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„Können Menschen den Lauf der Geschichte steuern?“

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Prof. Dr. Kurt Bayertz  upm/GrewerWissenschaftler am Exzellenzcluster erörtern die jahrhundertealte Frage,
inwiefern Menschen die Zukunft gestalten können und die Geschichte nicht
nur schicksalhaft erleiden – Geschichtsvorstellungen von der Antike bis
heute – Ab Montag Tagung mit Philosophen, Juristen, Historikern –
Öffentlicher Abendvortrag „We the people“ von Rechtswissenschaftler Horst
Dreier

Ob Klimakatastrophe, weltweite Konflikte oder wachsender Populismus:
Menschen können den Verlauf der Geschichte nach Einschätzung von
Wissenschaftlern nur dann bewusst gestalten, wenn sie bei allen
Zukunftssorgen an diese Möglichkeit der Einflussnahme glauben. „Menschen
verhalten sich anders, wenn sie es nicht für möglich halten, die
Geschichte durch ihr Handeln zu steuern“, erläutern die Philosophen Prof.
Dr. Kurt Bayertz und Dr. Matthias Hoesch vom Exzellenzcluster „Religion
und Politik“ vor einer Tagung über das frühere und heutige
Geschichtsbewusstsein. „Viele fragen sich gegenwärtig, ob globale Systeme
wie die Finanzwelt oder internationale Politik nicht durch
Handlungslogiken bestimmt sind, die einer menschlichen Gestaltung der
Geschichte geradezu entgegenstehen. Andere halten es gar für gefährlich,
wenn Einzelne geschichtsträchtige Entscheidungen fällen wollen.“ Die
Vorstellung, dass Menschen Geschichte machen können und sie nicht nur
schicksalhaft erleiden, sei ohnehin erst etwa 250 Jahre alt, so die
Forscher. „Zuvor herrschte in Europas Geistesgeschichte zweieinhalb
Jahrtausende die Idee vor, dass Geschichte entweder zyklisch verlaufe oder
nach göttlichem Plan.“

Auf der Tagung „Die Gestaltbarkeit der Geschichte“ am Exzellenzcluster
befassen sich ab kommenden Montag, vom 27. bis 29. März, Philosophen,
Historiker, Rechtswissenschaftler und Germanisten anhand zahlreicher
Textzeugnisse von Philosophen, Dichtern und Politikern mit der Frage, ob
Menschen den Verlauf der Geschichte gestalten oder ob er ihnen
schicksalhaft zustößt. „Das ist bis heute wissenschaftlich umstritten und
lässt sich nur mit einer Bandbreite an Fächern erörtern“, führt Hoesch
aus. Die Forschung sei etwa uneins darüber, welche Rolle in der
historischen Gestaltung den Individuen, besonders den „großen Männern“, im
Vergleich zu Institutionen und Kollektiven zukomme. Debattiert werde auch,
welche Kollektive – das Volk, das Bürgertum, die Menschheit –
einflussreich seien, und ob die Gestaltung „materialistisch“ an realen
Bedingungen ansetze oder „idealistisch“ an Ideen und Bildung. Schließlich
sei strittig, ob historische Prozesse überhaupt in ihrer Gesamtheit
beeinflusst werden könnten. „Während etwa die Systemtheorie davon ausgeht,
dass globale Systeme eine Eigenlogik entwickeln und sich nicht voll
steuern lassen, meinen andere, Geschichte werde von Zufällen bestimmt.
Viele ökonomische Theorien halten die Steuerung zumindest implizit für
möglich.“

Von der Forschung lange vernachlässigt

Die Forschung hat das Thema lange vernachlässigt: „Nachdem der Marxismus
im 20. Jahrhundert damit scheiterte, Geschichte gezielt zu gestalten,
geriet die ganze Gestaltbarkeitsidee unter Ideologieverdacht.“ Auf der
Tagung greifen die Forscher nun einen intellektuellen Paradigmenwechsel
auf, der sich vor allem zwischen 1750 und 1850 vollzog. „Damals wurde die
traditionelle Vorstellung von Geschichte durch eine neue abgelöst, nach
der uns Geschichte nicht nur ‚zustößt‘“, so die Forscher. Interessant sind
für sie vor allem Textquellen, die die Idee der Gestaltbarkeit nicht offen
ansprachen: neben den philosophischen Klassikern sind das Bücher,
Briefwechsel und Reden von Literaten, politischen Aktivisten und
Naturwissenschaftlern. „Wichtig war in dieser Phase die Entstehung der
Ökonomie und der Sozialwissenschaft, die Formulierung von Verfassungen in
vielen Staaten und die Rolle der Französischen Revolution. Dass das Volk
sich in der Lage sieht, politisch aktiv zu werden, setzt möglicherweise
eine Änderung im Geschichtsbild voraus. Die in der Revolution erlebte
Wirkmächtigkeit lässt wiederum einen Nachhall in der theoretischen
Wahrnehmung der Geschichte vermuten.“ Tatsächlich sei die Formulierung,
dass „der Mensch die Geschichte macht“, genau in dieser Zeit entstanden,
und seit den 1790ern schlagartig allgegenwärtig.

Öffentlicher Abendvortrag „We the people“

Im Rahmen der Tagung „Die Gestaltbarkeit der Geschichte“ sind
Interessierte zum öffentlichen Abendvortrag „We the people“ von
Rechtswissenschaftler und Rechtsphilosoph Horst Dreier eingeladen. Der
Würzburger Wissenschaftler, der im Wintersemester Hans-Blumenberg-
Gastprofessor am Exzellenzcluster war, spricht über Verfassunggebung als
Gestaltungsprozess. Der Abendvortrag ist am Montag, 27. März, um 19.00 Uhr
im Hörsaalgebäude des Exzellenzclusters, Johannisstraße 4 im Hörsaal JO 1
zu hören.

Die Philosophen Prof. Dr. Kurt Bayertz und Dr. Matthias Hoesch vom
Exzellenzcluster veranstalten die Tagung im Rahmen ihres
Forschungsprojektes A2-1 „Die materialistische Weltanschauung im
europäischen Kontext des 18. Jahrhunderts“. (vvm)