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Der Schatz der Birnbäume

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Die Klaus Tschira Stiftung fördert ein Projekt, das altes Wissen um
Obstsorten mit dem genetischen Fingerabdruck zusammenbringt.

Ahrensburg/Heidelberg, 17. Oktober 2023. Neben dem Klimawandel gibt es
noch weitere existenzielle Bedrohung der Menschheit, beispielsweise der
Verlust an Biodiversität. Die Klaus Tschira Stiftung fördert deshalb zwei
Jahre lang ein Projekt, das ganz besondere Früchte in den Fokus nimmt: die
Birnen. Das Vorhaben zum Schutz der Artenvielfalt widmet sich der
„Identifizierung alter Birnensorten mit Hilfe des genetischen
Fingerabdrucks“. Es befindet sich an der Nahtstelle von Naturschutz, seit
Generationen vorhandener Sortenkunde und aktueller Naturwissenschaft.
Dahinter steht Antragsteller Michael Heißenberg von der Stiftung Zeitlupe.
Er hat uns erklärt, warum es ihm Obst so angetan hat und warum es so
wichtig ist, die alten Sorten zu kennen, zu erforschen und zu bewahren.

Worum geht es:

Historisch wurden in deutschsprachigen Obstsortenverzeichnissen über 1000
Birnensorten ausführlich beschrieben, aber da es keinen
Bestimmungsschlüssel wie in der Botanik gibt, ist eine Bestimmung mittels
Buchwissen so gut wie unmöglich. Heute sind nur noch etwa 300 Sorten
namentlich vorhanden. Allerdings gibt es in Deutschland nicht mehr viele
Expertinnen und Experten, die über entsprechendes Wissen verfügen. Sie
gehören zu den Pomologen oder Obstbaumkundlern, die sich der Lehre der
Arten und Sorten von Obst sowie deren Bestimmung und systematischer
Einteilung verschrieben haben.

Diese Sorten und ihre Eigenheiten kennenzulernen und zu beschreiben, ist
in Zeiten des Klimawandels sehr wichtig. Denn viele der alten Sorten auf
den Streuobstwiesen sind deutlich weniger krankheitsanfällig und
wesentlich resistenter gegen Hitze und Trockenheit als die „neuen“ Sorten,
die wir aus dem Supermarkt kennen. Sie bergen damit ein erhebliches
Potenzial für zukünftige Züchtungen. Das aber nur, wenn sie bezeichnet
werden können, in ihren Eigenschaften erkannt und in Baumschulen vermehrt
werden.

Weil Birnbäume ein sehr hohes Alter von bis zu 200 Jahren erreichen
können, besteht Hoffnung, dass es für die Untersuchungen noch nicht zu
spät ist. Auf Obstwiesen, in Hausgärten oder an Feldrändern stehen noch
viele, meist sehr alte Bäume mit einer Vielzahl an Sorten mit wertvollen
Eigenschaften.

Eine Möglichkeit zum Erhalt einzelner Sorten bietet die Erfassung des
molekulargenetischen Fingerabdrucks, erklärt Michael Heißenberg. Er möchte
mit seinen Mitstreitern in den nächsten zwei Jahren den genetischen
Fingerabdruck von mehr als 600 Proben nehmen lassen, mit der
Sortenkenntnis der Pomologie zusammenführen und dann wiederum die Daten
der Fachwelt und der Öffentlichkeit kostenfrei zur Verfügung stellen.

Wie hat die Faszination für Bäume und Obst bei dem heute 65-Jährigen
angefangen? Es war wohl als junger Mensch, gleich nach dem Abitur, als er
Assistent des Künstlers Joseph Beuys wurde, bevor er sich dann den
Computern zuwandte und eine Firma gründet. Der Künstler Beuys pflanzte
1982 auf der documenta 7 in Kassel 7000 Eichen als Landschaftskunstwerk
unter dem Motto „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“. Michael
Heißenberg unterstützte ihn dabei und wählte die Basalt-Stelen aus, die zu
jedem der Bäume gestellt wurden.

Später dann war es der uralte Apfelbaum auf dem Grundstück des Nachbarn,
der ihn wieder aktiv werden ließ. Dem drohte nämlich die Fällung – und
Heißenberg wollte das nicht hinnehmen. Er schnappte sich ein paar Früchte
und besuchte einen Pomologen-Kongress. Dort war das Erstaunen riesig, denn
die Apfelsorte galt als so gut wie ausgestorben. Seither hat das Thema
Heißenberg nicht mehr losgelassen. Er hat nicht nur gelernt, aus
einjährigen Trieben (Edelreisern) von Apfel, Birne, Quitte und Steinobst
junge Bäume zu ziehen und zu veredeln, sondern hat auch auf rund 90
Flächen mehr als 4200 Bäume der alten Sorten als „lebendige Genbank“
gepflanzt. Sogar eine Fläche in der Hamburger Hafencity und eine auf einem
großen Hamburger Friedhof gehören dazu.

Anhand einer modernen „Alexander Lucas“-Birne aus dem Obstkorb erklärt er
im Gespräch, worauf bei einer Bestimmung zu achten ist. Wie sitzt der
Stiel? Welche Farbe hat er? Wie lang ist er und welche Struktur weist er
auf? Welche Form hat die Frucht? Wie ist die ehemalige Blüte an der
Unterseite geformt? Welche Farbe und Form hat die Birne? Gibt es Rost? Wie
sehen die Kerne aus?

„Es gibt nicht mehr viele Menschen, die dieses Wissen haben“, sagt
Heißenberg. Deshalb ist es ihm ein Anliegen, die noch vorhandene
Sortenkenntnis mit der Genetik in einer Datenbank zu verbinden. Ist das
Projekt beendet, soll es in verschiedene, der Öffentlichkeit zugängliche
Datenbanken eingespeist werden und der Allgemeinheit zur Verfügung stehen.

Dann wissen die Verantwortlichen in Landwirtschaft oder auch in Städten,
welche Sorten für welche Standorte auch in Zeiten des Klimawandels
geeignet sind. Außerdem können gezielt Birnensorten gezüchtet werden, die
weniger Wasser benötigen und weniger Schädlingsbekämpfung. „Wir wollen für
die Zukunft Wissen erhalten“, unterstreicht der Mitinitiator des Projekts.
Und Begeisterung wecken. Denn, wer ihm zuhört, bekommt selbst Lust, Bäume
aufzuziehen und so mit den eigenen Händen der Klimakrise und dem
Niedergang der Artenvielfalt etwas entgegenzusetzen.