Angeborene Herzfehler: Psychokardiologie kommt viel zu kurz

Zum Tag des herzkranken Kindes am 5. Mai: Aktionsbündnis Angeborene
Herzfehler (ABAHF) fordert Ausbau fachgerechter psychokardiologischer
Betreuungsangebote für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit angeborenem
Herzfehler (EMAH) sowie deren Angehörige/ Herzstiftungs-Vorstand:
„Massiver Versorgungsengpass“
Jährlich kommen 8.700 Kinder mit einem angeborenen Herzfehler in
Deutschland zur Welt. Über 95 Prozent von ihnen erreichen heute Dank der
Fortschritte in der Kinderherzchirurgie und Pädiatrischen Kardiologie das
Erwachsenenalter. Sie bilden mit den schon heute in Deutschland lebenden
über 350.000 Erwachsenen mit angeborenem Herzfehler (EMAH) eine stetig
wachsende Patientengruppe. Ein Großteil von ihnen benötigt lebenslang eine
sorgfältige regelmäßige medizinische Nachsorge. Für einen Menschen mit
angeborenem Herzfehler kann je nach Komplexität des Herzfehlers der damit
verbundene Eingriff oder die Eingriffe traumatische Folgen haben. Und auch
im weiteren Krankheitsverlauf können Menschen mit angeborenem Herzfehler
neben den körperlichen Auswirkungen ihres Herzfehlers mit vielfältigen
seelischen Belastungen und Ängsten konfrontiert sein: mit der Angst vor
dem eigenen operierten Herz in Belastungssituationen, etwa beim Toben oder
beim Sport, der Angst vor Ausgrenzung (sichtbare Narbe beim Schwimmen)
oder vor dem bevorstehenden Herz-Eingriff, einem neuen Implantat
(Herzschrittmacher, Stent, implantierbarer Defi) oder einer Dauertherapie
mit Gerinnungshemmern. Nicht nur die Eltern sind in ihrer Fürsorgefunktion
mit den seelischen Problemen ihrer Kinder konfrontiert; auch die
Angehörigen von EMAH sind stets betroffen, wenn das erkrankte
Familienmitglied erneut stationär behandelt oder gar einer neuen Operation
unterzogen werden muss. Allein im Jahr 2022 wurden über 7.200 chirurgische
Operationen bei Patienten mit angeborenem Herzfehler und über 8.100
Herzkatheter-Untersuchungen und -Interventionen durchgeführt (Deutscher
Herzbericht – Update 2024).
„Wir wissen, dass Betroffene nicht nur mit den physischen Folgen ihrer
Erkrankungen zu kämpfen haben, sondern auch mit seelischen Belastungen,
die sich im Laufe des Lebens verstärken können. Es ist daher wichtig, die
psychische Gesundheit von Anfang an mitzudenken“, betont Prof. Dr. Stefan
Hofer, Elternvertreter herzkranker Kinder im Vorstand der Deutschen
Herzstiftung, eine von mehreren Patientenorganisationen im Aktionsbündnis
Angeborene Herzfehler (ABAHF). „Menschen mit angeborenem Herzfehler
bedürfen einer psychokardiologischen Betreuung, die fachgerecht auf ihre
spezifischen Bedürfnisse zugeschnitten ist.“ Zum Tag des herzkranken
Kindes (5. Mai) fordert das ABAHF (https://www.abahf.de) mit hoher
Dringlichkeit den Ausbau entsprechender Versorgungsangebote, um allen
Betroffenen und deren Familien den Zugang zu psychokardiologischer
Betreuung zu ermöglichen.
„Kein flächendeckendes Versorgungsangebot“
Aufgrund der wachsenden Zahl der Kinder und Erwachsenen mit angeborenem
Herzfehler (EMAH) nimmt auch der Bedarf an einem fachgerechten
psychokardiologischen Versorgungsangebot zu. „Leider sehen wir aber einen
massiven Versorgungsengpass gerade im Bereich der Psychokardiologie mit
Fokus auf angeborene Herzfehler – ein flächendeckendes Angebot gibt es
bislang nicht“, warnt Prof. Hofer. „Für viele Kinder mit seelischen
Problemen und Bedarf an psychokardiologischer Betreuung – ebenso für ihre
Eltern – stellt dieser Engpass ein großes Problem dar. Das gilt natürlich
auch für EMAH.“ Betroffene Eltern herzkranker Kinder und EMAH können sich
bei Bedarf für eine psychokardiologische Betreuung an Kliniken und
Herzzentren wenden, die im Bereich der Erwachsenenkardiologie eine
psychokardiologische Versorgung mit Fokus auf angeborene Herzfehler
anbieten. Zu nennen sind hier beispielhaft das Deutsche Herzzentrum der
Charité Berlin (DHZC), das Herzzentrum der Universitätsmedizin Göttingen
(UMG), das Herzzentrum Leipzig und das Deutsche Herzzentrum München der
TUM. Vereinzelt bestehen auch psychokardiologische Versorgungsangebote in
Reha-Kliniken mit kardiologischer Reha.
Psychokardiologie: ein lebensbegleitendes Thema?
Dass es in Deutschland Nachholbedarf im Bereich Psychokardiologie für
Menschen mit angeborenem Herzfehler gibt, sehen auch Experten auf diesem
Gebiet. „In der deutschen Psychokardiologie sind EMAH erst seit relativ
kurzer Zeit ein Thema und zu Kindern und ihren Familien dürfte es nicht
besser aussehen“, berichtet Prof. Dr. Christoph Herrmann-Lingen vom
Wissenschaftlichen Beirat der Deutschen Herzstiftung und Direktor der
Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der
Universitätsmedizin Göttingen sowie Mitglied im Vorstand des Herzzentrums
Göttingen. Der Experte für Psychokardiologie forscht derzeit an der Frage,
inwiefern Psychokardiologie bei Patienten mit angeborenem Herzfehler, je
nach Krankheitsverlauf und Komplexität des Herzfehlers, ein
lebensbegleitendes Thema ist.
Wenn beispielsweise ein EMAH vor mehr als 18 Jahren mit einem Ein-Kammer-
Herz geboren wurde, hat er/sie unter Umständen mehrere Operationen in
Kindheit und Jugend hinter sich. Aber auch die grundsätzlichen
medizinischen Rahmenbedingungen haben sich rund um die Versorgung solcher
Herzfehler verändert. Heute kommen herzkranke Kinder in aller Regel
gemeinsam mit ihren Eltern in die Kliniken und haben dort auch deren
stetigen Beistand. EMAH, die in den 1980er oder 1990er Jahren operiert
worden sind (damit heute im noch jungen Alter zwischen 35 und 45), waren
zum Teil wochenlang völlig allein in der Klinik untergebracht. Auch können
im Verlauf des weiteren Lebens Komplikationen wie Herzrhythmusstörungen
hinzukommen, die zusätzlich zu versorgen sind. Ähnlich verhält es sich bei
Patienten mit einer Transposition der großen Arterien (TGA). Neben
medizinischen Versorgungsthemen kommen für viele dieser Patienten meistens
weitere Themen hinzu, „die sie ein Leben lang begleiten, oft belasten und
auch zu psychischen und psychosomatischen Problemen führen können“, so
Prof. Herrmann-Lingen.
Seiner Einschätzung nach kommt die Mehrheit der betroffenen EMAH „auf der
Oberfläche“ gut mit der Erkrankung zurecht. „Aber in Schwellensituationen,
etwa bei auftretenden somatischen Komplikationen, invasiven Behandlungen
oder bei der Familiengründung, Schwangerschaft oder der Berufswahl, können
psychische Belastungen entstehen, die eine psychokardiologische
Unterstützung erfordern“, berichtet der Experte für Psychokardiologie
Prof. Herrmann-Lingen.
Psychokardiologie auch mit Fokus auf angeborene Herzfehler
Die Psychokardiologie verfolgt einen fächerübergreifenden Ansatz. Die noch
recht junge medizinische Disziplin der Psychokardiologie befasst sich mit
den Wechselwirkungen zwischen Herzerkrankungen und Psyche. Sie behandelt
sowohl psychische Beschwerden, die durch die Auseinandersetzung mit der
Herzerkrankung entstehen, als auch Herzkrankheiten, die durch psychischen
Stress ausgelöst oder gefördert wurden. In den vergangenen 20 Jahren
konnte das Behandlungsangebot der Psychokardiologie für Patienten mit
erworbenen Herzkrankheiten in Deutschland deutlich ausgebaut werden.
Inzwischen arbeiten viele kardiologische Akutkliniken eng mit
psychosomatischen Diensten zusammen. Sie bieten zum Beispiel
unterstützende Gespräche an und helfen bei der Anbahnung einer
Psychotherapie.
„Wir setzen uns für eine stärkere Integration psychologischer
Unterstützung für alle Menschen mit angeborenen Herzfehlern in die
medizinische Versorgung ein. Nicht erst in späteren Lebensabschnitten,
sondern vom Säugling beginnend über die Eltern, denn psychisch gesunde und
ausgeglichene Eltern fördern die psychische Stabilität von Kindern mit
angeborenem Herzfehler“, betont Kai Rüenbrink, Sprecher des ABAHF. Die
Patientenorganisationen des ABAHF setzen hierbei auf Herzzentren mit
Expertise in der psychokardiologischen Betreuung auch im Bereich der
Angeborenen Herzfehler wie die genannten in Berlin, Göttingen, Leipzig und
München, deren Vorbildcharakter für neu entstehende Einrichtung dienen
könnte.
„Der Tag des herzkranken Kindes soll erneut als Anstoß dienen, auf die
aktuelle Versorgungssituation von Menschen mit angeborenem Herzfehler
hinzuweisen. Wir fordern alle Entscheider im Gesundheitswesen dazu auf,
gemeinsam mit uns und anderen Patientenorganisationen sowie den
kardiologischen Fachgesellschaften Wege zu finden, um die psychische
Gesundheit als wesentlichen Bestandteil der Behandlung auch für diese
Patientengruppe zu etablieren“, betonen die im ABAHF vertretenen
Patientenorganisationen einstimmig.
(wi)
Das Aktionsbündnis Angeborene Herzfehler (ABAHF)
Um in der Öffentlichkeit mit einer Stimme für eine bessere Versorgung von
Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit angeborenen Herzfehlern und
deren Familien einzutreten und ihnen noch effektiver zu helfen, haben sich
2014 auf Initiative der Deutschen Herzstiftung e. V. bundesweit tätige
Patientenorganisationen zum „Aktionsbündnis Angeborene Herzfehler“ (ABAHF)
zusammengeschlossen. Die Organisationen sind: Bundesverband Herzkranke
Kinder e.V., Bundesverein Jemah e.V., Herzkind e.V.,
Interessengemeinschaft Das Herzkranke Kind e.V. und die Kinderherzstiftung
der Deutschen Herzstiftung e.V.
Etwa 8.700 Neugeborene mit angeborenem Herzfehler kommen in Deutschland
jährlich zur Welt. Heute erreichen rund 95 % dieser Kinder dank der
Fortschritte der Kinderherzchirurgie und Kinderkardiologie das
Erwachsenenalter. Die Zahl der Erwachsenen mit angeborenem Herzfehler
(EMAH) wird auf über 350.000 geschätzt.
Zur ABAHF-Homepage: https://www.abahf.de/