Social Media und Gehirn: „Good Guy“ oder „Bad Guy“?
Social Media stehen im Ruf, Nutzende zu „verdummen“ oder sogar krank zu
machen. Die Datenlage ist noch dünn, zeigt aber: Die Gefahren scheinen
überschaubar zu sein. Richtig eingesetzt, kann die Nutzung sozialer Medien
sogar „Verschaltungen“ im Gehirn fördern. Im alltäglichen Gebrauch sollten
dafür allerdings Tracker möglichst abgeschaltet werden. Medienkompetenz
kann also auch eine Maßnahme für die Hirngesundheit sein.
Welche gesundheitlichen Gefährdungen gehen von den sozialen Medien aus?
Ein Extrembeispiel: 2019 kam es in Deutschland zu einem Ausbruch einer
durch soziale Medien ausgelösten soziogenen Erkrankung („mass social
media-induced illness“; MSMI) mit funktionellem Tourette-ähnlichem
Verhalten. In ihrem Beitrag „The tic in TikTok“ [1] beschrieb Andrea
Giedinghagen von der St. Louis School of Medicine, USA, das Phänomen, dass
Jugendliche, die durch das Betrachten von krankheitsbezogenen Inhalten,
die von Influencern in sozialen Medien gepostet wurden, selbst diese
Symptome entwickelten, z. T. deswegen klinisch vorstellig wurden oder sich
in den sozialen Medien als Betroffene „outeten“. Zu den häufigsten
reproduzierten Krankheiten gehören die dissoziative Identitätsstörung und
das Tourette-Syndrom. Giedinghagen vermutet, dass neu auftretende Tics
durch soziale Netzwerke begünstigt werden können, und führt zwei
Hypothesen an: Die Betroffenen könnten ein Konversionsphänomen aufweisen
oder an einer durch die sozialen Medien unterstützten artifiziellen
Störung leiden (Münchhausen-Syndrom). Zwischen 2019 und 2021 [2] hatten 86
Menschen in Deutschland berichtet, dass sie oder eines ihrer
Familienmitglieder unter neuen Bewegungen oder Lautäußerungen mit abruptem
Beginn und/oder Tourette-ähnlichen Symptomen („functional Tourette-like
behavior“, FTB) litten. Die Menschen wurden von geschulten
Interviewerinnen und Interviewern besucht mit dem Ergebnis, dass
wahrscheinlich 33 der 86 von MSMI-FTB betroffen waren (das
Durchschnittsalter betrug 30,5 Jahre). US-amerikanische Daten [3] zeigen,
dass sich die Zahl funktioneller Tic-ähnlicher Störungen während der
COVID-19-Pandemie um 60 % erhöht hat (um 90 % bei Kindern und
Jugendlichen, um 51 % bei Erwachsenen). Forschende aus UK und der Schweiz
kommen in einem umfassenden Review [4] zu dem Schluss, dass die Ätiologie
wahrscheinlich multifaktoriell ist und sowohl die psychische Belastung
durch die Pandemie als auch die erhöhte Social-Media-Aktivität eine Rolle
gespielt haben könnten.
Dieses „spektakuläre“ Beispiel, dass Menschen sich in den sozialen Medien
mit Tourette „anstecken“, wird immer gern angeführt, wenn es um
Gesundheitsgefahren geht, die von Social Media ausgehen könnten. Auch wenn
während der Pandemie ein Anstieg zu beobachten war, bleibt zu
konstatieren: Die absoluten Fallzahlen waren und sind gering. „Das ist
nichts, was die Neurologie sorgenvoll stimmt“, erklärt Prof. Dr. Lars
Timmermann, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie.
„Funktionelle neurologische Störungen, also Symptome, bei denen keine
körperlichen Ursachen auszumachen sind, werden bei etwa 15 % der
Vorstellungen in neurologischen Sprechstunden diagnostiziert. Die Symptome
sind aber weder vorgetäuscht noch eingebildet, die Betroffenen bedürfen
einer gezielten Behandlung. Funktionelle Störungen – wir vergleichen sie
gern mit Software-Problemen, während somatische Krankheiten Hardware-
Fehler sind – gab es bereits vor Social Media, wir sehen in den Kliniken
und Praxen derzeit keinen überproportionalen Anstieg.“
Doch auch neuropsychiatrische Auswirkungen des (sozialen) Medienkonsums
werden berichtet. Eine aktuell in BMC publizierte Arbeit [5] kam zu den
Ergebnis, dass lange Bildschirmzeiten bei Kindern mit Störungen wie Angst,
Somatisierung und vor allem Depression assoziiert waren, allerdings mit
einer eher geringen Effektstärke („effect sizes are small“). Auch kann es
zu Schlafstörungen kommen: Eine intensive Social-Media-Nutzung ist laut
einer aktuellen kanadischen Auswertung [6] von über 12.000 Jugendlichen im
Alter von 11 bis 17 Jahren mit einer schlechten Schlafqualität und
Anzeichen von Schlafstörungen verbunden. „Das ist ein Aspekt, den wir im
Blick behalten müssen, denn wir wissen, dass Schlaf gerade auch für die
lebenslange Hirngesundheit enorm wichtig ist“, erklärt Prof. Timmermann.
Welcher gesundheitliche Mehrwert geht von den sozialen Medien aus?
Was bei der Diskussion nicht vergessen werden darf: Social Media können
umgekehrt auch Impulse für einen gesunden Lebensstil setzen, insbesondere
durch Anregungen zu einer gesünderen Ernährung, mehr Bewegung und
„Physical Fitness“, und damit die Hirngesundheit fördern: So konnten
„Influencer“ während der Corona-Pandemie Menschen zu körperlicher
Aktivität und Sport animieren, die sonst diesen Aktivitäten ferngeblieben
wären oder zumindest sich deutlich weniger bewegt hätten [7]. (Die BZgA
befasst sich damit, wie Gesundheitsförderung mit digitalen Medien aussehen
kann [8].)
Was machen Social Media mit unseren Gehirnen?
In einer koreanischen Studie wurde die Hirnkonnektivität bei 39 jungen
Erwachsenen mit problematischem Social-Media-Gebrauch und 39 gesunden
Kontrollen mithilfe von funktioneller MRT im Ruhezustand untersucht. Die
Arbeitsgruppe fand bei den Patientinnen und Patienten mit problematisch
hoher Social-Media-Aktivität zwar eine engere Verbindung zwischen der
Sehrinde und der intraparietalen Hirnrinde, dagegen eine geschwächte
Verbindung zwischen diesen Arealen und den Arealen für soziale Einordnung
und „emotional-kognitive Wertung“, dem dorsolateralen präfrontalen Kortex.
Diese Verbindung war umso schwächer, je stärker die Social-Media-Sucht
ausgeprägt war [9].
Eine aktuell in „Scientific Report“, einem Journal der „Nature“-Gruppe,
erschienene Arbeit [10] untersuchte Kinder im Alter von 8 bis 12 Jahren,
die pro Tag im Durchschnitt 4 Stunden und 44 Minuten mit digitalen Medien
verbrachten. Wie beobachtet wurde, führte eine intensive Nutzung der
sozialen Medien zu einer Entwicklungsverzögerung des Kleinhirns. Das
Kleinhirnvolumen war bei den Kindern, die sich viel in den sozialen Medien
bewegten, minimal kleiner. „Das ist eine Einzelstudie und eine
Momentaufnahme, eventuell holen die Betroffenen in der Pubertät auf. Der
Unterschied war zudem geringfügig, auch ist er per se kein pathologischer
Befund“, konstatiert Timmermann. Interessant sei, dass eher Veränderungen
in anderen Hirnregionen erwartet wurden: in der Hirnrinde (Cortex cerebri,
u. a. verantwortlich für Sinneswahrnehmungen, Lesen, Sprechen,
Bewusstsein, Denken) und im Striatum, das an der Kognition, an
Motivationsvorgängen und am Belohnungssystem beteiligt ist. Stattdessen
fand sich der Unterschied im Kleinhirn, der „Kontrollinstanz“ für die
Koordination und Feinabstimmung von Bewegungsabläufen. „Hier könnte sich
womöglich der Kreis zu der beobachteten Zunahme von funktionellen
Bewegungsstörungen und Tics schließen“, gibt Prof. Timmermann zu bedenken.
Wie der Experte weiter ausführt, seien aber hirnvolumetrische und
hirnmorphologische Veränderungen jenseits von veränderten funktionellen
Verbindungen generell wohl weniger ein Problem. Acht geben sollte man
seiner Meinung nach hingegen auf die neuronale Plastizität. In Bezug auf
diese können Social Media ein „Good Guy“, aber auch ein „Bad Guy“ sein –
je nach Nutzungsverhalten. „Die Forschung steht hier noch ganz am Anfang,
aber es gibt bereits erste Studien, die letztlich das widerspiegeln, was
physiologisch erwartbar ist bzw. auch aus neurowissenschaftlicher Sicht
auf der Hand liegt“, so der Experte. Eine chinesische Arbeitsgruppe [11]
konnte zeigen, dass die Social-Media-Nutzung die funktionelle
Konnektivität erhöht, sie verglich gelegentliche Nutzerinnen und Nutzer
und häufige Nutzerinnen und Nutzer und „verordnete“ den gelegentlichen
Nutzerinnen und Nutzern über vier Wochen einen intensiven Konsum sozialer
Medien. Alle erhielten vorher und nachher ein funktionelles MRT und es
zeigte sich, dass die Phase der intensiven Nutzung die funktionelle
Konnektivität, die Interaktion zwischen den Hirnregionen, verstärkt hatte.
Erklärt wird dieses mit der Vielfalt der Stimuli durch die sozialen
Medien, die akustischer, visueller und emotionaler Natur sind, hinzu
kommen Aktivierungen des Belohnungssystems und der Aufmerksamkeit. „Das
Gehirn wird gefordert und gefördert.“ Gerade bei Jugendlichen und jüngeren
Erwachsenen ist die Abhängigkeit von Feedback aus der „Peergroup“
besonders ausgeprägt, was sich auch in einer höheren Hirnaktivität als
Reaktion auf soziales Feedback widerspiegelt [12].
Filterblasen führen zu weniger Stimuli beim Ausbau der Plastizität,
Emotion hebelt Kognition aus
Altbekannt ist, dass neue geistige Herausforderungen und Reize die
Plastizität des Gehirns fördern. Das ist sogar schon in den Sprachgebrauch
eingegangen: Menschen, die sich mit neuen Gedanken und gegenläufigen
Meinungen auseinandersetzen, gelten als „geistig beweglich“. Das Besondere
an den sozialen Medien ist aber, dass sie Informationen passgenau auf die
einzelne Nutzerin/den einzelnen Nutzer abstimmen und sie filtern. Die
Menschen bekommen nur das präsentiert, was sie kennen und mögen, im
Endeffekt halten Algorithmen das Gehirn von gegenläufigen Meinungen und
anderen Erfahrungswelten fern und geben dann wenig Stimuli für die
neuronale Plastizität. „Das sollte uns bei der Nutzung der sozialen Medien
bewusst sein und man ist gut beraten, Social Tracker weitgehend zu
blockieren“, meint Prof. Timmermann.
Einen weiteren „Pitfall“ der sozialen Medien sieht er in der Tatsache,
dass in den sozialen Medien häufig mit Emotion statt mit Information
gearbeitet wird. „Emotionen entstehen im limbischen System, das nicht dem
Bewusstsein untergeordnet ist. Jeder, der schon einmal eine Panikattacke
erlebt hat, weiß, dass Angst die Ratio komplett ausschalten kann.“ Es gibt
mehrere Publikationen [13, 14] der Berlin School of Mind and Brain der
Humboldt-Universität Berlin, die zeigen, dass emotionale Inhalte die
Anfälligkeit für Desinformation und Fake News erhöhen und die Fähigkeit,
die Seriosität einer Quelle zu prüfen und kritisch einzubeziehen,
heruntersetzen.
Zusammengefasst, so Timmermann, seien die sozialen Medien weder ein „Good
Guy“ noch ein „Bad Guy“. Richtig angewendet, machen sie weder krank noch
„dumm“, sie können sogar die funktionelle Konnektivität und Plastizität
erhöhen. Dieses Potenzial kann therapeutisch genutzt werden, es laufen
bereits erste Untersuchungen, wie mit Virtual Reality und Brain-Computer-
Interfaces die neuronale Plastizität gezielt gefördert werden kann [15].
Solche Interventionen könnten Menschen nach Schlaganfällen, traumatischen
Hirnverletzungen oder mit neurodegenerativen Erkrankungen helfen,
spezifische Defizite zu beheben.
[1] Giedinghagen A. The tic in TikTok and (where) all systems go: Mass
social media induced illness and Munchausen's by internet as explanatory
models for social media associated abnormal illness behavior. Clin Child
Psychol Psychiatry. 2023 Jan;28(1):270-278. doi:
10.1177/13591045221098522. Epub 2022 Apr 27. PMID: 35473358.
[2] Hartung K, Klages C, Fremer C, Pisarenko A, Haas M, Jakubovski E,
Szejko N, Brandt V, Müller-Vahl KR. Prevalence of mass social media-
induced illness presenting with Tourette-like behavior in Germany between
2019 and 2021. J Psychiatr Res. 2024 Sep;177:234-238. doi:
10.1016/j.jpsychires.2024.07.0
[3] Hull M, Parnes M, Jankovic J. Increased Incidence of Functional
(Psychogenic) Movement Disorders in Children and Adults Amid the COVID-19
Pandemic: A Cross-sectional Study. Neurol Clin Pract. 2021
Oct;11(5):e686-e690. doi: 10.1212/CPJ.0000000000001082. PMID: 34840884;
PMCID: PMC8610548.
[4] Cavanna AE, Spini L, Ferrari S, Purpura G, Riva A, Nacinovich R, Seri
S. Functional Tic-like Behaviors: From the COVID-19 Pandemic to the Post-
Pandemic Era. Healthcare (Basel). 2024 May 28;12(11):1106. doi:
10.3390/healthcare12111106. PMID: 38891181; PMCID: PMC11171709.
[5] Nagata JM, Al-Shoaibi AAA, Leong AW, Zamora G, Testa A, Ganson KT,
Baker FC. Screen time and mental health: a prospective analysis of the
Adolescent Brain Cognitive Development (ABCD) Study. BMC Public Health.
2024 Oct 7;24(1):2686. doi: 10.1186/s12889-024-20102-x. PMID: 39370520;
PMCID: PMC11457456.
[6] Lafontaine-Poissant F, Lang JJ, McKinnon B, Simard I, Roberts KC, Wong
SL, Chaput JP, Janssen I, Boniel-Nissim M, Gariépy G. Social media use and
sleep health among adolescents in Canada. Health Promot Chronic Dis Prev
Can. 2024 Aug;44(7-8):338-346. English, French. doi:
10.24095/hpcdp.44.7/8.05. PMID: 39141617.
[7] Durau J, Diehl S, Terlutter R. Motivate me to exercise with you: The
effects of social media fitness influencers on users' intentions to engage
in physical activity and the role of user gender. Digit Health. 2022 May
0;8:20552076221102769. doi: 10.1177/20552076221102769. PMID: 35615268;
PMCID: PMC9125114.)
[8] Ludwigs, S. & Nöcker, G. (2020). Social Media / Gesundheitsförderung
mit digitalen Medien. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
(BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention.
Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.
https://doi.org/10.17623/BZGA:
[9] Lee D, Lee J, Namkoong K, Jung YC. Altered functional connectivity of
the dorsal attention network among problematic social network users.
Addict Behav. 2021 May;116:106823. doi: 10.1016/j.addbeh.2021.106823. Epub
2021 Jan 8. PMID: 33460991.
[10] Nivins S, Sauce B, Liebherr M, Judd N, Klingberg T. Long-term impact
of digital media on brain development in children. Sci Rep. 2024 Jun
6;14(1):13030. doi: 10.1038/s41598-024-63566-y. PMID: 38844772; PMCID:
PMC11156852.
[11] Hu B, Yu Y, Yan LF, Qi GQ, Wu D, Li YT, Shi AP, Liu CX, Shang YX, Li
ZY, Cui GB, Wang W. Intersubject correlation analysis reveals the
plasticity of cerebral functional connectivity in the long-term use of
social media. Hum Brain Mapp. 2022 May;43(7):2262-2275. doi:
10.1002/hbm.25786. Epub 2022 Jan 24. PMID: 35072320; PMCID: PMC8996346.
[12] Crone EA, Konijn EA. Media use and brain development during
adolescence. Nat Commun. 2018 Feb 21;9(1):588. doi:
10.1038/s41467-018-03126-x. PMID: 29467362; PMCID: PMC5821838.).
[13] Baum J, Frömer R, Abdel Rahman R. Emotional content reduces the
cognitive effort invested in processing the credibility of social
(mis)information. Emotion. 2024 Sep;24(6):1468-1480. doi:
10.1037/emo0001355. Epub 2024 Mar 21. PMID: 38512199.
[14] Baum J, Abdel Rahman R. Negative news dominates fast and slow brain
responses and social judgments even after source credibility evaluation.
Neuroimage. 2021 Dec 1;244:118572. doi: 10.1016/j.neuroimage.2021.1185
Epub 2021 Sep 8. PMID: 34508894.
[15] Drigas A, Sideraki A. Brain Neuroplasticity Leveraging Virtual
Reality and Brain-Computer Interface Technologies. Sensors (Basel). 2024
Sep 3;24(17):5725. doi: 10.3390/s24175725. PMID: 39275636; PMCID:
PMC11397861.
- Aufrufe: 24