Befischung nach der Oder-Katastrophe zeigt: von Erholung keine Spur, kaum Fische und nach wie vor zu hohe Salzgehalte
Seit 23 Jahren und mindestens dreimal im Jahr führt das Leibniz-Institut
für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) eine wissenschaftliche
Befischung auf der Oder durch. Die Routinebefischung am 29. November
dieses Jahres war die erste große Bestandsaufnahme in der Strommitte der
Oder nach der menschengemachten Umweltkatastrophe im Sommer. Das Ergebnis:
Insgesamt wurde deutlich weniger Fisch gefangen, für dieses Ökosystem
wichtige Arten wie Zope und Rapfen fehlten ganz. Wasseranalysen der
Forschenden zeigen zudem, dass die Salzkonzentration nach wie vor deutlich
zu hoch ist. Die Katastrophe könnte sich bei steigenden Temperaturen
wiederholen und die Restbestände gefährden.
Am 29. November 2022 befischte das Team um IGB-Wissenschaftler Christian
Wolter die Oder von Hohensaaten bis zum Marienhofer Wehr mit einem
Forschungsschiff. Diese Befischung in der Strommitte der Oder war die
erste große Bestandsaufnahme nach der Umweltkatastrophe im Sommer 2022,
bei der es zu einem Massensterben von Fischen, Muscheln und anderen
Weichtieren gekommen war.
Dem IGB gelang es bereits im August, hohe Konzentrationen der
Brackwasseralge Prymnesium parvum im Fluss zu nachzuweisen. Die Alge kann
starke Giftstoffe bilden, was auch in der Oder geschah. Die Ursache war
jedoch nicht natürlich, sondern menschengemacht: In der Oder konnte sich
die giftige Alge nur aufgrund des hohen Salzgehalts, der hohen
Nährstoffkonzentrationen, der niedrigen Wasserführung und der warmen
Temperaturen massenhaft entwickeln.
Nicht nur weniger Fische, sondern auch Muscheln und Schnecken stark
dezimiert:
Bei der Befischung holte das Forschungsteam das große Schleppnetz
insgesamt 12 Mal entlang der 37 Flusskilometer langen Strecke ein. 1.000
Meter zieht der Heckschlepper das Netz bei jedem Durchgang. Die Befischung
nach wissenschaftlichen Standards ermöglicht eine Vergleichbarkeit über
Jahrzehnte. Die Ergebnisse zeigen ganz klar: Von einer „Erholung" der Oder
kann definitiv keine Rede sein. Die menschengemachte Umweltkatastrophe hat
die Bestände über alle Arten hinweg drastisch reduziert. Das gilt auch für
wichtige Arten wie Zope und Rapfen, die für dieses Fließgewässer-Ökosystem
typisch sind. Von ihnen wurde kein einziges Exemplar gefangen — und auch
nur sehr wenige Güstern gingen ins Netz.
Insgesamt fingen die Forschenden nur die Hälfte der Fische im Vergleich
zum Durchschnitt der Vorjahre. Auch Muscheln und Schnecken, die bei der
Befischung gelegentlich im Netz landen, aber nicht routinemäßig erfasst
werden, waren dieses Mal kaum vorhanden. „Die Muscheln wurden durch die
Oder-Katastrophe um die Hälfte ihrer Biomasse reduziert“, schätzt
Christian Wolter. Sie seien die wichtigsten Filtrierer im Ökosystem und
auch eine Nahrungsgrundlage für die Fische. „Es wird noch sehr lange
dauern, bis die Bestände wieder aufgebaut sind, denn Muscheln sind nicht
so mobil, um zügig aus Refugien wieder einzuwandern“, sagt der Ökologe.
Er rät daher dringend: „Es ist jetzt wichtig, alles zu tun, um das
Ökosystem Oder zu schützen, damit möglichst viele Tiere überleben. Das
bedeutet auch, Lebensräume wieder zu renaturieren und stoffliche Einträge
deutlich zu senken.“
Salzgehalte immer noch viel zu hoch, Einleitungen nicht vermindert:
Tatsächlich haben Messungen der Leitfähigkeit während der Befischung
gezeigt, dass die Salzgehalte immer noch deutlich zu hoch sind. Am Pegel
Frankfurt Oder liegt die Leitfähigkeit seit Mitte November bei über 1.900
Mikrosiemens pro Zentimeter (microS/cm), zum Zeitpunkt der Beprobung am
30. November lag der Wert bei über 2.000 microS/cm und damit über der
Messbereichsgrenze. In der Unteren Oder lag sie bei über 1.400 microS/cm.
Das ist immer noch hoch, obwohl das Wasser dort durch den Zufluss der
Warthe bereits verdünnt ist.
Tobias Goldhammer hat mit seinem Team im IGB-Chemielabor die Wasserproben
untersucht. „Unsere chemischen Analysen zeigen ein sehr ähnliches
Ionenprofil wie im Sommer. Der Hauptbestandteil der Salzfracht ist
weiterhin Natriumchlorid, also übliches Kochsalz. Wir haben in den
Wasserproben aus der Unteren Oder etwa 400 Milligramm davon pro Liter
Wasser gefunden, das ist in etwa die Hälfte der gesamten Salzmenge in
diesen Proben. Wir wissen von den Messstellen auch, dass flussaufwärts
noch viel mehr davon im Flusswasser gelöst sein muss. Daraus schließen
wir, dass die Einleitungen unvermindert weitergehen“, erklärt der
Biogeochemiker.
Konzentrationen statt Frachten festlegen:
Zudem ist der aktuelle Durchfluss mit 130 Kubikmetern pro Sekunde (m³/s)
höher als im August 2022, als er nur 85 m³/s betrug. Das Salz wird nun
also in einer größeren Wassermenge transportiert. „Das bedeutet, dass die
tatsächlichen Salzfrachten jetzt sogar noch größer sind als im Sommer. Es
ist daher dringend notwendig, die Einleitgenehmigungen bis April 2023 von
‚Frachten‘ auf ,Konzentrationen‘ umzustellen und einen ökologisch
verträglichen Grenzwert auf wissenschaftlicher Basis festzulegen“, betont
Christian Wolter. „Gerade weil es sich bei Kochsalz ja um eine für sich
ungefährliche Ausgangssubstanz handelt, wäre es vergleichsweise einfach,
durch gezieltes Management und Vorverdünnung die effektiven
Konzentrationen im Fluss zu reduzieren“, ergänzt Tobias Goldhammer.
Andernfalls bestünde ein hohes Risiko, dass sich die Katastrophe
wiederholt – und zwar prinzipiell in jedem Sommer wieder. Im Sediment der
Oder sind bereits Dauerstadien der Brackwasseralge Prymnesium parvum
nachgewiesen worden. Diese können erwachen, sobald wieder geeignete
Lebensbedingungen vorhanden sind. „Das Einzige, was aktuell für eine
Massenentwicklung noch fehlt, sind wärmere Temperaturen", sagt Christian
Wolter.
Ausbau der Oder würde Niedrigwasser verstärken – und damit die
Voraussetzungen für Algenblüten verbessern:
An den Empfehlungen der IGB-Forschenden hat sich daher seit dem Sommer
nichts geändert. Allen voran sollten die flussbaulichen Maßnahmen zur
Vertiefung und Verbreiterung der Oder gestoppt werden: „Wenn wir die
mittelbaren Ursachen der Oder-Katastrophe betrachten, dann begünstigten
Niedrigwasser und höhere Verweilzeiten des Wassers die Massenentwicklung
der Alge. Der Ausbau der Oder würde das Einsetzen und die Dauer von
Niedrigwasserständen fördern, weil das Wasser, wenn es da ist, im Frühjahr
schneller ins Meer fließt. Dieser schnellere Abfluss führt zusätzlich zu
noch mehr Tiefenerosion, der Fluss gräbt sich tiefer ein. Die
Wasserspiegel in den Auen würden dann bei geringeren Durchflüssen noch
weiter absinken und die Landschaft entwässern“, erläutert Christian
Wolter.
Renaturierung würde Wasserhaushalt im Fluss und in der Landschaft
stabilisieren:
Richtig wäre genau das Gegenteil: Durch die Renaturierung des Hauptlaufs
und die Wiederanbindung an Nebengewässer würde das Flussbett durch
natürlichen Sedimenttransport wieder angehoben, Auen würden überflutet und
damit ihre Rückhaltefunktion gestärkt — und das Wasser in der Landschaft
zurückgehalten.
Den Fischbeständen die Möglichkeit zur Erholung geben:
Einige Fische haben Glück gehabt: Der Ostseeschnäpel, der in Deutschland
nur in der Oder laicht, befand sich zum Zeitpunkt der Katastrophe in der
Ostsee. Nun konnte er im Winter in den Fluss aufsteigen, um sich
fortzupflanzen. Das Team von Christian Wolter konnte einige Exemplare
nachweisen.
Auch ein paar größere Laichfische von Blei, Hecht und Zander gingen den
Forschenden ins Netz, sie hatten vermutlich in den verbliebenen
unbelasteten Nebengewässern Zuflucht gefunden. Insgesamt werden die
Bestände jedoch noch einige Jahre benötigen, um sich zu erholen – wenn sie
die Chance dazu bekommen, d.h. Maßnahmen zur Verbesserung ergriffen werden
und sich die Katastrophe nicht wiederholt.
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Zur Routinebefischungen des IGB auf der Oder
Der Fischökologe Christian Wolter befährt mindestens dreimal im Jahr
größere Abschnitte der Oder mit dem Schleppnetz. Auf diese Weise können
die Forschenden den Zustand der Fischbestände erfassen sowie Veränderungen
zwischen Jahreszeiten, Jahren, kürzeren oder längeren Zeiträumen
feststellen. Datenreihen seit 1999 dienen als Vergleich.
Die gefangenen Fische werden an Bord nach Art und Geschlecht
identifiziert, gewogen und vermessen. Anschließend werden die Tiere
vorsichtig zurückgesetzt. Ergänzt wird diese Befischung per Boot durch
schonende Elektrobefischungen vom Ufer aus, um alle Fische der
verschiedenen Lebensräume in der Oder zu erfassen.