Wie das Gehirn im Alter fit bleibt: „Die sozial Aktiven sind länger kognitiv gesund“
In einer immer älter werdenden Gesellschaft ist die Frage, wie wir gesund
und vital bis ins hohe Lebensalter bleiben, von zentraler Bedeutung.
Gesundes Altern, das heißt tatsächlich bis ins hohe Alter den üblichen
gesundheitlichen Alterseinschränkungen wie beispielsweise einer Abnahme
kognitiver Fähigkeiten zu entgehen, gelingt in der Regel nur einem
kleineren Teil alternder Menschen. Folglich hat sich die Forschung bislang
weitgehend auf häufige Alterserscheinungen wie der Gebrechlichkeit und den
typischen Alterserkrankungen wie zum Beispiel der Alzheimer-Krankheit
konzentriert.
Die Frage, welche biologischen Mechanismen gesund alternde Menschen
schützen, wird erst seit wenigen Jahren intensiv erforscht. Diese
Mechanismen zu verstehen, ist ein wesentliches Ziel des Leibniz-Instituts
für Resilienzforschung (LIR), aber auch der Universitätsmedizin der
Johannes Gutenberg-Universität in Mainz, an denen Professor Dr. Oliver
Tüscher tätig ist. Im Kurzinterview gibt Tüscher erste Einblicke in seine
interdisziplinäre Forschungsarbeit am Übergang von psychologischer zur
neurobiologischen Forschung. Einen umfassenden Überblick präsentiert er
beim Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) und der
Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG), der heute
mit 700 Teilnehmerinnen und Teilnehmern in Frankfurt am Main gestartet
ist.
Herr Tüscher, warum ist es in Ihren Augen so wichtig, sich – neben der
Behandlung von Krankheiten – mit der Resilienz bei älteren Menschen
auseinanderzusetzen?
In der Psychiatrie, aber auch in der Alternswissenschaft wurde, was das
Gehirn betrifft, in den letzten dreißig Jahren kein neues Arzneimittel
entwickelt, was eine relevante Verbesserung von Krankheiten in diesen
Bereichen erzielt. Deswegen gab es einen Paradigmenwechsel: Wenn wir bei
der Krankheitsbekämpfung nicht so gut weiterkommen wie erhofft, dann
kommen wir vielleicht weiter, wenn wir die Schutzmechanismen des Gehirns
besser verstehen. Auf diesem Paradigmenwechsel gründet die Forschung in
unserem Institut.
Warum gelingt es nur so wenigen alternden Menschen, dem körperlichen und
geistigen Abbau besser entgegenzutreten – also resilient zu sein? Welche
Faktoren spielen dabei eine Rolle?
Es gibt ein sehr komplexes Zusammenspiel von Faktoren, die dazu führen,
dass die Mehrzahl der Menschen im Alter Funktionsverluste erleiden. In
unserer Forschung wollten wir herausfinden: Was sind Schutzsysteme, die
diese Funktionsverluste vermeiden oder verlangsamen? Dafür analysieren wir
ältere Menschen, die im Gegensatz zur großen Mehrheit kognitiv gesund
bleiben. Ein paar Faktoren für deren Resilienz haben wir bereits auf der
Ebene des Gehirns identifiziert. Wir sehen zum Beispiel, dass die Gehirne
von kognitiv gesunden, resilienten älteren Menschen besser intern vernetzt
sind als die Gehirne von älteren Menschen mit Funktionsverlusten. Derzeit
untersuchen wir die Hypothese, dass resiliente Seniorinnen und Senioren
auch in einer größeren Intensität beide Gehirnhälften benutzen.
Welchen Anteil hat die Genetik – und welche Rolle spielen
Lebensbedingungen bei Resilienz im Alter?
Wir wissen aus der Langlebigkeitsforschung, dass es eine genetisch
bedingte Altersgrenze gibt. Das bestimmt aber nicht notwendigerweise, ob
wir gesund altern, denn dabei spielen auch andere Faktoren eine Rolle. Was
die Resilienz im Alter betrifft, kann man vorsichtig und nur sehr
vorläufig sagen, dass nur ungefähr zehn Prozent genetisch determiniert
sind und gut 90 Prozent durch die persönlichen Lebenserfahrungen und
Lebensweise sowie das soziale Umfeld.
Können Sie in Ihrer Forschung auch bestimmte allgemeine Entwicklungen
erkennen, beispielsweise dass die Resilienz insgesamt zunimmt?
Die wahrscheinliche Ursache, warum wir immer älter werden, ist, dass wir
immer gesünder leben und Therapien früher in Anspruch nehmen. Es sterben
zum Beispiel weniger Menschen an Infektionskrankheiten oder an
kardiovaskulären Krankheiten. Allein in den letzten 15 Jahren, das zeigt
die Gutenberg-Gesundheitsstudie seit 2007, können wir diesen Trend zu mehr
Gesundheit in der Bevölkerung allgemein erkennen. Was die Resilienz von
älteren Menschen angeht, gibt es sehr interessante Entwicklungen in der
Corona-Pandemie: Die COSMO-Studie zum Beispiel zeigt, dass die Resilienz
bei Älteren in dieser Zeit angestiegen, während sie bei Jüngeren
zurückgegangen ist. Das ist schon sehr erstaunlich, zählen doch gerade
ältere Menschen zur Risikogruppe. Vermutlich hat das mit Stressregulation
zu tun: Je älter ein Mensch ist, desto besser weiß er mit Krisen
umzugehen. Diese Hypothese gilt es aber noch zu überprüfen.
Was könnten Ihre Erkenntnisse für die Pflegepraxis bringen – welche
Anreize könnten diese geben?
Drei Faktoren können wertvolle Anregungen für die Pflegepraxis geben.
Erstens haben wir gesehen, dass ältere Menschen, die körperlich hochaktiv
sind, bei kognitiven Tests besser abschneiden. Ihre physische Aktivität
fördert die Konnektivität zwischen den verschiedenen Hirnbereichen und
auch über die Gehirnhälften hinweg. Das zeigt, wie wichtig es vor allem
auch für die Gehirngesundheit ist, sich regelmäßig zu bewegen – je mehr
desto besser. Kürzlich hat eine Studie zudem erstmals auch biologisch
nachgewiesen, dass mediterrane Diät die Gehirngesundheit und kognitive
Fähigkeiten positiv beeinflusst. Das, was man vorher also immer wieder
epidemiologisch gesehen hat, kann man jetzt auch mechanistisch eindeutig
zeigen. Ein dritter wichtiger Faktor, den wir identifizieren können, ist
die soziale Interaktion: Die sozial Aktiven sind länger kognitiv gesund.
Dabei fordert soziale Interaktion die Menschen ganzheitlicher als zum
Beispiel rein kognitive Aufgaben – zum Beispiel werden auch Emotionen und
die Aufmerksamkeitssteuerung angeregt.
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Zur Person:
Professor Oliver Tüscher ist Stellvertretender Direktor und Leitender
Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der
Universitätsmedizin Mainz mit Leitung des klinischen Schwerpunkts Geronto-
und Neuropsychiatrie. Er forscht unter anderem zu den Schwerpunkten
Gesundes Altern und Neurodegeneration und leitet die Arbeitsgruppen
„Mechanismen der Selbstregulation“ und „Funktionelle Bildgebung in der
Psychiatrie“. Er ist zudem Leiter der AG Tüscher und des Clinical
Investigation Center (CIC) sowie Gründungsmitglied des Leibniz-Instituts
für Resilienzforschung (LIR) gGmbH Mainz.
Termin:
Prof. Oliver Tüscher
Keynote-Lecture: Resilienz im Alter – von der Neurobiologie bis zu den
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
Gerontologie- und Geriatrie-Kongress
Hörsaal 5, Westend-Campus, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Dienstag, 13. September 2022
14.45 bis 15.30 Uhr