene mit einer
Blutungsproblematik, schlecht eingestelltem Bluthochdruck oder der
Notwendigkeit einer Antikoagulation für diese Therapie (wahrscheinlich)
nicht infrage. Auch sollte kein hohes Schlaganfallrisiko bestehen, da bei
Menschen, die die Amyloid-Antikörper nehmen, im Bedarfsfall keine
Schlaganfalltherapie mittels Thrombolyse durchgeführt werden kann. „Wir
gehen davon aus, dass letztlich nur etwa 15–20 % der Betroffenen überhaupt
für Lecanemab infrage kommen. Damit stellt sich auch die Kostenfrage
anders dar als in anfänglichen Hochrechnungen [4]. Dennoch: Der Ausbau der
Diagnostik und Versorgung wird kosten. Aber wenn die modernen Therapien
die Krankheitsprogression um 30 % aufhalten und dies womöglich auch über
einen längeren Zeitraum als die 18 Monate, die in den Studien getestet
wurden, könnten diese Menschen entsprechend länger selbstständig leben.
Und dies muss man volkswirtschaftlich gegen die Therapiekosten rechnen.“

[1] Livingston G, Huntley J, Liu KY et al. Dementia prevention,
intervention, and care: 2024 report of the Lancet standing Commission.
Lancet. 2024 Aug 10;404(10452):572-628. doi:
10.1016/S0140-6736(24)01296-0. Epub 2024 Jul 31. PMID: 39096926.
[2] Jicha GA, Abner EL, Coskun EP, Huffmyer MJ, Tucker TC, Nelson PT.
Perspectives on the clinical use of anti-amyloid therapy for the treatment
of Alzheimer's disease: Insights from the fields of cancer, rheumatology,
and neurology. Alzheimers Dement (N Y). 2024 Sep 18;10(3):e12500. doi:
10.1002/trc2.12500. PMID: 39296920; PMCID: PMC11409193.
[3] Jönsson L, Wimo A, Handels R, Johansson G, Boada M, Engelborghs S,
Frölich L, Jessen F, Kehoe PG, Kramberger M, de Mendonςa A, Ousset PJ,
Scarmeas N, Visser PJ, Waldemar G, Winblad B. The affordability of
lecanemab, an amyloid-targeting therapy for Alzheimer's disease: an EADC-
EC viewpoint. Lancet Reg Health Eur. 2023 May 22;29:100657. doi:
10.1016/j.lanepe.2023.100657. PMID: 37251789; PMCID: PMC10220264.

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Social Media und Gehirn: „Good Guy“ oder „Bad Guy“?

Social Media stehen im Ruf, Nutzende zu „verdummen“ oder sogar krank zu
machen. Die Datenlage ist noch dünn, zeigt aber: Die Gefahren scheinen
überschaubar zu sein. Richtig eingesetzt, kann die Nutzung sozialer Medien
sogar „Verschaltungen“ im Gehirn fördern. Im alltäglichen Gebrauch sollten
dafür allerdings Tracker möglichst abgeschaltet werden. Medienkompetenz
kann also auch eine Maßnahme für die Hirngesundheit sein.

Welche gesundheitlichen Gefährdungen gehen von den sozialen Medien aus?
Ein Extrembeispiel: 2019 kam es in Deutschland zu einem Ausbruch einer
durch soziale Medien ausgelösten soziogenen Erkrankung („mass social
media-induced illness“; MSMI) mit funktionellem Tourette-ähnlichem
Verhalten. In ihrem Beitrag „The tic in TikTok“ [1] beschrieb Andrea
Giedinghagen von der St. Louis School of Medicine, USA, das Phänomen, dass
Jugendliche, die durch das Betrachten von krankheitsbezogenen Inhalten,
die von Influencern in sozialen Medien gepostet wurden, selbst diese
Symptome entwickelten, z. T. deswegen klinisch vorstellig wurden oder sich
in den sozialen Medien als Betroffene „outeten“. Zu den häufigsten
reproduzierten Krankheiten gehören die dissoziative Identitätsstörung und
das Tourette-Syndrom. Giedinghagen vermutet, dass neu auftretende Tics
durch soziale Netzwerke begünstigt werden können, und führt zwei
Hypothesen an: Die Betroffenen könnten ein Konversionsphänomen aufweisen
oder an einer durch die sozialen Medien unterstützten artifiziellen
Störung leiden (Münchhausen-Syndrom). Zwischen 2019 und 2021 [2] hatten 86
Menschen in Deutschland berichtet, dass sie oder eines ihrer
Familienmitglieder unter neuen Bewegungen oder Lautäußerungen mit abruptem
Beginn und/oder Tourette-ähnlichen Symptomen („functional Tourette-like
behavior“, FTB) litten. Die Menschen wurden von geschulten
Interviewerinnen und Interviewern besucht mit dem Ergebnis, dass
wahrscheinlich 33 der 86 von MSMI-FTB betroffen waren (das
Durchschnittsalter betrug 30,5 Jahre). US-amerikanische Daten [3] zeigen,
dass sich die Zahl funktioneller Tic-ähnlicher Störungen während der
COVID-19-Pandemie um 60 % erhöht hat (um 90 % bei Kindern und
Jugendlichen, um 51 % bei Erwachsenen). Forschende aus UK und der Schweiz
kommen in einem umfassenden Review [4] zu dem Schluss, dass die Ätiologie
wahrscheinlich multifaktoriell ist und sowohl die psychische Belastung
durch die Pandemie als auch die erhöhte Social-Media-Aktivität eine Rolle
gespielt haben könnten.

Dieses „spektakuläre“ Beispiel, dass Menschen sich in den sozialen Medien
mit Tourette „anstecken“, wird immer gern angeführt, wenn es um
Gesundheitsgefahren geht, die von Social Media ausgehen könnten. Auch wenn
während der Pandemie ein Anstieg zu beobachten war, bleibt zu
konstatieren: Die absoluten Fallzahlen waren und sind gering. „Das ist
nichts, was die Neurologie sorgenvoll stimmt“, erklärt Prof. Dr. Lars
Timmermann, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie.
„Funktionelle neurologische Störungen, also Symptome, bei denen keine
körperlichen Ursachen auszumachen sind, werden bei etwa 15 % der
Vorstellungen in neurologischen Sprechstunden diagnostiziert. Die Symptome
sind aber weder vorgetäuscht noch eingebildet, die Betroffenen bedürfen
einer gezielten Behandlung. Funktionelle Störungen – wir vergleichen sie
gern mit Software-Problemen, während somatische Krankheiten Hardware-
Fehler sind – gab es bereits vor Social Media, wir sehen in den Kliniken
und Praxen derzeit keinen überproportionalen Anstieg.“

Doch auch neuropsychiatrische Auswirkungen des (sozialen) Medienkonsums
werden berichtet. Eine aktuell in BMC publizierte Arbeit [5] kam zu den
Ergebnis, dass lange Bildschirmzeiten bei Kindern mit Störungen wie Angst,
Somatisierung und vor allem Depression assoziiert waren, allerdings mit
einer eher geringen Effektstärke („effect sizes are small“). Auch kann es
zu Schlafstörungen kommen: Eine intensive Social-Media-Nutzung ist laut
einer aktuellen kanadischen Auswertung [6] von über 12.000 Jugendlichen im
Alter von 11 bis 17 Jahren mit einer schlechten Schlafqualität und
Anzeichen von Schlafstörungen verbunden. „Das ist ein Aspekt, den wir im
Blick behalten müssen, denn wir wissen, dass Schlaf gerade auch für die
lebenslange Hirngesundheit enorm wichtig ist“, erklärt Prof. Timmermann.

Welcher gesundheitliche Mehrwert geht von den sozialen Medien aus?
Was bei der Diskussion nicht vergessen werden darf: Social Media können
umgekehrt auch Impulse für einen gesunden Lebensstil setzen, insbesondere
durch Anregungen zu einer gesünderen Ernährung, mehr Bewegung und
„Physical Fitness“, und damit die Hirngesundheit fördern: So konnten
„Influencer“ während der Corona-Pandemie Menschen zu körperlicher
Aktivität und Sport animieren, die sonst diesen Aktivitäten ferngeblieben
wären oder zumindest sich deutlich weniger bewegt hätten [7]. (Die BZgA
befasst sich damit, wie Gesundheitsförderung mit digitalen Medien aussehen
kann [8].)

Was machen Social Media mit unseren Gehirnen?
In einer koreanischen Studie wurde die Hirnkonnektivität bei 39 jungen
Erwachsenen mit problematischem Social-Media-Gebrauch und 39 gesunden
Kontrollen mithilfe von funktioneller MRT im Ruhezustand untersucht. Die
Arbeitsgruppe fand bei den Patientinnen und Patienten mit problematisch
hoher Social-Media-Aktivität zwar eine engere Verbindung zwischen der
Sehrinde und der intraparietalen Hirnrinde, dagegen eine geschwächte
Verbindung zwischen diesen Arealen und den Arealen für soziale Einordnung
und „emotional-kognitive Wertung“, dem dorsolateralen präfrontalen Kortex.
Diese Verbindung war umso schwächer, je stärker die Social-Media-Sucht
ausgeprägt war [9].

Eine aktuell in „Scientific Report“, einem Journal der „Nature“-Gruppe,
erschienene Arbeit [10] untersuchte Kinder im Alter von 8 bis 12 Jahren,
die pro Tag im Durchschnitt 4 Stunden und 44 Minuten mit digitalen Medien
verbrachten. Wie beobachtet wurde, führte eine intensive Nutzung der
sozialen Medien zu einer Entwicklungsverzögerung des Kleinhirns. Das
Kleinhirnvolumen war bei den Kindern, die sich viel in den sozialen Medien
bewegten, minimal kleiner. „Das ist eine Einzelstudie und eine
Momentaufnahme, eventuell holen die Betroffenen in der Pubertät auf. Der
Unterschied war zudem geringfügig, auch ist er per se kein pathologischer
Befund“, konstatiert Timmermann. Interessant sei, dass eher Veränderungen
in anderen Hirnregionen erwartet wurden: in der Hirnrinde (Cortex cerebri,
u. a. verantwortlich für Sinneswahrnehmungen, Lesen, Sprechen,
Bewusstsein, Denken) und im Striatum, das an der Kognition, an
Motivationsvorgängen und am Belohnungssystem beteiligt ist. Stattdessen
fand sich der Unterschied im Kleinhirn, der „Kontrollinstanz“ für die
Koordination und Feinabstimmung von Bewegungsabläufen. „Hier könnte sich
womöglich der Kreis zu der beobachteten Zunahme von funktionellen
Bewegungsstörungen und Tics schließen“, gibt Prof. Timmermann zu bedenken.

Wie der Experte weiter ausführt, seien aber hirnvolumetrische und
hirnmorphologische Veränderungen jenseits von veränderten funktionellen
Verbindungen generell wohl weniger ein Problem. Acht geben sollte man
seiner Meinung nach hingegen auf die neuronale Plastizität. In Bezug auf
diese können Social Media ein „Good Guy“, aber auch ein „Bad Guy“ sein –
je nach Nutzungsverhalten. „Die Forschung steht hier noch ganz am Anfang,
aber es gibt bereits erste Studien, die letztlich das widerspiegeln, was
physiologisch erwartbar ist bzw. auch aus neurowissenschaftlicher Sicht
auf der Hand liegt“, so der Experte. Eine chinesische Arbeitsgruppe [11]
konnte zeigen, dass die Social-Media-Nutzung die funktionelle
Konnektivität erhöht, sie verglich gelegentliche Nutzerinnen und Nutzer
und häufige Nutzerinnen und Nutzer und „verordnete“ den gelegentlichen
Nutzerinnen und Nutzern über vier Wochen einen intensiven Konsum sozialer
Medien. Alle erhielten vorher und nachher ein funktionelles MRT und es
zeigte sich, dass die Phase der intensiven Nutzung die funktionelle
Konnektivität, die Interaktion zwischen den Hirnregionen, verstärkt hatte.
Erklärt wird dieses mit der Vielfalt der Stimuli durch die sozialen
Medien, die akustischer, visueller und emotionaler Natur sind, hinzu
kommen Aktivierungen des Belohnungssystems und der Aufmerksamkeit. „Das
Gehirn wird gefordert und gefördert.“ Gerade bei Jugendlichen und jüngeren
Erwachsenen ist die Abhängigkeit von Feedback aus der „Peergroup“
besonders ausgeprägt, was sich auch in einer höheren Hirnaktivität als
Reaktion auf soziales Feedback widerspiegelt [12].

Filterblasen führen zu weniger Stimuli beim Ausbau der Plastizität,
Emotion hebelt Kognition aus
Altbekannt ist, dass neue geistige Herausforderungen und Reize die
Plastizität des Gehirns fördern. Das ist sogar schon in den Sprachgebrauch
eingegangen: Menschen, die sich mit neuen Gedanken und gegenläufigen
Meinungen auseinandersetzen, gelten als „geistig beweglich“. Das Besondere
an den sozialen Medien ist aber, dass sie Informationen passgenau auf die
einzelne Nutzerin/den einzelnen Nutzer abstimmen und sie filtern. Die
Menschen bekommen nur das präsentiert, was sie kennen und mögen, im
Endeffekt halten Algorithmen das Gehirn von gegenläufigen Meinungen und
anderen Erfahrungswelten fern und geben dann wenig Stimuli für die
neuronale Plastizität. „Das sollte uns bei der Nutzung der sozialen Medien
bewusst sein und man ist gut beraten, Social Tracker weitgehend zu
blockieren“, meint Prof. Timmermann.

Einen weiteren „Pitfall“ der sozialen Medien sieht er in der Tatsache,
dass in den sozialen Medien häufig mit Emotion statt mit Information
gearbeitet wird. „Emotionen entstehen im limbischen System, das nicht dem
Bewusstsein untergeordnet ist. Jeder, der schon einmal eine Panikattacke
erlebt hat, weiß, dass Angst die Ratio komplett ausschalten kann.“ Es gibt
mehrere Publikationen [13, 14] der Berlin School of Mind and Brain der
Humboldt-Universität Berlin, die zeigen, dass emotionale Inhalte die
Anfälligkeit für Desinformation und Fake News erhöhen und die Fähigkeit,
die Seriosität einer Quelle zu prüfen und kritisch einzubeziehen,
heruntersetzen.

Zusammengefasst, so Timmermann, seien die sozialen Medien weder ein „Good
Guy“ noch ein „Bad Guy“. Richtig angewendet, machen sie weder krank noch
„dumm“, sie können sogar die funktionelle Konnektivität und Plastizität
erhöhen. Dieses Potenzial kann therapeutisch genutzt werden, es laufen
bereits erste Untersuchungen, wie mit Virtual Reality und Brain-Computer-
Interfaces die neuronale Plastizität gezielt gefördert werden kann [15].
Solche Interventionen könnten Menschen nach Schlaganfällen, traumatischen
Hirnverletzungen oder mit neurodegenerativen Erkrankungen helfen,
spezifische Defizite zu beheben.

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