Post-COVID bald kein blinder Fleck mehr? DZPG startet mit neuem Forschungsprojekt FEDORA
Stigmatisiert, fehldiagnostiziert und oft ohne Therapie: Deutsches Zentrum
für Psychische Gesundheit will Post-COVID-Wissenslücken schließen.
Langzeitfolgen nach einer SARS-CoV-2-Infektion betreffen zwischen fünf und
zehn Prozent der Infizierten, und rund 0,5 Prozent entwickeln die
schwerwiegendere postvirale Multisystemerkrankung ME/CFS („Chronic Fatigue
Syndrome“). Die sogenannten Post-COVID-Conditions (PCC) sind mittlerweile
als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt, doch viele Betroffene kämpfen
weiterhin mit Stigmatisierung und Falschdiagnosen. Nun startet das
Deutsche Zentrum für Psychische Gesundheit (DZPG) das vom
Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Projekt
FEDORA („Federated network modeling of ecological complex dynamical
patterns in post covid“), um Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten für
PCC zu verbessern und ein umfassendes Verständnis der komplexen Erkrankung
zu entwickeln.
Prof. Martin Walter, DZPG-Standortsprecher und Direktor der Klinik für
Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Jena, betont:
„Psychische Symptome im Rahmen von PCC sind häufig nicht mit bekannten
psychischen Erkrankungen gleichzusetzen, auch wenn diese grundsätzlich bei
PCC gehäuft auftreten können. Oft handelt es sich um eigenständige
neuropsychiatrische Syndrome mit einer individuellen
Versorgungsnotwendigkeit und im Kontext weiterer körperlicher
Beeinträchtigungen.“
Neues Forschungsprojekt FEDORA: Präzise Diagnosen und individuelle
Therapie-Optionen
Mit dem Start des Projekts FEDORA geht das DZPG einen wichtigen Schritt,
um die körperlichen (physiologischen) und neuropsychiatrischen
(neurologischen und psychischen) Muster von PCC zu erforschen. Das Projekt
läuft von November 2024 bis Oktober 2026 und wird mit rund 300.000 Euro
durch das BMBF gefördert. Ziel ist es, langfristige Profile von PCC zu
erstellen und somatische sowie neuropsychiatrische Muster zu
identifizieren, um zukünftig präzisere Diagnosen und individuelle
Therapiepläne zu ermöglichen.
Neue Daten und Methoden im Einsatz
FEDORA nutzt innovative Ansätze, wie die Kombination von physiologischen
Daten (Schlafmuster, Herzfrequenz, körperliche Aktivität) mit subjektiven
Bewertungen der Betroffenen, um ein umfassendes Bild der Erkrankung zu
zeichnen. Dafür setzt das Projekt auf Sensor- und EMA-Daten (Ecological
Momentary Assessment). Diese Daten umfassen kontinuierliche Messungen
physiologischer Parameter durch tragbare Sensoren, wie z.B.
Aktivitätstracker oder Herzfrequenzmonitore, sowie situative Erhebungen
durch Smartphones, bei denen Betroffene mehrmals täglich nach ihrem
aktuellen Zustand und Befinden befragt werden.
Diese Methode erlaubt es, ein detailliertes und zeitlich hochaufgelöstes
Bild von Symptomen und deren Schwankungen zu erfassen. „Durch die
Integration von Sensor- und EMA-Daten können wir sowohl objektive als auch
subjektive Parameter miteinander in Verbindung bringen“, erklärt Prof.
Walter. „Das erlaubt uns, spezifische Muster zu identifizieren und
individuelle Risikoprofile zu erstellen.“
Mithilfe künstlicher Intelligenz analysieren die Forscher diese
vielfältigen Datenquellen, darunter auch Studien zu PCC, Felddaten aus
spezialisierten Zentren und große epidemiologische Datensätze mit mehr als
250.000 gesunden und PCC-betroffenen Personen.
„Unser Ziel ist es, spezifische Subgruppen von Patienten zu identifizieren
und mögliche prognostische Marker zu ermitteln, die auf ein höheres Risiko
für schwerwiegende Langzeitfolgen hinweisen“, so Walter. „Damit schaffen
wir die Grundlage für personalisierte Prävention und Therapieansätze.“
Relevanz für die Psychiatrie und die klinische Praxis
Die gewonnenen Erkenntnisse sollen nicht nur die Diagnostik und Therapie
von PCC verbessern, sondern auch helfen, neuropsychiatrische
Begleiterkrankungen wie Depression, Angststörungen und Post-Exertionelle
Malaise (Belastungsintoleranz) zu minimieren.
„FEDORA trägt dazu bei, dass Betroffene angemessene Unterstützung und
Therapieangebote erhalten und ihre körperlichen und kognitiven Ressourcen
gestärkt oder wiederaufgebaut werden“, so Prof. Andreas Heinz,
Gründungsprecher des DZPG.
Prof. Andreas Meyer-Lindenberg, ebenfalls Gründungssprecher, ergänzt: „Mit
FEDORA setzt das DZPG einen wichtigen Schritt, um PCC langfristig besser
zu verstehen und die Versorgung der Betroffenen und damit auch die
Situation der Angehörigen zu verbessern. Die Forschung wird damit zu einem
wichtigen Baustein im Kampf gegen die wachsende Belastung durch Long
-/Post-COVID in der Gesellschaft."
Eine konkrete Perspektive zur Umsetzung der in FEDORA gewonnen Einsichten
in eine verbesserte klinische Versorgung von PCC-Patienten ergibt sich
durch die enge Verzahnung mit einem weiteren, vom Bundesministerium für
Gesundheit (BMG) geförderten Projekt. Im REMIT-Projekt („Remote Monitoring
& Intervention for Optimized Care of Post-COVID Condition”) arbeitet ein
interdisziplinäres Expertenteam des DZPG unter Leitung von Prof. Nils Opel
(DZPG Standort Jena) mit Industriepartnern zusammen, um die gewonnenen
Erkenntnisse in innovative digitale Diagnostik- und Versorgungsansätze für
PCC-Patienten zu übertragen. Dabei werden sowohl technische Lösungen als
auch begleitende Maßnahmen entwickelt, wie beispielsweise Schulungen für
Behandelnde, um digitale Tools in unterschiedlichen
Versorgungseinrichtungen – von hausärztlichen Praxen bis hin zu
spezialisierten universitären Post-Covid Zentren – effektiv zu nutzen.
HINTERGRUND
Was ist PCC?
Die meisten Menschen, die an Viren erkrankt sind, erholen sich innerhalb
weniger Wochen. Doch wenn Symptome nach der anfänglichen akuten
Infektionsphase anhalten, spricht man von chronischen postviralen
Syndromen. Sie waren in der Vergangenheit ein „blinder Fleck“ für die
medizinische Forschung. Doch angesichts des dringenden Problems von Post-
COVID Conditions wendet die medizinische Gemeinschaft ihre Aufmerksamkeit
nun verstärkt der Suche nach Mechanismen, Behandlungen und potenziellen
Heilung zu.
Denn Schätzungen sind zwar schwierig, aber Forschungen gehen momentan
davon aus, dass bis zu zehn Prozent aller an SARS-CoV-2 Erkrankten das PCC
entwickeln. In Deutschland wären das mehr als vier Millionen Betroffene.
PCC können Wochen, Monate oder Jahre andauern und eine Vielzahl von
Organen betreffen, darunter Herz, Lunge, Gehirn, Blutgefäße und Magen-
Darm-Trakt.
Symptome
(Quelle:
https://www.rki.de/SharedDocs/
abgerufen am 9. Oktober 2024)
Die am häufigsten berichteten längerfristigen Symptome:
• Atembeschwerden oder Kurzatmigkeit
• Müdigkeit oder Erschöpfung
• Symptome, die sich nach körperlichen oder geistigen Aktivitäten
verschlimmern (auch bekannt als postexertionales Unwohlsein)
• Denk- und Konzentrationsschwierigkeiten (manchmal auch als „Brain
Fog“ bezeichnet)
• Husten
• Schmerzen in Brust oder Magen
• Kopfschmerzen
• Schnell schlagendes oder pochendes Herz
• Gelenk- oder Muskelschmerzen
• Gefühl von Nadelstichen und Stichen
• Durchfall
• Schlafprobleme
• Fieber
• Schwindelgefühl und Benommenheit
• Ausschlag
• Stimmungsschwankungen
• Veränderung von Geruchs- oder Geschmackssinn
Bei manchen Patienten treten nur ein oder zwei dieser Symptome auf, bei
anderen hingegen sind es viele. Auch der Schweregrad der Symptome variiert
von leicht bis lebensverändernd schwer. Die Schwere des COVID- und des
PCC-Verlaufs sind nicht voneinander abhängig.