Wahrheit - Neues Heft der WZB-Mitteilungen erschienen
Der Kampf um die Wahrheit wird härter: Konkurrierende Erzählungen und
Erklärungen über die Welt strukturieren Gesellschaften. Je nach Weltsicht
grenzen sich Gruppen immer schärfer gegeneinander ab. Und Desinformation
wird gezielt eingesetzt, um Machtverhältnisse zu beeinflussen. Dem Thema
Wahrheit widmet das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB)
ein ganzes Heft seines Forschungsmagazins. Die jetzt erschienene Ausgabe
enthält Analysen zu populistischen Weltsichten, zu Fundamentalismus, zur
Digitalisierung und zu persönlichen Entscheidungen. Ergänzt werden die
Beiträge um Bilder, die nicht einfach die Wahrheit ablichten.
Folgende Autorinnen und Autoren haben zum Heft beigetragen:
Dass die Wahrheit in Bedrängnis gerät, konstatiert Gunnar Folke Schuppert.
Angesichts der Radikalisierung der Fundamentalist*innen warnt er vor der
Gefährdung des für die Demokratie essenziellen kommunikativen Austauschs.
Die Risiken, die von Technologien der Künstlichen Intelligenz für die
Demokratie ausgehen, analysieren Jelena Cupać und Mitja Sienknecht. Die
geplante EU-Verordnung zur Regulierung von KI gehe absehbar nicht weit
genug.
Und noch ein Mahner: Michael Zürn betont, dass der Anspruch auf Wahrheit
unverzichtbar ist. Ein Relativismus, der allen Narrativen gleichen Wert
einräumt, beraubt die liberale Demokratie ihrer Legitimität.
Edgar Grande verlässt das Zentrum für Zivilgesellschaftsforschung, das er
vor fünf Jahren am WZB mitgegründet hat. Ein Abschiedsinterview über die
Rolle der Zivilgesellschaft – und der Bildung, die den und die Einzelne
befähigt, mit den Krisen und Transformationen der Gegenwart umzugehen.
Online ist ein Interview mit Grandes Nachfolger Swen Hutter zu sehen, der
die Bedeutung von Wahrheit für derzeitige Proteste analysiert. Er
erläutert das Radikalisierungspotenzial bei Demonstrationen und die
Wirkmacht von extremen Positionen.
Peter J. Katzenstein hält den politischen Wissenschaften den Spiegel vor.
In seiner Disziplin werde immer noch zu mechanistisch argumentiert – als
lebten wir in einer Welt berechenbarer Risiken. Mit dieser Weltsicht sei
etwa einem Donald Trump nicht beizukommen, der Unberechenbarkeit und
Ungewissheit bewusst für seine Zwecke einsetzt.
Unsere Gesellschaft sei nicht auf dem Weg zu einer Wissenskultur des Post-
Truth, hält Wolfgang van den Daele dagegen. Der Wissenssoziologe sieht
bleibende Geltungsansprüche wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Die Entstehung der Bilder des Heftes werden von den beiden Kreativen
Gesine Born und Pavel Nekoranec, bei denen die Bildredaktion lag,
erläutert. Auf Künstlicher Intelligenz beruhende Bildgeneratoren schaffen
auf der Grundlage textlicher Eingaben echt wirkende, aber komplett
synthetische Motive. Die Wissenschaftler Florian Irgmaier und Florian
Eyert dämpfen Ängste, dass dadurch Wahrheit und Lüge ununterscheidbar
werden könnten. Ein reflektierter Umgang mit Technik sei schon immer Teil
der Wahrheitssuche gewesen.
In der Online-Ausgabe setzt sich Anna Skarpelis mit den Grenzen der
automatisierten Gesichtserkennung auseinander: Die hier wirksamen neuen
Algorithmen reproduzieren alte Stereotype.
Beschränken ethische Regeln die Freiheit wissenschaftlicher Erkenntnis?
Katrin Schaar wägt Forschungsethik und Forschungsfreiheit gegeneinander ab
und zeigt, dass beide Ansprüche gewinnbringend miteinander verbunden
werden können.
In den Mikrokosmos der menschlichen Interaktion steigt der Ökonom Steffen
Huck ein. Die Frage danach, was andere denken und beabsichtigen, also die
Frage nach der Wahrheit, ist eine Grundfrage der
Wirtschaftswissenschaften.
Diese Grundfrage haben Kai Barron und Tilman Fries in ein Experiment
gegossen. Es geht um Anlageberatung und Anlageentscheidung – und es zeigt
sich, dass Menschen sich durchaus von Lügen überzeugen lassen, wenn sie
gut getarnt sind. Kohärenz ist also ein zentraler Prüfstein für die
Wahrheit eines vorgestellten Szenarios.
Ein zweites Experiment beschreibt Dorothea Kübler: Hier geht es um die
Auswahl von Bewerberinnen und Bewerbern. Zunehmend wird auch hier mit
Künstlicher Intelligenz gearbeitet. Doch offensichtlich ist das Misstrauen
gegenüber Algorithmen groß – bei Personalverantwortlichen wie bei denen,
die sich bewerben.
In einem Online-Artikel stellen Thamy Pogrebinschi, Maria Dominguez und
Mariana Borges Martins da Silva am Beispiel Brasilien dar, wie
Zivilgesellschaft aktiv politische Desinformation bekämpfen kann.
Die WZB-Mitteilungen sind das vierteljährlich erscheinende
Forschungsmagazin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
(WZB). Das Heft kann kostenfrei abonniert werden: