Krieg und Gewalt in der Antike
Ein Interview mit Dr. Lennart Gilhaus, Althistoriker an der Universität
Bonn und Stipendiat der Daimler und Benz Stiftung
Für Gesellschaften der Antike war es völlig normal, Kriege zu führen. Die
männliche Bevölkerung wurde von klein auf darauf vorbereitet. In
bestimmten Kriegssituationen, etwa nach erfolgten Eroberungen, wurden
bisweilen besondere Gewaltdynamiken freigesetzt: Massaker,
Vergewaltigungen, Versklavungen. Aus heutiger Sicht offenbare gerade der
Zusammenhang zwischen Krieg und Gewalt neue Erkenntnisse über antike
Gesellschaften und schärfe den Blick für die damaligen
Gesellschaftsnormen, so Dr. Lennart Gilhaus, Institut für
Geschichtswissenschaft der Universität Bonn. Im Rahmen des
Stipendienprogramms für Postdoktoranden und Juniorprofessoren der Daimler
und Benz Stiftung sollen diese Gewaltdynamiken untersucht und in
unterschiedlichen Kulturen der Vormoderne miteinander verglichen werden.
Das Forschungsprojekt wird über zwei Jahre mit einer Summe von 40.000 Euro
gefördert.
Stiftung: Herr Gilhaus, Ihrer Ansicht nach gehören Gewalt und Krieg zu den
Grundphänomenen der Menschheitsgeschichte. Wie lässt sich diese Ansicht
nachvollziehen?
Gilhaus: Vereinzelte bewaffnete Auseinandersetzungen gab es wohl bereits
zwischen einstigen Gruppen von Jägern und Sammlern. Aber erst mit der
Sesshaftwerdung des Menschen und der Gründung von Siedlungen und Städten
mehren sich archäologische Zeugnisse für organisierte Konflikte, die
mitunter sogar zur kompletten Auslöschung feindlicher Gruppen führten.
Krieg ist also ein kulturelles Phänomen, das insbesondere mit der
Entstehung komplexerer Gesellschaften auftritt und in der
Menschheitsgeschichte seitdem vorkommt.
Stiftung: Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf einer uns näheren Epoche.
Weshalb konzentrieren Sie sich auf Kriegsgewalt in der griechischen
Antike?
Gilhaus: Obwohl es mittlerweile umfangreiche Forschung zur Gewalt in der
Antike gibt, liegt der Fokus meist auf der Darstellung und der Betrachtung
von Gewalt innerhalb von Gesellschaften. Paradoxerweise wird gerade im
Bereich der Kriegsführung die Gewaltthematik ausgeklammert – vielleicht,
weil Krieg und Gewalt als selbstverständlich und zusammengehörig empfunden
werden. Mein Ansinnen ist es, die kulturellen Bedingungen und Folgen von
Gewalt im Krieg zu betrachten und zu verstehen, wie die damaligen
Gesellschaften ihre eigene Kriegsgewalt eingeordnet haben.
Stiftung: Über welche Formen von Gewalt sprechen wir dabei?
Gilhaus: Etwa seit den 1990er-Jahren boomen soziologische und historische
Studien zu Gewaltphänomenen. Dabei werden sehr unterschiedliche
Gewaltbegriffe verwendet: Es gibt psychische, sexualisierte, ritualisierte
Gewaltformen, ebenso Stalking, Mobbing und viele mehr. Ich konzentriere
mich vor allem auf die physische Gewalt, die in Kriegen verübt wurde. Dazu
gehören auch extreme Gewaltszenen, die eine neue Perspektive auf die
damalige Kriegsnormalität eröffnen.
Stiftung: Was ist der wesentliche Unterschied zwischen vormoderner und
moderner Kriegsgewalt – und lässt sich das überhaupt so unterscheiden?
Gilhaus: Der Hauptunterschied ist, dass in der griechischen Antike
Kriegsgewalt buchstäblich Handarbeit der einzelnen Krieger war. Krieg und
Gewalt waren feste Bestandteile des damaligen Lebens. Es gab eine durchweg
starke Mobilisierung, die Männer wurden von Kindheit an mithilfe von
Ritualen und Symboliken darauf vorbereitet. Jeder musste damit rechnen,
später in den Krieg zu ziehen und Feinde zu töten. Mit der Erfindung
automatisierter Waffen in der Moderne und deren stetiger Weiterentwicklung
änderte sich dies. Man kann sagen, dass sich in der westlichen Welt mit
dem ersten Weltkrieg die Einstellung zum Krieg verändert hat.
Stiftung: Sie sagen, dass man von kriegerischen Gewaltdynamiken auf
gesellschaftliche Normen der jeweiligen Zeit schließen kann. Könnten Sie
das an einem Beispiel erläutern?
Gilhaus: In der Zeit von 800 bis 300 vor Christus bekriegten sich die
griechischen Poleis – Stadtstaaten ganz unterschiedlicher Größe – vehement
untereinander. Griechen kämpften gegen Griechen. Die Auseinandersetzungen
waren kleinteilig und unterlagen einer unglaublichen Dynamik: Freund-
Feind-Beziehungen unter Stadtstaaten konnten sich dabei schnell ändern. Zu
diesem äußeren Aspekt kommt eine besondere innere Konstitution der
Stadtstaaten. Als weltgeschichtliche Ausnahme kam im alten Griechenland
und insbesondere in Athen erstmals die Vorstellung von der Gleichheit
aller männlichen Bürger auf. Menschliche Beziehungen wurden auf eine
rechtliche Basis gestellt. Prozesse wurden geführt, um Recht
durchzusetzen. Auch das Rachedenken, das für die griechische Kultur
typisch ist, wurde beispielsweise durch den Staat eingehegt und
kanalisiert: Die Beziehungen der Bürger untereinander sollten weitgehend
frei von Gewalt gehalten werden. Die damit gesetzten Normen wiederum
wirkten auf das Verhalten im Krieg. Hinrichtungen in Athen konnten zwar
sehr grausam und entehrend sein, aber sie erfolgten ohne Blutvergießen –
und dieselben Strafen wurden auch im Krieg angewandt.
Stiftung: Inwieweit ist das mit unserem heutigen Verständnis von
Gesellschaft vergleichbar?
Gilhaus: Eher weniger, denn Gewalt war auch in der Polis die Basis der
Macht. Auch die griechischen Eroberer töteten ihre Unterworfenen oder
versklavten sie, aber man schreckte beispielsweise vor Folterungen und
Demütigungen der Feinde eher zurück. Es herrschte auch kein solcher
Triumphalismus wie im alten Rom, wo Stadtbevölkerungen planvoll
massakriert wurden, um Schrecken zu verbreiten, oder Kriegshelden nach
Anzahl der getöteten Feinde gefeiert wurden. An extremen Praktiken kann
man ablesen, wie Gesellschaften funktionieren. So entwickelte sich der
Stadtstaat Athen im fünften Jahrhundert vor Christus zu einer
Ausnahmeerscheinung: Als Zentrum der Demokratie wuchs dieses Imperium und
unterwarf immer mehr andere griechische Städte. Die Athener fühlten sich
nicht mehr wie Gleiche unter Gleichen, die durch ähnliche kulturelle Werte
verbunden waren. Sie tätowierten plötzlich Eulen auf Kriegsgefangene,
hackten Erzfeinden die Daumen ab und griffen zu immer krasseren
Gewaltformen.
Stiftung: Im Rahmen des Stipendienprograms der Daimler und Benz Stiftung
erweitern Sie ihre Forschung auf andere Epochen und Kulturen.
Gilhaus: Wir bleiben in der Vormoderne, nehmen aber weitere Gesellschaften
in den Fokus: die bereits angesprochene römische Republik, das feudale
Japan, das spätmittelalterliche Zentralasien, das Inkareich und das
mittelalterliche Mitteleuropa. Ziel ist es, auch in diesen Kulturen den
Einfluss der Kriegsgewalt auf das Alltagsleben zu verstehen und die
Erkenntnisse dann miteinander zu vergleichen: Wie blickten die Menschen
auf legitime und illegitime Gewalt? Welche Gewalt war im Krieg erlaubt,
welche in den urbanisierten Bereichen?
Stiftung: Welche Quellen nutzen Sie dafür?
Gilhaus: Das ist ganz unterschiedlich, wir stützen uns auf
Geschichtsschreibung, dichterische Quellen, Theaterstücke, philosophische
Schriften, inschriftliche Zeugnisse wie Grabsteine, ikonografische
Zeugnisse wie Vasenmalerei und natürliche auch Waffen- oder Skelettfunde.
Dabei arbeiten wir interdisziplinär zusammen – also Historiker,
Archäologen, Ethnologen und wegen der intensiven Quellenarbeit auch mit
spezialisierten Philologen.
Stiftung: Lassen sich aus den Zusammenhängen von Krieg und Gewalt in
vormodernen Gesellschaften Ableitungen für das Hier und Jetzt treffen?
Gilhaus: Es ist immer schwierig, einen direkten Nutzen zu formulieren.
Vielleicht können wir mit dem Wissen über vormoderne Gesellschaften aber
ein besseres Verständnis für die Verschiedenheit menschlichen Daseins
entwickeln und daraus lernen: Wie funktionieren Mechanismen in fremden
Kulturen, wie funktioniert der Mensch als kulturelles Konstrukt?
Stiftung: Gewalt und Kultur gehören in menschlichen Gesellschaften also
zusammen?
Gilhaus: Auf jeden Fall. Daher ist es wichtig, die emotionalen und
psychischen Mechanismen eskalierender Gewaltsituationen und -exzesse zu
ergründen und die Phänomene in ihrem jeweiligen kulturellen Kontext zu
verstehen. Heutige westliche Gesellschaften verstehen sich als gewaltfrei
und thematisieren daher vor allem Gewalt in den zwischenmenschlichen
Beziehungen und Institutionen, zum Beispiel die physische Gewalt in
Familien während der Covid-19-Pandemie. Aber wir sehen auch Bilder der
Bürgerkriege in Syrien, Libyen oder anderen Ländern. Im Gegensatz zur
Antike werden im heutigen Europa jedoch nicht die politischen Sieger in
den Blick genommen, sondern vor allem die Opfer von Kriegsgewalt.
Allerdings sehen wir Kriegsgewalt als etwas Fremdes an, das unser Leben
nicht tangiert. Gleichzeitig findet bei uns durch die mediale Omnipräsenz
von Bildern leidender Menschen aus entfernten Ländern eine gewisse
Abstumpfung statt.
Stipendienprogramm für Postdoktoranden
Die Daimler und Benz Stiftung vergibt jedes Jahr zwölf Stipendien an
ausgewählte Postdoktoranden mit Leitungsfunktion und Juniorprofessoren.
Ziel ist, die Autonomie und Kreativität der nächsten
Wissenschaftlergeneration zu stärken und den engagierten Forschern den
Berufsweg während der produktiven Phase nach ihrer Promotion zu ebnen. Die
Fördersumme in Höhe von 40.000 Euro pro Stipendium steht für die Dauer von
zwei Jahren bereit und kann zur Finanzierung wissenschaftlicher
Hilfskräfte, technischer Ausrüstung, Forschungsreisen oder zur Teilnahme
an Tagungen frei und flexibel verwendet werden. Durch regelmäßige Treffen
der jungen Wissenschaftler dieses stetig wachsenden Stipendiatennetzwerks
in Ladenburg fördert die Daimler und Benz Stiftung zugleich den
interdisziplinären Gedankenaustausch.
Daimler und Benz Stiftung
Die Daimler und Benz Stiftung fördert Wissenschaft und Forschung. Dazu
richtet sie innovative und interdisziplinäre Forschungsformate ein. Ein
besonderes Augenmerk legt die Stiftung durch ein Stipendienprogramm für
Postdoktoranden sowie die Vergabe des Bertha-Benz-Preises auf die
Förderung junger Wissenschaftler. Mehrere Vortragsreihen sollen die
öffentliche Sichtbarkeit der Wissenschaft stärken und deren Bedeutung für
unsere Gesellschaft betonen.