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Social Media und Gehirn: „Good Guy“ oder „Bad Guy“?

Social Media stehen im Ruf, Nutzende zu „verdummen“ oder sogar krank zu
machen. Die Datenlage ist noch dünn, zeigt aber: Die Gefahren scheinen
überschaubar zu sein. Richtig eingesetzt, kann die Nutzung sozialer Medien
sogar „Verschaltungen“ im Gehirn fördern. Im alltäglichen Gebrauch sollten
dafür allerdings Tracker möglichst abgeschaltet werden. Medienkompetenz
kann also auch eine Maßnahme für die Hirngesundheit sein.

Welche gesundheitlichen Gefährdungen gehen von den sozialen Medien aus?
Ein Extrembeispiel: 2019 kam es in Deutschland zu einem Ausbruch einer
durch soziale Medien ausgelösten soziogenen Erkrankung („mass social
media-induced illness“; MSMI) mit funktionellem Tourette-ähnlichem
Verhalten. In ihrem Beitrag „The tic in TikTok“ [1] beschrieb Andrea
Giedinghagen von der St. Louis School of Medicine, USA, das Phänomen, dass
Jugendliche, die durch das Betrachten von krankheitsbezogenen Inhalten,
die von Influencern in sozialen Medien gepostet wurden, selbst diese
Symptome entwickelten, z. T. deswegen klinisch vorstellig wurden oder sich
in den sozialen Medien als Betroffene „outeten“. Zu den häufigsten
reproduzierten Krankheiten gehören die dissoziative Identitätsstörung und
das Tourette-Syndrom. Giedinghagen vermutet, dass neu auftretende Tics
durch soziale Netzwerke begünstigt werden können, und führt zwei
Hypothesen an: Die Betroffenen könnten ein Konversionsphänomen aufweisen
oder an einer durch die sozialen Medien unterstützten artifiziellen
Störung leiden (Münchhausen-Syndrom). Zwischen 2019 und 2021 [2] hatten 86
Menschen in Deutschland berichtet, dass sie oder eines ihrer
Familienmitglieder unter neuen Bewegungen oder Lautäußerungen mit abruptem
Beginn und/oder Tourette-ähnlichen Symptomen („functional Tourette-like
behavior“, FTB) litten. Die Menschen wurden von geschulten
Interviewerinnen und Interviewern besucht mit dem Ergebnis, dass
wahrscheinlich 33 der 86 von MSMI-FTB betroffen waren (das
Durchschnittsalter betrug 30,5 Jahre). US-amerikanische Daten [3] zeigen,
dass sich die Zahl funktioneller Tic-ähnlicher Störungen während der
COVID-19-Pandemie um 60 % erhöht hat (um 90 % bei Kindern und
Jugendlichen, um 51 % bei Erwachsenen). Forschende aus UK und der Schweiz
kommen in einem umfassenden Review [4] zu dem Schluss, dass die Ätiologie
wahrscheinlich multifaktoriell ist und sowohl die psychische Belastung
durch die Pandemie als auch die erhöhte Social-Media-Aktivität eine Rolle
gespielt haben könnten.

Dieses „spektakuläre“ Beispiel, dass Menschen sich in den sozialen Medien
mit Tourette „anstecken“, wird immer gern angeführt, wenn es um
Gesundheitsgefahren geht, die von Social Media ausgehen könnten. Auch wenn
während der Pandemie ein Anstieg zu beobachten war, bleibt zu
konstatieren: Die absoluten Fallzahlen waren und sind gering. „Das ist
nichts, was die Neurologie sorgenvoll stimmt“, erklärt Prof. Dr. Lars
Timmermann, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie.
„Funktionelle neurologische Störungen, also Symptome, bei denen keine
körperlichen Ursachen auszumachen sind, werden bei etwa 15 % der
Vorstellungen in neurologischen Sprechstunden diagnostiziert. Die Symptome
sind aber weder vorgetäuscht noch eingebildet, die Betroffenen bedürfen
einer gezielten Behandlung. Funktionelle Störungen – wir vergleichen sie
gern mit Software-Problemen, während somatische Krankheiten Hardware-
Fehler sind – gab es bereits vor Social Media, wir sehen in den Kliniken
und Praxen derzeit keinen überproportionalen Anstieg.“

Doch auch neuropsychiatrische Auswirkungen des (sozialen) Medienkonsums
werden berichtet. Eine aktuell in BMC publizierte Arbeit [5] kam zu den
Ergebnis, dass lange Bildschirmzeiten bei Kindern mit Störungen wie Angst,
Somatisierung und vor allem Depression assoziiert waren, allerdings mit
einer eher geringen Effektstärke („effect sizes are small“). Auch kann es
zu Schlafstörungen kommen: Eine intensive Social-Media-Nutzung ist laut
einer aktuellen kanadischen Auswertung [6] von über 12.000 Jugendlichen im
Alter von 11 bis 17 Jahren mit einer schlechten Schlafqualität und
Anzeichen von Schlafstörungen verbunden. „Das ist ein Aspekt, den wir im
Blick behalten müssen, denn wir wissen, dass Schlaf gerade auch für die
lebenslange Hirngesundheit enorm wichtig ist“, erklärt Prof. Timmermann.

Welcher gesundheitliche Mehrwert geht von den sozialen Medien aus?
Was bei der Diskussion nicht vergessen werden darf: Social Media können
umgekehrt auch Impulse für einen gesunden Lebensstil setzen, insbesondere
durch Anregungen zu einer gesünderen Ernährung, mehr Bewegung und
„Physical Fitness“, und damit die Hirngesundheit fördern: So konnten
„Influencer“ während der Corona-Pandemie Menschen zu körperlicher
Aktivität und Sport animieren, die sonst diesen Aktivitäten ferngeblieben
wären oder zumindest sich deutlich weniger bewegt hätten [7]. (Die BZgA
befasst sich damit, wie Gesundheitsförderung mit digitalen Medien aussehen
kann [8].)

Was machen Social Media mit unseren Gehirnen?
In einer koreanischen Studie wurde die Hirnkonnektivität bei 39 jungen
Erwachsenen mit problematischem Social-Media-Gebrauch und 39 gesunden
Kontrollen mithilfe von funktioneller MRT im Ruhezustand untersucht. Die
Arbeitsgruppe fand bei den Patientinnen und Patienten mit problematisch
hoher Social-Media-Aktivität zwar eine engere Verbindung zwischen der
Sehrinde und der intraparietalen Hirnrinde, dagegen eine geschwächte
Verbindung zwischen diesen Arealen und den Arealen für soziale Einordnung
und „emotional-kognitive Wertung“, dem dorsolateralen präfrontalen Kortex.
Diese Verbindung war umso schwächer, je stärker die Social-Media-Sucht
ausgeprägt war [9].

Eine aktuell in „Scientific Report“, einem Journal der „Nature“-Gruppe,
erschienene Arbeit [10] untersuchte Kinder im Alter von 8 bis 12 Jahren,
die pro Tag im Durchschnitt 4 Stunden und 44 Minuten mit digitalen Medien
verbrachten. Wie beobachtet wurde, führte eine intensive Nutzung der
sozialen Medien zu einer Entwicklungsverzögerung des Kleinhirns. Das
Kleinhirnvolumen war bei den Kindern, die sich viel in den sozialen Medien
bewegten, minimal kleiner. „Das ist eine Einzelstudie und eine
Momentaufnahme, eventuell holen die Betroffenen in der Pubertät auf. Der
Unterschied war zudem geringfügig, auch ist er per se kein pathologischer
Befund“, konstatiert Timmermann. Interessant sei, dass eher Veränderungen
in anderen Hirnregionen erwartet wurden: in der Hirnrinde (Cortex cerebri,
u. a. verantwortlich für Sinneswahrnehmungen, Lesen, Sprechen,
Bewusstsein, Denken) und im Striatum, das an der Kognition, an
Motivationsvorgängen und am Belohnungssystem beteiligt ist. Stattdessen
fand sich der Unterschied im Kleinhirn, der „Kontrollinstanz“ für die
Koordination und Feinabstimmung von Bewegungsabläufen. „Hier könnte sich
womöglich der Kreis zu der beobachteten Zunahme von funktionellen
Bewegungsstörungen und Tics schließen“, gibt Prof. Timmermann zu bedenken.

Wie der Experte weiter ausführt, seien aber hirnvolumetrische und
hirnmorphologische Veränderungen jenseits von veränderten funktionellen
Verbindungen generell wohl weniger ein Problem. Acht geben sollte man
seiner Meinung nach hingegen auf die neuronale Plastizität. In Bezug auf
diese können Social Media ein „Good Guy“, aber auch ein „Bad Guy“ sein –
je nach Nutzungsverhalten. „Die Forschung steht hier noch ganz am Anfang,
aber es gibt bereits erste Studien, die letztlich das widerspiegeln, was
physiologisch erwartbar ist bzw. auch aus neurowissenschaftlicher Sicht
auf der Hand liegt“, so der Experte. Eine chinesische Arbeitsgruppe [11]
konnte zeigen, dass die Social-Media-Nutzung die funktionelle
Konnektivität erhöht, sie verglich gelegentliche Nutzerinnen und Nutzer
und häufige Nutzerinnen und Nutzer und „verordnete“ den gelegentlichen
Nutzerinnen und Nutzern über vier Wochen einen intensiven Konsum sozialer
Medien. Alle erhielten vorher und nachher ein funktionelles MRT und es
zeigte sich, dass die Phase der intensiven Nutzung die funktionelle
Konnektivität, die Interaktion zwischen den Hirnregionen, verstärkt hatte.
Erklärt wird dieses mit der Vielfalt der Stimuli durch die sozialen
Medien, die akustischer, visueller und emotionaler Natur sind, hinzu
kommen Aktivierungen des Belohnungssystems und der Aufmerksamkeit. „Das
Gehirn wird gefordert und gefördert.“ Gerade bei Jugendlichen und jüngeren
Erwachsenen ist die Abhängigkeit von Feedback aus der „Peergroup“
besonders ausgeprägt, was sich auch in einer höheren Hirnaktivität als
Reaktion auf soziales Feedback widerspiegelt [12].

Filterblasen führen zu weniger Stimuli beim Ausbau der Plastizität,
Emotion hebelt Kognition aus
Altbekannt ist, dass neue geistige Herausforderungen und Reize die
Plastizität des Gehirns fördern. Das ist sogar schon in den Sprachgebrauch
eingegangen: Menschen, die sich mit neuen Gedanken und gegenläufigen
Meinungen auseinandersetzen, gelten als „geistig beweglich“. Das Besondere
an den sozialen Medien ist aber, dass sie Informationen passgenau auf die
einzelne Nutzerin/den einzelnen Nutzer abstimmen und sie filtern. Die
Menschen bekommen nur das präsentiert, was sie kennen und mögen, im
Endeffekt halten Algorithmen das Gehirn von gegenläufigen Meinungen und
anderen Erfahrungswelten fern und geben dann wenig Stimuli für die
neuronale Plastizität. „Das sollte uns bei der Nutzung der sozialen Medien
bewusst sein und man ist gut beraten, Social Tracker weitgehend zu
blockieren“, meint Prof. Timmermann.

Einen weiteren „Pitfall“ der sozialen Medien sieht er in der Tatsache,
dass in den sozialen Medien häufig mit Emotion statt mit Information
gearbeitet wird. „Emotionen entstehen im limbischen System, das nicht dem
Bewusstsein untergeordnet ist. Jeder, der schon einmal eine Panikattacke
erlebt hat, weiß, dass Angst die Ratio komplett ausschalten kann.“ Es gibt
mehrere Publikationen [13, 14] der Berlin School of Mind and Brain der
Humboldt-Universität Berlin, die zeigen, dass emotionale Inhalte die
Anfälligkeit für Desinformation und Fake News erhöhen und die Fähigkeit,
die Seriosität einer Quelle zu prüfen und kritisch einzubeziehen,
heruntersetzen.

Zusammengefasst, so Timmermann, seien die sozialen Medien weder ein „Good
Guy“ noch ein „Bad Guy“. Richtig angewendet, machen sie weder krank noch
„dumm“, sie können sogar die funktionelle Konnektivität und Plastizität
erhöhen. Dieses Potenzial kann therapeutisch genutzt werden, es laufen
bereits erste Untersuchungen, wie mit Virtual Reality und Brain-Computer-
Interfaces die neuronale Plastizität gezielt gefördert werden kann [15].
Solche Interventionen könnten Menschen nach Schlaganfällen, traumatischen
Hirnverletzungen oder mit neurodegenerativen Erkrankungen helfen,
spezifische Defizite zu beheben.

[1] Giedinghagen A. The tic in TikTok and (where) all systems go: Mass
social media induced illness and Munchausen's by internet as explanatory
models for social media associated abnormal illness behavior. Clin Child
Psychol Psychiatry. 2023 Jan;28(1):270-278. doi:
10.1177/13591045221098522. Epub 2022 Apr 27. PMID: 35473358.
[2] Hartung K, Klages C, Fremer C, Pisarenko A, Haas M, Jakubovski E,
Szejko N, Brandt V, Müller-Vahl KR. Prevalence of mass social media-
induced illness presenting with Tourette-like behavior in Germany between
2019 and 2021. J Psychiatr Res. 2024 Sep;177:234-238. doi:
10.1016/j.jpsychires.2024.07.011. Epub 2024 Jul 11. PMID: 39033669.
[3] Hull M, Parnes M, Jankovic J. Increased Incidence of Functional
(Psychogenic) Movement Disorders in Children and Adults Amid the COVID-19
Pandemic: A Cross-sectional Study. Neurol Clin Pract. 2021
Oct;11(5):e686-e690. doi: 10.1212/CPJ.0000000000001082. PMID: 34840884;
PMCID: PMC8610548.
[4] Cavanna AE, Spini L, Ferrari S, Purpura G, Riva A, Nacinovich R, Seri
S. Functional Tic-like Behaviors: From the COVID-19 Pandemic to the Post-
Pandemic Era. Healthcare (Basel). 2024 May 28;12(11):1106. doi:
10.3390/healthcare12111106. PMID: 38891181; PMCID: PMC11171709.
[5] Nagata JM, Al-Shoaibi AAA, Leong AW, Zamora G, Testa A, Ganson KT,
Baker FC. Screen time and mental health: a prospective analysis of the
Adolescent Brain Cognitive Development (ABCD) Study. BMC Public Health.
2024 Oct 7;24(1):2686. doi: 10.1186/s12889-024-20102-x. PMID: 39370520;
PMCID: PMC11457456.
[6] Lafontaine-Poissant F, Lang JJ, McKinnon B, Simard I, Roberts KC, Wong
SL, Chaput JP, Janssen I, Boniel-Nissim M, Gariépy G. Social media use and
sleep health among adolescents in Canada. Health Promot Chronic Dis Prev
Can. 2024 Aug;44(7-8):338-346. English, French. doi:
10.24095/hpcdp.44.7/8.05. PMID: 39141617.
[7] Durau J, Diehl S, Terlutter R. Motivate me to exercise with you: The
effects of social media fitness influencers on users' intentions to engage
in physical activity and the role of user gender. Digit Health. 2022 May
0;8:20552076221102769. doi: 10.1177/20552076221102769. PMID: 35615268;
PMCID: PMC9125114.)
[8] Ludwigs, S. & Nöcker, G. (2020). Social Media / Gesundheitsförderung
mit digitalen Medien. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
(BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention.
Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.
https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i107-2.0
[9] Lee D, Lee J, Namkoong K, Jung YC. Altered functional connectivity of
the dorsal attention network among problematic social network users.
Addict Behav. 2021 May;116:106823. doi: 10.1016/j.addbeh.2021.106823. Epub
2021 Jan 8. PMID: 33460991.
[10] Nivins S, Sauce B, Liebherr M, Judd N, Klingberg T. Long-term impact
of digital media on brain development in children. Sci Rep. 2024 Jun
6;14(1):13030. doi: 10.1038/s41598-024-63566-y. PMID: 38844772; PMCID:
PMC11156852.
[11] Hu B, Yu Y, Yan LF, Qi GQ, Wu D, Li YT, Shi AP, Liu CX, Shang YX, Li
ZY, Cui GB, Wang W. Intersubject correlation analysis reveals the
plasticity of cerebral functional connectivity in the long-term use of
social media. Hum Brain Mapp. 2022 May;43(7):2262-2275. doi:
10.1002/hbm.25786. Epub 2022 Jan 24. PMID: 35072320; PMCID: PMC8996346.
[12] Crone EA, Konijn EA. Media use and brain development during
adolescence. Nat Commun. 2018 Feb 21;9(1):588. doi:
10.1038/s41467-018-03126-x. PMID: 29467362; PMCID: PMC5821838.).
[13] Baum J, Frömer R, Abdel Rahman R. Emotional content reduces the
cognitive effort invested in processing the credibility of social
(mis)information. Emotion. 2024 Sep;24(6):1468-1480. doi:
10.1037/emo0001355. Epub 2024 Mar 21. PMID: 38512199.
[14] Baum J, Abdel Rahman R. Negative news dominates fast and slow brain
responses and social judgments even after source credibility evaluation.
Neuroimage. 2021 Dec 1;244:118572. doi: 10.1016/j.neuroimage.2021.118572.
Epub 2021 Sep 8. PMID: 34508894.
[15] Drigas A, Sideraki A. Brain Neuroplasticity Leveraging Virtual
Reality and Brain-Computer Interface Technologies. Sensors (Basel). 2024
Sep 3;24(17):5725. doi: 10.3390/s24175725. PMID: 39275636; PMCID:
PMC11397861.

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Internationales Forschungsprojekt unter Leitung der Universität Paderborn stärkt die nachhaltige Produktion in der EU

Rund 85 Prozent weniger CO2-Emissionen möglich

Der Automobilsektor erzeugt rund 14 Prozent der globalen
Treibhausemissionen. Noch dazu werden erhebliche Mengen an Rohstoffen
verbraucht. Eine gut organisierte Kreislaufwirtschaft könnte maßgeblich zu
einem verbesserten Ressourcenmanagement sowie der Minimierung von Abfall
und Schrott beitragen. Zu diesem Zweck hat die Universität Paderborn
gemeinsam mit Partner*innen das „Digi4Circular“-Projekt ins Leben gerufen,
bei dem eine digitale Plattform zur Förderung der Kreislaufwirtschaft
entwickelt wird. Ziel ist es, eine ganzheitliche Lösung zu schaffen, die
sämtliche Daten über den Lebenszyklus inklusive des Lebensendes und der
damit einhergehenden Materialwiederverwertung in die Produktentwicklung
überträgt. So sollen optimierte Designs für Kreislaufwirtschaften und
spezifische Fertigungsverfahren erzeugt und dadurch Abfall minimiert und
die Ressourcennutzung maximiert werden. Das Projekt zeigt konkret auf, wie
der durch die Plattform ermöglichte erhöhte Einsatz von recyceltem
Aluminium die CO2-Emissionen um ganze 85 Prozent reduzieren kann. Denn:
Die EU-Automobilindustrie nutzt jährlich rund zwei Millionen Tonnen
Aluminium, das inzwischen auf die Liste der kritischen Rohstoffe der EU
aufgenommen wurde – dreimal mehr als jeder andere Sektor. „Digi4Circular“
wird mit einer Fördersumme von rund 5,7 Millionen Euro über eine Dauer von
dreieinhalb Jahren von der EU unterstützt.

Transparente Lebenszykluskonzepte berechnen Umweltauswirkungen

Das Projekt integriert physikbasierte Methoden und maschinelles Lernen, um
die notwendigen Daten für kreislauffähige Produkte bereitzustellen. Dazu
gehören zum Beispiel das automatisierte Design von Bauteilen und -gruppen,
die Integration von Normen, Standards und Expertenwissen sowie ein
innovatives computerbasiertes Materialdesign, das Materialeigenschaften
ohne aufwendige Experimente vorhersagen kann. Die digitale Plattform
verbindet alle erforderlichen Software-Tools in einem Informationsraum,
wobei Lebenszyklusdaten systematisch in einem digitalen Produktpass
erfasst werden. Diese Informationen sind jederzeit und überall für
Entwickler*innen zugänglich und bieten maximale Transparenz für die
Nutzer*innen. Außerdem werden Lebenszykluskonzepte, die Bereiche wie
Reparatur, Wiederaufarbeitung, Wiederverwendung und Recycling beinhalten,
entwickelt.

„Das Vorgehen wird anhand konkreter Anwendungsfälle von Aluminiumdruckguss
in der Automobilindustrie demonstriert. Durch die Kombination
automatisierter Workflows mit Algorithmen, die teilweise von maschinellem
Lernen unterstützt werden, ermöglicht die ‚Digi4Circular‘-Plattform
kreislauffähige Produktdesigns – basierend auf den für End-of-Life-
Szenarien berechneten Umweltauswirkungen“, erklärt Prof. Dr. Iryna Mozgova
von der Universität Paderborn, die das Vorhaben leitet. Manuel Ott,
Oberingenieur der Fachgruppe „Datenmanagement im Maschinenbau“, ergänzt:
„Der digitale Produktpass gewährleistet maximale Transparenz für die
Nutzer*innen hinsichtlich Herkunft, Herstellungsprozessen,
Umweltauswirkungen und anderer relevanter Informationen über das Produkt.“
Neben der Fachgruppe sind außerdem der Lehrstuhl für Werkstoffkunde und
der Bereich Produktentstehung am Heinz Nixdorf Institut der Universität an
dem Projekt beteiligt.

Bedeutung für die EU

Die Technologien sollen die globale Führungsrolle der EU im digitalen und
grünen Wandel stärken. Mozgova: „Die Rückverfolgbarkeit und Transparenz
von Wertschöpfungsketten, ermöglicht durch den digitalen Produktpass,
tragen zur strategischen Stärkung der EU bei. Die erhöhte Wiederverwendung
und das Recycling von Primärmaterialien, insbesondere Aluminium, fördern
die Sicherheit der Lieferketten und reduzieren die Abhängigkeit von
Exporten.“

Mensch im Mittelpunkt

Das Projekt verfolgt einen menschenzentrierten Ansatz, indem es
Expertenwissen integriert, Mitarbeiter*innen durch gezielte Schulungen
befähigt und die negativen Auswirkungen des Aluminiumabbaus verringert. So
unterstützt „Digi4Circular“ auch den europäischen Green Deal und mehrere
Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen.

In den kommenden Jahren arbeiten die Expert*innen daran, die
Digitalisierung und Nachhaltigkeit in der Produktion voranzutreiben. Durch
innovative Software- und Modellierungslösungen wird der Übergang zu einer
Kreislaufwirtschaft gefördert. Das soll nicht nur ökologische Vorteile
bringen, sondern auch die Wettbewerbsfähigkeit der EU auf dem globalen
Markt stärken.

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Mit Robotern auf Du und Du

Forschungsverbund untersucht, wie sozial Roboter sein können

Roboter und KI werden immer wichtiger – in der Industrie, bei
Dienstleistungen, in der Medizin und im privaten Umfeld. Die Bayerische
Forschungsstiftung und ein bayerisches Konsortium aus der Wirtschaft
investieren in den kommenden zwei Jahren gemeinsam fast vier Millionen
Euro in den Forschungsverbund FORSocialRobots, der die sozialen
Fähigkeiten von automatisierten Systemen und Robotern maßgeblich
vorantreiben soll. Prof. Dr. Jörg Franke, Leiter des Lehrstuhls für
Fertigungsautomatisierung und Produktionssystematik an der Friedrich-
Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) übernimmt die Rolle des
Sprechers für das dreijährige Forschungsprojekt.

Im Fokus der wissenschaftlichen Arbeiten stehen die sozialen Fähigkeiten
von Robotern, um eine effiziente und akzeptierte Interaktion mit Menschen
in verschiedenen Anwendungsbereichen zu ermöglichen. Prof. Franke
definiert das Forschungsziel: „Wir wollen die multimodalen Aspekte der
Sozialität grundlegend verstehen und lernen, wie Menschen Emotionen
ausdrücken und lesen können, wie sie Empathie empfinden und anderen Hilfe
anbieten und wie wir diese Fähigkeiten auf automatisierte Systeme
übertragen können.“ Nina Merz, die am Lehrstuhl FAPS das Konsortium
koordiniert, ergänzt: „Uns geht es weniger darum, Roboter zu entwickeln,
die Menschen äußerlich ähneln, sondern vielmehr Szenarien zu erforschen,
in denen die Maschinen mit Menschen interagieren“. Dr. Sebastian
Reitelshöfer, Projektleiter am FAPS, betont: „Um sozialen Roboter zum
Erfolg zu verhelfen, müssen sie sich uns anpassen und nicht umgekehrt.
Daran führt kein Weg vorbei. Wobei sich bei der Zusammenarbeit mit neuen
Werkzeugen natürlich auch immer menschliche Verhaltensmuster
weiterentwickeln.“

Von Logistik über Produktion und Service bis hin zu Pflege

Das Konsortium von FORSocialRobots strebt an, dass Menschen und Roboter in
flexiblen Teams effektiv in verschiedenen Lebensbereichen zusammenarbeiten
können. In sechs Anwendungsfeldern – Inspektion, Logistik, Produktion,
Service, Seniorenheim und Demenzzentrum – sowie in fünf wissenschaftlichen
Teilprojekten sollen die sozialen Fähigkeiten von Robotern verbessert
werden. Die Teilprojekte beschäftigen sich mit der Architektur sozialer
Fähigkeiten, der sozial situativen Kommunikation, der sozial adaptiven und
proaktiven Interaktion, der Simulation und Validierung sozial kognitiver
Roboter im digitalen Zwilling sowie der Mensch-Roboter-Interaktion im
Arbeitskontext.

Soziale Interaktion besonders schwierig

Besondere Herausforderungen birgt die autonome Interaktion mit Menschen.
Dabei ist es entscheidend, dass die Kommunikation so natürlich wie möglich
erfolgt und nicht angsteinflößend auf den Menschen wirkt, da die
technischen Helfer ansonsten nur schwer akzeptiert werden. Aber genau
diese Anforderung macht es umso schwieriger, da soziale Interaktionen
typischerweise hochkomplex und fein nuanciert sind. Hinzu kommt, dass
Roboter zuweilen technisch noch nicht so leistungsfähig sind und zudem
hohe Kosten entstehen, wenn sie für die unterschiedlichsten
Einsatzszenarien eigens angepasst werden müssen. Darum besteht auch ein
Ziel darin, zu prüfen, welche Erkenntnisse – egal, ob sie in einer
Fabrikhalle, in einem Restaurant oder in einem Pflegeheim gewonnen werden
– sich auf andere Einsatzzwecke und -orte übertragen lässt.

Wie lassen sich Roboter in sensiblen Umgebungen einsetzen?

In einem Szenario soll beispielsweise untersucht werden, wie ein Roboter,
der zum Teil fernüberwacht und zum Teil autonom agiert, mit Menschen in
sensiblen Umgebungen wie einem nuklearen Umfeld zusammenarbeiten kann.
Dabei soll die Maschine in der Lage sein, den Kontakt mit Menschen zu
bewerten und daraufhin angemessen zu reagieren. Und eben nicht nur das:
Die Forschenden analysieren zugleich, welches Verhalten der Maschinen für
Menschen verständlich, nachvollziehbar und letztlich akzeptabel ist.

Gefragt: Gastfreundlichkeit

Ein anderes Szenario ist in der Gastronomie angesiedelt: Dort soll ein
Roboter den Umgang mit Tellern und Tabletts lernen, also zum Beispiel
zunächst einmal erkennen, wann ein Teller leer ist und in diesem Fall
Gästen die Aufgabe „Teller abräumen“ anbieten. Neben technischen
Herausforderungen wie einer sehr dynamischen Umgebung eines Gastraums oder
einer Veranstaltungsfläche trifft der Roboter auf Gäste, die im Gegensatz
zu Beschäftigten eines Unternehmens keineswegs Bescheid wissen, was auf
sie zukommt. Dementsprechend spielt in solchen Fällen Überraschung,
Dynamik und Gastfreundlichkeit eine große Rolle.

Flexibel im Demenzzentrum

Andere Szenarien betreffen den Einsatz im Gesundheitswesen zur
Unterstützung von Pflegepersonal. Ein ganz besonders komplexes Umfeld ist
beispielweise ein stationäres Demenzzentrum. Dabei treffen die Roboter auf
drei sehr verschiedene Personengruppen – Personal, Besucher/-innen und
Bewohner/-innen. Ihre Strategien für die Interaktion müssen die Roboter
dabei je nach Gegenüber sehr flexibel anpassen können, ohne dass zum
Beispiel eine komplizierte Authentifizierung nötig ist. Sie müssen also
Absichten und Emotionen effektiv erkennen und daraufhin passend sowie klar
verständlich reagieren können. Aber das wichtigste: Es darf nicht möglich
sein, dass Benutzer/-innen versehentlich eine unangemessene Reaktion der
Maschine auslösen.

Mehr zu FORSocialRobots

Ausführliche Infos zu FORSocialRobots gibt es direkt bei der Bayerischen
Forschungsstiftung:
https://www.bayfor.org/de/unsere-netzwerke/bayerische-
forschungsverbuende/forschungsverbuende/association/forsocialrobots.html

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soundings #044: dj sniff (Takuro Mizuta Lippit) – Turntable- Improvisationen

Konzert auf Einladung des Klanglabors der Kunsthochschule für Medien Köln
(KHM). Moderation: Prof. hans w. koch
Donnerstag, 31. Oktober 2024, 20 Uhr, Aula, Filzengraben 2, 50676 Köln
Eintritt frei

dj sniff (Takuro Mizuta Lippit) ist ein Musiker und Kurator auf dem Gebiet
der experimentellen elektronischen Kunst und improvisierten Musik. Seine
Arbeit basiert auf einer besonderen Praxis, die DJing, Instrumentendesign
und freie Improvisation miteinander verbindet. Im Laufe der Jahre hat er
mit Evan Parker, Otomo Yoshihide, Koichi Makigami, Jaap Blonk, ErikM, Paul
Hubweber, Tarek Atoui, Ken Ueno und Senyawa zusammengearbeitet. Seine
Arbeiten wurden auf zahlreichen Festivals gezeigt, darunter: CTM Berlin,
Warschauer Herbst, Flow Festival Helsinki, March Meeting Sharjah, Jazz em
Agosto Lissabon, REWIRE Den Haag und Taipei Arts Festival. Musikalische
Kompositionen und Aufnahmen von dj sniff sind auf verschiedenen
Medienformaten von Labels im Libanon, Großbritannien, Frankreich,
Deutschland, der Slowakei, Hongkong, Malaysia, Taiwan und Japan
veröffentlicht worden.

sniff  hat einen B.A. von der Keio University Department of Aesthetics and
Science of Arts, einen M.P.S. vom NYU Interactive Telecommunications
Program und einen Ph.D. von der De Montfort University Faculty of
Computing, Engineering and Media. Neben seiner künstlerischen Arbeit war
er an verschiedenen Institutionen tätig, unter anderem als künstlerischer
Leiter von STEIM - Studio for Electro-Instrumental Music Amsterdam
(2007-2012), als Gastprofessor an der City University of Hong Kong School
of Creative Media (2012-17) und als außerordentlicher Professor an der
Kyoto Seika University Department of Global Studies (2020 - 2022). Derzeit
lebt er in Los Angeles und ist Co-Direktor des Asian Meeting Festival
(AMF) – ein internationales Musikfestival, das seit 2005 experimentelle
Musiker aus Asien zusammenbringt, Dozent an den Shared Campus Summer
Schools der Zürcher Hochschule der Künste und Teilzeitdozent an der Kyoto
Seika und der Tokyo University.

Originalpublikation:
https://soundcloud.com/djsniff
https://www.khm.de/termine/news.5795.soundings-044-dj-sniff-takuro-mizuta-
lippit--divturntable-improvisationen-div/

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