Europa schöpft Wasserstoff-Potenziale nicht hinreichend aus – Studie empfiehlt stärkere Kooperation der EU-Länderr
Für die Klimatransformation wird Europas Wirtschaft künftig große Mengen
an klimaneutralem Wasserstoff benötigen. Viele Länder, darunter
Deutschland, planen hohe Investitionen in die Entwicklung und in den
Hochlauf der dafür benötigten Wasserstoffindustrie. Eine Studie des
Fraunhofer ISI, RIFS Potsdam und der Deutschen Energie-Agentur (dena) im
Forschungsprojekts HYPAT gibt fünf Empfehlungen an die EU und die
Mitgliedstaaten und zeigt: Beim Verhältnis der Investitionsmengen und bei
den Potenzialen zur günstigen Wasserstoffherstellung der einzelnen
europäischen Regionen besteht ein großes Ungleichgewicht. Und: Trotz aller
Anstrengungen wird Deutschland künftig ein Wasserstoff-Importland sein.
Wind- und sonnenreiche Länder mit hohem Potenzial für die Produktion von
günstiger erneuerbarer Energie könnten künftig den europäischen Bedarf
nach Wasserstoff weitgehend decken und den Wasserstoff in die europäischen
Gegenden liefern, wo wirtschaftliche Potenziale im Vergleich zur künftig
erwartbaren Nachfrage nicht ausreichend vorhanden sind, wie in Deutschland
oder den Niederlanden. Doch die dort getätigten Investitionen sind aktuell
im Vergleich zu Deutschland gering. Stärkere Kooperation auf EU-Ebene
könnte helfen, die Investitionen in die richtige Richtung zu lenken.
Die Studie vergleicht zwei Szenarien für verschiedene Anwendungsbreiten
von Wasserstoff in Europa mit den regionalen Potenzialen für eine
möglichst günstige Produktion von grünem Wasserstoff. Bei der Analyse
fokussiert sich die Studie auf die Politikmaßnahmen der EU sowie auf Daten
zur Förderung von Wasserstoffproduktion und -Anwendungen in EU-Ländern.
Fragen zur Infrastruktur (Lagerung und Transport) waren nicht Teil dieser
Untersuchung.
Europa hat das Potenzial, sich künftig mit Wasserstoff selbst zu versorgen
Die Analyse zeigt, dass Europa seinen künftigen Wasserstoffbedarf zu
wettbewerbsfähigen Preisen größtenteils aus heimischer Produktion decken
könnte. Somit besteht die Chance, die europäische Industrie unabhängiger
von Importen aus Drittstaaten zu machen. Laut Studie ist das technische
Potenzial für die Produktion von erneuerbarem Strom in Europa (EU plus
Norwegen, Schweiz und Großbritannien) im Jahr 2050 bei Kosten von bis zu
40 Euro pro MWh selbst bei breiter Anwendung von Wasserstoff hoch genug,
um die gesamte Elektrizitätsnachfrage einschließlich der
Elektrizitätsnachfrage zur Wasserstoffherstellung zu decken.
Besonders Regionen mit hohem Potenzial für Solar- und Windenergie wären
bei der Wasserstoffproduktion von zentraler Bedeutung. Die größten
Potenziale für die Produktion von erneuerbarer Energie im Jahr 2050 haben
hier Norwegen (über 1900 TWh), Spanien (über 1760 TWh), Frankreich (über
1700 TWh). Diese Staaten haben selbst bei starker heimischer Nutzung von
Wasserstoff mehr Potenzial als sie selbst für ihre eigene Nachfrage
benötigen würden. Länder mit höherem Bedarf als eigenem Potenzial, also
einem Defizit, müssen den benötigten Wasserstoff importieren.
Deutschland wird trotz hoher Elektrolyse-Ausbauziele auf
Wasserstoffimporte angewiesen sein
Frankreich plant aktuell sechseinhalb Gigawatt Elektrolyse-Kapazität bis
2030, Spanien erhöhte sein Ausbauziel erst kürzlich von vier Gigawatt auf
elf Gigawatt und nimmt somit aktuell den Spitzenplatz in Europa ein. Die
nationale Wasserstoffstrategie der deutschen Bundesregierung sieht bis
2030 eine Elektrolyse-Kapazität zur Herstellung von Wasserstoff in Höhe
von zehn Gigawatt vor. Trotz dieser Ziele wird Deutschland seinen Bedarf
nicht allein decken können.
Das deutsche Potenzial für den Ausbau erneuerbarer Energien ist laut der
Studie nicht einmal halb so groß wie die künftige Nachfrage. Im Jahr 2050
könnte Deutschland innerhalb der EU das Defizitland mit der größten
absoluten Versorgungslücke sein: Hier würden sogar bei geringer
Anwendungsbreite über 550 TWh an erneuerbarer Energie fehlen, so die
Forschenden (siehe Grafik). Fazit: Deutschland ist langfristig auf Importe
von Energie und Wasserstoff angewiesen, um die heimische Wirtschaft zu
versorgen. Weitere Länder mit größeren Versorgungslücken sind die
Niederlande, Belgien, und Tschechien.
Investitionen in Wasserstoff sind nicht optimal verteilt
Die Europäische Union schöpft das von der Studie aufgezeigte Potenzial
nicht voll aus, um die Ziele für die Produktion von grünem Wasserstoff zu
erreichen. Die Investitionen in Wasserstoffproduktion und -anwendungen
lassen einige der vielversprechendsten Regionen außen vor, so die
Forschenden. Deutschland, Frankreich und Großbritannien investieren
aktuell am stärksten in den Aufbau einer Wasserstoffindustrie. Zwar sind
auch in Spanien aktuell einige Projekte geplant, beim Investitionsvolumen
auf nationaler Ebene fällt das sonnenreiche Land hier aber weit hinter
seinem Potenzial zurück. Die Studie bemängelt außerdem, dass die aktuellen
Förderprogramme der EU wie z.B. der EU-Innovationsfonds dieses
Ungleichgewicht noch verstärken würden.
Die Studie zeigt eine Reihe an Vorschlägen auf, die helfen könnten, die
Investitionen in Europa besser zu verteilen und den Markthochlauf der
Wasserstoffindustrie in den Ländern mit hohem Potenzial gezielter zu
fördern:
- Empfehlung 1: Höhere EU-Subventionen für Wasserstoffprojekte etablieren,
sowohl bezogen auf Produktion als auch auf Anwendungen (beispielsweise
grüne Produktionsmethoden für Chemieprodukte auf Wasserstoff-Basis statt
fossiler Energieträger). Dabei sollte eine Kumulierung mit
nationalstaatlichen Fördermitteln vermieden werden, wie es bei der bald
startenden EU-Wasserstoffausschreibung bereits umgesetzt wurde.
- Empfehlung 2: Grenzüberschreitende Auktionen für grünen Wasserstoff
ermöglichen. Das Auktionsmodell »Auctions-as-a-Service« (AaaS), welches
die EU als zusätzliche Option im Rahmen ihrer Wasserstoffausschreibungen
propagiert, sollte um bilaterale, grenzüberschreitende Auktionen der
Mitgliedstaaten erweitert werden, um so gezielt die wettbewerbsfähigsten
Projekte und den innereuropäischen Wasserstoffhandel zu unterstützen.
- Empfehlung 3: Nationale Ausbauzielpfade für Elektrizität aus
erneuerbaren Energien in allen EU-Staaten etablieren. Darüber kann die EU
sicherstellen, dass der Ausbau von erneuerbaren Energien für die
Wasserstoffproduktion nicht die Dekarbonisierung der nationalen
Energiesysteme verlangsamt und gleichzeitig besonders ambitionierte
Regionen zusätzlich unterstützen, beispielsweise durch vereinfachte
Nachweispflichten bei der Vermarktung von erneuerbarem Wasserstoff.
- Empfehlung 4: Entwicklung von bilateralen oder regionalen
Wasserstoffpartnerschaften zwischen Überschuss- und Defizit-Ländern. Die
EU-Regulierung erlaubt bei der Zielanrechnung von Wasserstoff und
Wasserstoffderivaten eine flexible Aufteilung zwischen Produktions- und
Nutzungsland. Bilaterale oder regionale Partnerschaften können hier die
Grundlage für eine Kooperation zwischen Überschuss- und Defizit-Ländern
schaffen.
- Empfehlung 5: Fokus der Wasserstoffnutzung in Defizitländern auf die
Sektoren, die am schwierigsten zu elektrifizieren sind (»hard-to-
electrify«). In gewissen Bereichen der energieintensiven Industrie, des
Flugverkehrs und der Schifffahrt gilt die zukünftige Wasserstoffnutzung
als no-regret-Option. Um die Versorgungslücken der Defizitländer und damit
die Gesamtnachfrage nach Wasserstoff möglichst klein zu halten, können
sowohl nationale als auch EU-weite Förderungen des Markthochlaufs auf
diese Sektoren beschränkt werden.
Ein großes Problem ist die hohe Komplexität der aktuellen EU-Regulierungen
und Unterstützungsprogramme, kritisieren die Forschenden. Im Vergleich
dazu seien die steuerbasierten Förderprogramme der US-Regierung durch den
US Inflation Reduction Act viel attraktiver für Investoren. Studienautor
Prof. Dr. Rainer Quitzow vom RIFS Potsdam sagt dazu: »Die EU kann nicht
die Steuervergünstigungen der US-Regierung replizieren. Mit dem neuen
Auktionskonzept für die Fördermittelvergabe hat die EU ein zugängliches
Instrument geschaffen. Dies muss nun aber auch mit einer umfangreichen
Finanzierung ausgestattet werden. Bilaterale Kooperation zwischen
Mitgliedstaaten könnte weitere Impulse geben, damit die Potenziale in
weniger finanzstarken Mitgliedsländern gehoben werden können.«
Dr. Eva Schmid, HyPat-Projektleiterin bei der Deutschen Energie-Agentur
(dena), bewertet die Situation: »Bis 2030 sollen in Deutschland 10
Gigawatt Elektrolyse-Kapazität installiert sein. Das ist eine enorme
Aufgabe, bei der es keine Zeit zu verlieren gilt. Das betrifft neben
Erzeugung und Transport auch den Aufbau der dafür notwendigen
Wertschöpfungsketten. Außerdem müssen bis zu 70 Prozent des deutschen
Wasserstoffbedarfs importiert werden. Für beide Herausforderungen wird die
Zusammenarbeit mit internationalen und insbesondere auch europäischen
Partnern immer wichtiger. Die vorgestellte HyPat Studie gibt dafür
wichtige neue Impulse.«
Studienautor Dr. Jakob Wachsmuth vom Fraunhofer ISI zieht ein Fazit:
»Wasserstoff wird in den kommenden Jahren ein knappes Gut sein. Um den
Bedarf der europäischen Wirtschaft nach Wasserstoff zu decken, wird mehr
Kooperation zwischen den Ländern nötig sein. Besonders in den großen
Industrieländern wie Deutschland könnte dies ein Problem werden, wenn
nicht frühzeitig die politischen und finanziellen Weichen für
innereuropäischen Handel gestellt werden. Bei der Nutzung von Wasserstoff
kann eine klare Prioritätensetzung auf bestimmte Anwendungsbereiche
helfen, die vorhandenen, begrenzten Potenziale effizient einzusetzen.«
Hintergrund: Das HyPat-Projekt
Das Projekt HyPat wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung
BMBF gefördert und durch den Projektträger Jülich betreut. Neben der
Projektleitung durch das Fraunhofer ISI sind acht weitere Partner am
Projekt beteiligt: Fraunhofer IEG, Fraunhofer ISE, die Ruhr-Universität
Bochum, die Energy Systems Analysis Associates – ESA² GmbH, das German
Institute of Development and Sustainability IDOS, das RIFS Potsdam, die
GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit sowie die
Deutsche Energie-Agentur (dena).
Zur Projektseite: <https://hypat.de/>