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Politik

Kieler Ausgabenmonitor: Der Staat braucht mehr Spielraum für Verteidigung und Forschung

Trotz aller Besorgnis über den Krieg Russlands gegen die Ukraine und die
wirtschaftliche Stärke der USA und Chinas, lassen die Ausgaben der
Bundesregierung für die äußere und innere Sicherheit sowie für die
Förderung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit bislang keine besondere
politische Dringlichkeit erkennen. Sehr viel mehr Geld fließt für
Umverteilungs- und Sozialausgaben. Dies zeigt eine Betrachtung des
aktuellen Bundeshaushalts 2024 nach seinen gesamtwirtschaftlichen
Wirkungen und nicht wie üblich nach Ressorts.

Der heute veröffentlichte Kieler Bundesausgabenmonitor 2024 (https://www
.ifw-kiel.de/de/publikationen/der-kieler-bundesausgabenmonitor-2024-eine-
empirische-strukturanalyse-des-bundeshaushalts-33123/
) zeigt, dass die
Zuweisungen für Verteidigung (ohne Ministerialausgaben, Pensionen,
Universitäten der Bundeswehr etc.), Bundespolizei und Energiesicherheit –
auch nach einer Steigerung im Vergleich zum Vorjahr um 11,8 Mrd. Euro auf
68,4 Mrd. Euro – im aktuellen Jahr 2024 nur 11,4 Prozent des Gesamtetats
ausmachen. Das sind nur 2,7 Punkte mehr als im Jahr 2000, als der
Verteidigungshaushalt von der Verteilung der „Friedensdividende“ geprägt
war.

Auch Ausgaben, die die Wirtschaft stimulieren und gesamtwirtschaftliche
Erträge erwarten lassen, genießen nur eine geringe Priorität. Dazu zählen
vor allem Bundesausgaben für Forschung, Bildung und Infrastruktur (ohne
Schiene und digitale Netze, deren Infrastrukturausgaben sind unter
Subventionen verbucht). Im Jahr 2024 veranschlagt der Bund dafür 46,2 Mrd.
Euro oder 7,7 Prozent des Gesamthaushalts. Damit liegt der Anteil sogar
leicht unter dem Vorjahresniveau und lediglich 1,7 Prozentpunkte über dem
Niveau aus dem Jahr 2000. In die Grundlagenforschung fließen 2024 mit 14
Mrd. Euro nur 2,3 Prozent der Bundesausgaben.

Umverteilungs- und Sozialausgaben dominieren

Hingegen beanspruchen Ausgaben zur Korrektur der Einkommensverteilung
(Sozialausgaben, Länderfinanzausgleich), die Finanzhilfen des Bundes
(Ausgabesubventionen) und Altlasten (Pensionen, Beihilfen, Zinsen) mit
67,7 Prozent zusammengenommen weiterhin mehr als zwei Drittel des Etats.
Allein die Sozialausgaben und Ausgaben für Umverteilungsbürokratie in
Höhe von 212 Mrd. Euro erreichen im Jahr 2024 35,4 Prozent aller
Bundesausgaben.

„Unsere empirische Analyse der Bundesausgaben zeigt, dass nach wie vor zu
wenig Steuermittel in die äußere und innere Sicherheit sowie in Maßnahmen
zur Stimulierung der Marktwirtschaft investiert werden“, sagt Claus-
Friedrich Laaser, Subventionsexperte am IfW Kiel. „Gleichzeitig fließen
weiterhin große Summen in breit angelegte sozialpolitische Maßnahmen, die
im Gegensatz zu gezielten Umverteilungen ökonomisch fragwürdig sind.“

„Die eingetretenen und drohenden Krisen in Europa, Asien und den USA haben
den Problemdruck und damit den Finanzbedarf des Staates rasant ansteigen
lassen, während die enormen Zuschüsse des Bundes an die allgemeine
Rentenversicherung, die gesetzliche Krankenversicherung, private
Unternehmen und Haushalte sowie sogenannte Organisationen ohne
Erwerbszweck nicht von heute auf morgen heruntergefahren werden können.

Der Staat braucht aber neue finanzielle Spielräume, um in Zeiten
wachsender Herausforderungen durch krisenhafte Entwicklungen lange
vernachlässigte Aufgaben in den Bereichen Sicherheit, Infrastruktur,
Bildung und Forschung zu erfüllen. Auch in der Sozialpolitik dürfte kein
Weg an einem Ausgabenmoratorium vorbeiführen, etwa durch eine Begrenzung
des Bundeszuschusses zur Rente oder weitere Schritte zur Stabilisierung
der Alterssicherung.“

Im Verhältnis zum BIP: Verteidigungsausgaben nur bei 1,5 Prozent

Im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) machen die Sozialausgaben und
andere Bundesausgaben zur Korrektur der Einkommensverteilung 2024 mit 5,3
Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) den höchsten Anteil seit über 10
Jahren aus, während die Finanzhilfen des Bundes 3 Prozent des BIP
entsprechen. Die klassischen Bundesausgaben für die innere und äußere
Sicherheit machen dagegen nur 1,6 Prozent des BIP aus, die darin
enthaltenen Verteidigungsausgaben sogar nur 1,5 Prozent.

Deutschland erfüllt 2024 offiziell durchaus die sogenannte NATO-Quote,
nach der die Verteidigungsausgaben mindestens 2 Prozent des BIP betragen
sollen. Die von der Bundesregierung gemeldeten 2,1 Prozent kommen
zustande, weil nach den NATO-Regeln die Mitgliedsstaaten Ausgaben für
Pensionen, Verwaltung und Ausbildung sowie bestimmte verteidigungsnahe
Ausgaben ihrer Außenministerien und anderer Ressorts – etwa für
Friedensmissionen oder Ukraine-Hilfen – hinzurechnen dürfen.

Doch selbst nach Einbeziehung aller Positionen, die unmittelbar dem
Verteidigungshaushalt zuzurechnen sind, im Bundesausgabenmonitor aber
anderen funktionalen Ausgabenkategorien zugeordnet werden, steigt die
Ausgabenquote nach IfW-Berechnungen auf maximal 1,7 Prozent des BIP. Je
nach Ansatz liegen die Verteidigungsausgaben damit nur um 0,4 bzw. 0,6
Prozentpunkte höher als im Jahr 2000, als nach dem Ende des Kalten Krieges
die Zeichen in der Welt auf Entspannung standen.

Über den Bundesausgabenmonitor

Als Ergänzung zum Kieler Subventionsbericht klassifiziert der Kieler
Ausgabenmonitor alle Bundesausgaben nach ihren funktionalen Wirkungen, im
Gegensatz zu den Etatplänen der Ministerien, die häufig Ausgaben mehrerer
Kategorien enthalten. Statt 24 sogenannter Einzelpläne betrachtet der
Ausgabenmonitor zehn Ausgabenarten, um die volkswirtschaftlichen Wirkungen
des jeweiligen Bundeshaushalts besser bestimmen zu können:

1. Ausgaben zur Korrektur der Einkommensverteilung (vor allem
Sozialausgaben und Länderfinanzausgleich), 2. Finanzhilfen des Bundes
(Ausgabensubventionen), 3. Ausgaben für Altlasten (Pensionen, Beihilfen,
Zinsen auf die Bundesschuld), 4. Ausgaben für den Staatsapparat, 5.
Ausgaben für innere und äußere Sicherheit, 6. Ausgaben für Bildung, 7.
Ausgaben für Forschung, 8. Ausgaben für Infrastruktur, 9. auslandswirksame
Zahlungen, 10. sonstige.


Der Kieler Bundesausgabenmonitor 2024: Eine empirische Strukturanalyse des
Bundeshaushalts: https://www.ifw-kiel.de/de/publikationen/der-kieler-
bundesausgabenmonitor-2024-eine-empirische-strukturanalyse-des-

bundeshaushalts-33123/

Appell an Olaf Scholz: Schutz der Kinder vor ungesunder Lebensmittelwerbung muss jetzt gesetzlich verankert werden!

Ein breites Bündnis aus Organisationen und Initiativen aus Medizin,
Gesundheitsförderung, Wissenschaft, Verbraucherschutz sowie Kinder- und
Jugendschutz appelliert in einem offenen Brief an Bundeskanzler Olaf
Scholz, das Gesetz zur Beschränkung von Werbung für ungesunde
Lebensmittel, die sich an Kinder richtet (KLWG), noch vor der Sommerpause
umzusetzen. Mehr als ein Jahr nach der Vorstellung der Eckpunkte durch
Bundesernährungsminister Cem Özdemir herrscht politischer Stillstand beim
Kinderschutz in der Lebensmittelwerbung. Die Ampel-Koalition hat im
Koalitionsvertrag den Auftrag formuliert, den Schutz vor Werbung für
Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- und Salzgehalt sicherzustellen.

Barbara Bitzer, Sprecherin der Deutschen Allianz Nichtübertragbare
Krankheiten (DANK) und Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes
Gesellschaft (DDG), erklärt: „Werbung für süße Snacks und fettiges Fast
Food flutet jeden Tag die Kinderzimmer. Der politische Stillstand bei der
Regulierung von Werbung für Ungesundes ist nicht länger tragbar.
Bundeskanzler Olaf Scholz darf nicht länger am Spielfeldrand stehen und
tatenlos zuschauen, wie das Gesetzesvorhaben auf die lange Bank geschoben
wird. Gemeinsam mit mehr als 35 Verbänden, Organisationen und
Fachgesellschaften wollen wir das Bundeskanzleramt nochmal aufrütteln und
daran erinnern, dass wir alle Verantwortung für die Gesundheit von Kindern
und Jugendlichen tragen.“
Dr. med. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, fügt hinzu:
„Jeder siebte Todesfall in Deutschland ist laut der Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf ungesunde Ernährung
zurückzuführen. Auch die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt, Werbung
für ungesunde Lebensmittel gesetzlich einzuschränken, um Fehlernährung bei
Kindern und Jugendlichen zu bekämpfen. Wir setzen die gesunde Zukunft
unserer Kinder aufs Spiel, wenn die Bundesregierung das Vorhaben nicht
endlich anpackt und verbindliche Regelungen verankert.“
Angela Schütze-Buchholz, Vizepräsidentin des Berufsverbands der Kinder-
und Jugendärzte (BVKJ) betont: „Kinder essen doppelt so viel Süßigkeiten,
aber nur halb so viel Obst wie empfohlen. Das bleibt nicht ohne Folgen. 15
Prozent der Kinder- und Jugendlichen in Deutschland sind von Übergewicht
betroffen. Ihnen drohen im weiteren Leben schwerwiegende Folgeerkrankungen
wie Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck oder Herz-Kreislauferkrankungen. Unsere
Gesellschaft darf nicht zulassen, dass eine Generation kranker Menschen
heranwächst. Das vielkonsumierte ungesunde Zuckergetränk muss zum
Auslaufmodell werden. Gesunde Nahrungsmittel – am besten preiswerter als
ungesunde Alternativen – sollten zur ersten Wahl werden.“
Die wissenschaftliche Grundlage für die Notwendigkeit einer Regulierung
ist unbestreitbar: Werbung wirkt, sie steigert das Kauf- und
Konsumverhalten und fördert die Ernährungspräferenzen von Kindern.
Vorschläge für eine solche Regulierung liegen seit über einem Jahr auf dem
Tisch. Nun liege es an den politischen Verantwortlichen, diese Vorschläge
in ein wirksames und konsequentes Gesetz zu gießen, betont das Bündnis.
Laut einer Studie der Universität Hamburg sehen mediennutzende Kinder
zwischen drei und 13 Jahren pro Tag im Schnitt 15 Werbespots für ungesunde
Lebensmittel. 92 Prozent der gesamten Werbung, die Kinder wahrnehmen,
vermarktet ungesunde Lebensmittel wie Fast Food, Snacks oder Süßigkeiten.
Um Fehlernährung bei Kindern zu bekämpfen, empfiehlt die
Weltgesundheitsorganisation (WHO), Junkfood-Werbung gesetzlich
einzuschränken. Der WHO zufolge müssen Werbeschranken verbindlich sein,
Kinder aller Altersgruppen schützen und auf konkreten Grenzwerten für
Zucker, Fett und Salz basieren.
„Die Regelungen müssen umfassend sein und dort wirken, wo Kinder Werbung
ausgesetzt sind – sei es bei TV-Werbung, Außenwerbung oder Influencer-
Werbung in den sozialen Medien“, heißt es in dem offenen Brief. „Die
omnipräsente Werbung für ungesunde Lebensmittel hat fatale gesundheitliche
Folgen. Eltern müssen tagtäglich gegen eine Milliardenindustrie ankämpfen,
die ihre Kinder mit geschickten Marketingtricks lockt. Die Gesundheit der
Kinder darf nicht zwischen den Interessen der Industrie zerrieben werden.
Die Politik muss den Stillstand beenden und die Gesundheit der Jüngsten in
unserer Gesellschaft durch ein starkes Gesetz schützen.“
Das Bündnis fordert den Bundeskanzler eindringlich auf, sich dafür
einzusetzen, dass das KLWG als wichtige Maßnahme für mehr Kindergesundheit
ohne weitere Verzögerungen und Abschwächungen umgesetzt wird. „Der Schutz
der Kindergesundheit muss Vorrang haben vor den wirtschaftlichen
Interessen der Werbeindustrie und der Hersteller ungesunder Lebensmittel“,
so das abschließende Plädoyer der Verbände.

Erosion der Unternehmensmitbestimmung

Neue Studie: Höchste Zeit für die von der Regierung angekündigten Reformen

Erosion der Unternehmensmitbestimmung – mindestens 2,4 Millionen
Beschäftigten bleibt die paritätische Mitbestimmung in Unternehmen
vorenthalten

Die deutschen Mitbestimmungsgesetze sollen die demokratische Beteiligung
von Arbeitnehmer*innen in Unternehmen sichern. Sie sind aber äußerst
lückenhaft und bedürfen dringend einer Reform, wie eine neue Studie zur
Erosion der Unternehmensmitbestimmung des Instituts für Mitbestimmung und
Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung belegt.*
Wissenschaftliche Forschung zeigt immer wieder, dass paritätische
Mitbestimmung in Unternehmen einen hohen Wert für die soziale
Marktwirtschaft Deutschlands bietet und auch messbare ökonomische Vorteile
bringt. Trotz dieser positiven Effekte steigt die Zahl der Unternehmen,
die Mitbestimmung umgehen oder bewusst vermeiden. So wurde 2022 mindestens
2,45 Millionen Beschäftigten in Großunternehmen eine paritätische
Mitbestimmung in den Aufsichtsräten versagt, ergibt die neue
I.M.U.-Studie. Damit waren rund 300.000 Menschen mehr betroffen als noch
2019. Viele Arbeitgebende nutzen rechtliche Lücken, über die Mitbestimmung
legal umgangen werden können, weitere ignorieren sogar geltende Gesetze,
weil dies nicht mit wirksamen Sanktionen bewehrt ist. Im Ergebnis besaßen
zuletzt von 1084 Unternehmen, die in Deutschland mehr als 2000
Beschäftigte haben und keinem „Tendenzschutz“ unterliegen, lediglich 656
den nach den Mitbestimmungsgesetzen ab dieser Größe vorgesehenen
paritätisch besetzten Aufsichtsrat. Das entspricht einer Quote von nur
noch rund 60 Prozent mitbestimmter Unternehmen, während es 2019 noch gut
67 Prozent waren. Von den somit 428 Großunternehmen ohne paritätische
Mitbestimmung bedienten sich 256 mit insgesamt mehr als 1,7 Millionen
Beschäftigten in Deutschland legaler juristischer Kniffe zur
Mitbestimmungsvermeidung – sei es gezielt oder als Nebeneffekt. Weitere
172 mit mehr als 720.000 Beschäftigten ignorierten rechtswidrig die
Gesetze (siehe auch Abbildung 1 und 2 in der pdf-Version dieser PM; Link
unten).

„Mindestens vier von zehn Großunternehmen verweigern ihren Beschäftigten
mittlerweile also die paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat – sei es,
indem sie nationale Gesetzeslücken oder durch europäisches Recht
geschaffene Vermeidungsmöglichkeiten gezielt oder als Nebeneffekt
ausnutzen, sei es indem sie die gesetzlichen Vorschriften schlicht
ignorieren“, konstatiert Studienautor Dr. Sebastian Sick. Gegenüber 2019
ist die Zahl drastisch gestiegen – um mindestens 121 Unternehmen. Legale
und illegale Mitbestimmungsvermeidung haben wesentlich dazu beigetragen,
dass mittlerweile 111 Unternehmen weniger paritätisch mitbestimmt sind als
vor gut 20 Jahren, so Sick. Auch im wichtigsten deutschen Börsensegment
ist der Trend deutlich sichtbar: Hatte 2015 im damaligen DAX30 lediglich
ein Unternehmen keine paritätische Mitbestimmung, so waren es bei der
Bildung des DAX40 im Jahr 2021 zwölf. „Das deutsche Modell der
Sozialpartnerschaft ist hierdurch ernsthaft gefährdet“, warnt der
I.M.U.-Unternehmensrechtsexperte, der auch Mitglied der
Regierungskommission zum Deutschen Corporate Governance-Kodex ist. Damit
werde auch eine wichtige Ressource der deutschen Wirtschaft geschwächt.
Denn Untersuchungen zeigen, dass mitbestimmte Unternehmen gerade in
Umbruch- und Krisenzeiten erfolgreicher sind, dass sie ökologisch und
sozial nachhaltiger agieren und mehr investieren (weitere Informationen
unten).

Die Bundesregierung hat nach der letzten Bundestagswahl erklärt, einige
der Gesetzeslücken schließen zu wollen, die es aktuell beispielsweise
leicht machen, über die Rechtsform der Europäischen Aktiengesellschaft
(SE) die Mitbestimmung von Beschäftigten zu verhindern. „Noch sind den
Ankündigungen im Koalitionsvertrag keine Taten gefolgt. Doch wenn die
Vorhaben umgesetzt würden, wären das zweifellos Schritte in die richtige
Richtung“, betont Jurist Sick. „Sie reichen allerdings nicht aus. Einzelne
Schlupflöcher zu schließen, während andere, ähnlich große, offen bleiben,
würde zu einem Ausweichen auf andere Vermeidungsstrategien führen – oder,
solange Verstöße gegen die Mitbestimmungsgesetze nicht ernsthaft
sanktioniert werden, zum Ignorieren der Mitbestimmungspflicht.“
Anforderungen an ein wirksames Konzept zur Sicherung der Mitbestimmung hat
das I.M.U. in seiner Studie formuliert. Neben notwendigen Reformen der
nationalen Gesetzgebung zählen dazu auch Verbesserungen auf europäischer
Ebene (mehr dazu am Ende der PM).

– Familienunternehmen hebeln Mitbestimmung besonders häufig aus –

Basis der neuen Studie sind Datenanalysen, die das Institut für
Rechtstatsachenforschung zum Deutschen und Europäischen Unternehmensrecht
der Universität Jena im Auftrag des I.M.U. vorgenommen hat. Ein Team unter
Leitung von Prof. Dr. Walter Bayer hat dafür unter anderem
Unternehmensdatenbanken, Jahresabschlussdaten und Handelsregister
umfangreich ausgewertet. Trotz der bundesweit einmaligen intensiven
Recherche bleibe eine Dunkelziffer, die neuen Zahlen zur
Mitbestimmungsvermeidung beschreiben also eher die Untergrenze des
Problems, betonen die Fachleute.

Auch so zeigt die Studie mit Datenstand 2022: In mehreren Branchen,
darunter Facility Management, Leiharbeit, im Handel oder
Gesundheitsbereich, hebelt sogar eine Mehrheit der Großunternehmen die
paritätische Mitbestimmung legal oder illegal aus. So sind allein in
großen Handelsunternehmen mindestens 930.000 Beschäftigte betroffen, in
dieser Branche haben gerade einmal 28 Prozent der Firmen mit mehr als 2000
Beschäftigten einen mitbestimmten Aufsichtsrat. In der Industrie ist die
Quote der Unternehmen, die eine Form der Mitbestimmungsvermeidung oder
-ignorierung betreiben, mit 26 Prozent zwar unterdurchschnittlich. Aber
auch dort summieren sich die Zahlen auf mindestens 98 Unternehmen mit
mindestens 360.000 Beschäftigten (Abbildungen 2 und 3 in der pdf-Version).

Besonders häufig umgehen oder ignorieren Familienunternehmen die
Mitbestimmungsgesetze: 66 Prozent der Unternehmen, die Mitbestimmung über
Gesetzeslücken vermeiden, sowie 60 Prozent der Ignorierer sind in
Familienbesitz.

Bei mittelgroßen Unternehmen, in deren Aufsichtsräten die Beschäftigten
ein gesetzliches Anrecht auf ein Drittel der Mandate haben, setzt sich das
Problem fort, zeigt die Studie: Rund 1470 Unternehmen in Deutschland haben
501 bis 2000 Beschäftigte im Inland und den für diese Größenklasse
gesetzlich vorgesehenen drittelbeteiligten Aufsichtsrat. Für weitere mehr
als 800 Unternehmen gilt die Drittelbeteiligung zwar ebenfalls, sie
ignorieren aber gesetzeswidrig die Vorschrift. Sie haben keine
Konsequenzen in Form von wirksamen Sanktionen zu befürchten. Extrem
lückenhaft ist das Gesetz zudem bei seinem Geltungsbereich. Durch die so
genannte „Drittelbeteiligungslücke“ im Gesetz sind rund 750 Unternehmen
ähnlicher Größe erst gar nicht erfasst.

– Mitbestimmung zu vermeiden, ist schlecht für den Standort –

„Wenn demokratische Rechte nur auf dem Papier stehen, stellt das sowohl
die Glaubwürdigkeit eines Rechtsstaats in Frage als auch die soziale
Marktwirtschaft. Mitbestimmung auszuhöhlen ist politisch und ökonomisch
ein Riesenfehler, eine Hypothek für die Zukunft der sozial-ökologischen
Transformation“, sagt Dr. Daniel Hay. Nur durch die Sicherung und
Weiterentwicklung von Mitbestimmung werde ein Vorteil für den Standort
Deutschland erhalten, betont der wissenschaftliche Direktor des I.M.U.
Zahlreiche ökonomische Studien belegen, dass Unternehmen, in denen die
Beschäftigten über Betriebsräte und im Aufsichtsrat mitbestimmen, erstens
bessere Arbeitsbedingungen bieten. Zweitens weisen mitbestimmte
Unternehmen bei zentralen betriebswirtschaftlichen Kennzahlen bessere
Ergebnisse auf, sie verfolgen häufiger ein forschungs- und
qualitätsorientiertes Geschäftsmodell, investieren mehr und betreiben
seltener legale Steuervermeidung. Und sie agieren messbar nachhaltiger als
Unternehmen ohne Mitbestimmung, wie eine aktuelle Auswertung ökologischer
und sozialer Kennziffern der ESG-Indizes zeigt (siehe auch den
Forschungsüberblick unten für alle Befunde).

Ganz besonders in Phasen von Krisen und Transformationsdruck schneiden
Unternehmen besser ab, wenn Arbeitnehmer*innen im Aufsichtsrat
mitentscheiden, hat eine Studie von Ökonomieprofessoren der Universitäten
Göttingen und Marburg am Beispiel der globalen Finanz- und
Wirtschaftskrise ergeben. „Mitbestimmung ist kein Nice-to-Have. Wir
brauchen sie, wenn wir auch künftig erfolgreich sein wollen“, sagt Hay.

Detaillierte Ergebnisse der Studie:

– Verbreitete Konstruktionen legaler Umgehung: Auslandskapitalgesellschaft
& Co. KG, Einfrier-SE, Familienstiftungen –

Die neue Studie gibt, mit Stand 2022, einen detaillierten Überblick über
die fragwürdigen Strategien und Instrumente, mit denen Unternehmen die
Mitbestimmung verhindern (Abbildung 4). Ein verbreitetes Vehikel, um die
Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat über eine juristische Lücke legal
zu unterlaufen, sind gesellschaftsrechtliche Konstruktionen mit
ausländischen Rechtsformen wie beispielsweise die B.V. & Co. KG oder die
Nutzung von österreichischen GmbHs als persönlich haftende
Gesellschafterinnen von deutschen KGs. Hintergrund ist folgender: Die
deutschen Mitbestimmungsgesetze stammen aus einer Zeit, als die
weitgehende europäische Niederlassungsfreiheit noch nicht absehbar war.
Deshalb beziehen sie sich in ihrem Wortlaut ausschließlich auf Unternehmen
in deutscher Rechtsform. Kombinieren Firmen deutsche und ausländische
Rechtsformen, fallen sie nach herrschender juristischer Meinung allein
deshalb nicht mehr unter das Mitbestimmungsgesetz. Das ist nach
europäischem Recht auch Firmen möglich, die ihre Hauptverwaltung und den
operativen Schwerpunkt ihrer Geschäfte in Deutschland haben.

2022 firmierten mindestens 72 Unternehmen mit jeweils mehr als 2000
inländischen Beschäftigten in so einer hybriden Rechtsform als
Auslandskapitalgesellschaft & Co. KG, zehn mehr als noch 2019. Mindestens
399.000 dort Beschäftigten blieb dadurch die paritätische Mitbestimmung im
Aufsichtsrat versagt (siehe Abb. 8 in der Studie; Link unten). Als
Beispiele nennt das I.M.U. etwa den Textilhändler C&A Mode, den
Fleischproduzenten Tönnies, den Landmaschinenbauer John Deere oder den
Schiffsbauer Meyer Werft.

– Nur jede sechste große SE ist paritätisch mitbestimmt –

Ein weiteres großes und immer häufiger genutztes Schlupfloch, durch das
Mitbestimmung umgangen werden kann, stellen die lückenhaften Vorschriften
zur Europäischen Aktiengesellschaft (SE) dar. Es wird nach der
I.M.U.-Analyse oft von jungen, wachsenden Unternehmen angewandt. Die
Mitbestimmung wird einfach ausgehebelt, indem die Umwandlung zur SE
erfolgt, bevor die Beschäftigtenzahlen erreicht sind, ab denen die
nationalen Gesetze greifen. Immer wieder werden Firmen kurz vor Erreichen
der entsprechenden Schwellenwerte von 501 inländischen Mitarbeitern für
eine Drittelbeteiligung oder 2.001 für die paritätische Mitbestimmung zur
SE umgewandelt. Da dabei bislang das Vorher-Nachher-Prinzip gilt, der
Status quo ganz ohne oder mit geringerer Mitbestimmung also „eingefroren“
wird, können sich Firmen auf diese Weise unwiderruflich aus dem System der
Mitbestimmung verabschieden – auch wenn sie später deutlich mehr
Beschäftigte haben und weit über den Schwellenwerten liegen.

Die neue Untersuchung geht für 2022 von 68 Unternehmen mit
zusammengenommen mindestens 300.000 Beschäftigten in Deutschland aus, die
als SE mit mehr als 2000 Beschäftigten im Inland nicht paritätisch
mitbestimmt sind. Prominente Beispiele sind der Autohersteller Tesla, der
Impfstoffhersteller BioNtech, der Personaldienstleister Kötter,
Flaschenpost, das Technologieunternehmen Freudenberg, der
Baugerätehersteller Wacker Neuson sowie mit dem Wohnungsunternehmen
Vonovia und dem Versandhändler Zalando sogar zwei DAX40-Konzerne.
Besonders pikant: Ein Drittel dieser „Europa-AGs“ hat nahezu
ausschließlich im Inland Beschäftigte. Zwei Drittel dieser „Inlands-SE“
befinden sich wiederum in Familienbesitz, beispielsweise Sixt, Deichmann,
oder der Krankenhauskonzern Schön Klinik. Eine Variante ist die Rechtsform
der SE & Co. KG. Insgesamt zählen die Forschenden zusätzlich mindestens 35
SE & Co. KG mit mindestens 179.000 Beschäftigten. Diese Gruppe ist in den
letzten Jahren besonders schnell gewachsen.

Zusammengenommen haben also mindestens 103 SE bzw. SE-basierte Unternehmen
mit jeweils mehr als 2000 inländischen Beschäftigten keinen paritätisch
mitbestimmten Aufsichtsrat. Das sind fünf von sechs großen deutschen SEs,
in denen zusammen fast 500.000 Menschen arbeiten. Beim restlichen Sechstel
handelt es sich fast ausschließlich um etablierte Großunternehmen, die
schon vor der Umwandlung mitbestimmt waren. „Bei der derzeitigen
Rechtslage ist die SE ein Kernproblem für die Partizipation im
Aufsichtsrat“, konstatiert Unternehmensrechtler Sick.

Weitere 81 Unternehmen mit zusammen mehr als 840.000 Beschäftigten in
Deutschland ordnen die Expert*innen verschiedenen anderen
Rechtskonstruktionen zu, bei denen Mitbestimmungsrechte von Beschäftigten
legal blockiert werden. Insbesondere bei Einzelhandelsunternehmen beliebt
sind Konstruktionen über (Familien-)Stiftungen. Damit operieren etwa die
Discounter Aldi, Lidl, Teile der EDEKA-Gruppe, aber auch der
Schraubenhersteller Würth.

– Hunderte Unternehmen ignorieren Mitbestimmungsrechte –

Neben den 256 legalen Mitbestimmungsvermeidenden zählen die Forschenden
für 2022 mindestens 172 Unternehmen mit je mindestens 2000 inländischen
Beschäftigten, die qua Größe und Rechtsform zwar gesetzlich verpflichtet
sind, einen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat einzurichten, diese
Vorgabe aber schlicht ignorierten. Auch diese Gruppe ist stark gewachsen –
seit 2019 um fast 60 Unternehmen. Als Beispiele für Unternehmen, die die
Mitbestimmung, soweit nach den genutzten Quellen ersichtlich, ignorieren,
nennt die Studie die Drogeriekette Rossmann, IKEA Deutschland oder den
Lebensmittelhändler Alnatura. Hinzu kommen, wie beschrieben, mindestens
rund 800 mittelgroße Unternehmen, die ihren Beschäftigten die
Drittelbeteiligung im Aufsichtsrat verwehren.

Obwohl sie geltende Gesetze brechen, müssen Unternehmen, die
Mitbestimmungsrechte ignorieren, bislang keine ernsthaften Sanktionen
fürchten. Arbeitnehmer*innen können zwar ein so genanntes Statusverfahren
anstrengen, um gerichtlich feststellen zu lassen, dass das Unternehmen zur
Mitbestimmung verpflichtet ist. Doch dann könne es „immer noch von den
vielfältigen Vermeidungsmodellen Gebrauch machen“, schreibt Sick. So
wechselte beispielsweise die deutsche Tochter des Textilhändlers H&M
gerade zu dem Zeitpunkt in die hybride Unternehmensrechtsform einer B.V. &
Co. KG, als die Betriebsräte einen mitbestimmten Aufsichtsrat durchsetzen
wollten. Ähnliches sei bei der Modekette Esprit passiert.

– Wie Gesetzeslücken geschlossen werden können  –

Der Standortvorteil Mitbestimmung sei durch die vielen
Umgehungsmöglichkeiten und Verstöße in Gefahr, warnen die I.M.U.-Experten
Sick und Hay. Dabei habe der Gesetzgeber sowohl auf deutscher als auch auf
europäischer Ebene etliche Möglichkeiten, der Mitbestimmung Geltung zu
verschaffen. Sie empfehlen als zentrale Reformen:

• Bei der Europäischen Aktiengesellschaft SE, und analog bei einigen
ähnlichen, weniger bekannten Modellen, solle die Ampelkoalition ihre
Ankündigung wahrmachen und gewährleisten, dass das „Einfrieren“ auf einem
Status ohne oder mit geringer Mitbestimmung durch taktische Umwandlung in
einem frühen Stadium verhindert wird. Ein Rechtsgutachten von Prof. Dr.
Rüdiger Krause von der Universität Göttingen für das I.M.U. zeigt, dass
das europarechtskonform möglich ist. Konkret heißt das: Steigt nach
erfolgter Umwandlung in eine SE die Beschäftigtenzahl im Laufe der Zeit
über die Schwellenwerte von 500 bzw. 2000 Beschäftigten, muss es die
Chance geben, dass Mitbestimmungsrechte entsprechend mitwachsen.

• Eine gesetzlich bindende Klarstellung, dass die Mitbestimmungsgesetze
für alle kapitalistisch strukturierten Unternehmen mit mehr als 500
Beschäftigten in Deutschland gelten. Anders als heute könnte dann etwa die
Mitbestimmung nicht mehr ausgehebelt werden, wenn ein
Wirtschaftsunternehmen in einer Rechtskonstruktion mit einer Stiftung
firmiert oder eine hybride Konstruktion mit deutscher und ausländischer
Rechtsform wählt. Auch das ist europarechtskonform möglich, so das I.M.U.
Der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Achim Seifert, Juraprofessor an der
Universität Jena, hat dafür einen Gesetzentwurf ausgearbeitet.

• Schließung der „Drittelbeteiligungslücke“. Diese führte beispielsweise
dazu, dass im Wirecard-Aufsichtsrat keine Beschäftigtenvertreter*innen als
Kontrollinstanz vertreten waren. Die Lücke beruht darauf, dass im
Drittelbeteiligungsgesetz keine automatische Konzernzurechnung von
Beschäftigten aus Tochterunternehmen vorgesehen ist. Ein Konzern bleibt
daher ohne jede Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat, wenn er sich in
eine Holding und verschiedene Töchter aufgliedert, die jeweils maximal 500
Beschäftigte haben und die nicht über formale „Beherrschungsverträge“
miteinander verbunden sind – auch wenn die verschiedenen abhängigen
Unternehmen zusammengenommen weit mehr als 500 Beschäftigte haben. Auch
hier hat die Bundesregierung Verbesserungen versprochen.

• Unternehmen, die Mitbestimmungsgesetze rechtswidrig nicht anwenden,
müssen effektiv sanktioniert werden bzw. die Durchsetzung der
Mitbestimmung muss erleichtert werden.

• Die EU-Kommission sollte eine Rahmenrichtlinie verabschieden, die
europaweit generelle Mindeststandards für die Arbeitnehmerpartizipation
setzt. Die Beteiligung der Arbeitnehmer*innen müsse als Kernelement der
europäischen Corporate Governance verankert werden.

Statement - Europawahlen: Ambitionierte Agenda für ein ökonomisch starkes Europa wird schwieriger, aber nicht unmöglich

Prof. Dr. Moritz Schularick (https://www.ifw-kiel.de/de/expertinnen-und-
experten/moritz-schularick/
), Präsident des IfW Kiel, kommentiert die
vorläufigen Ergebnisse der Europawahlen:

„Die Ergebnisse der Europawahl deuten auf eine schwierige Mehrheitsfindung
für eine mögliche zweite Amtszeit von Kommissionspräsidentin von der Leyen
hin. Insbesondere das Erstarken von populistischen Parteien ist eine
Herausforderung für notwendige Integrationsschritte, um die Europäische
Union (EU) im aktuellen geopolitischen Umfeld zu stärken.

In einer stürmischen Zeit für die Weltwirtschaft kann nur eine starke EU
europäische Interessen mit Nachdruck vertreten. Europa braucht die
Vollendung der Kapitalmarkt- und Bankenunion sowie mutige Schritte hin zum
Aufbau einer europäischen Verteidigung. Die ökonomische und militärische
Sicherheit Europas und die Weiterentwicklung des Binnenmarktes sollten im
Zentrum der Arbeit der neuen Kommission stehen.

Das starke Abschneiden insbesondere populistischer und europaskeptischer
Parteien macht dies nicht einfacher, aber auch nicht unmöglich. Die pro-
europäischen Kräfte müssen jetzt umso mehr zusammenstehen und dürfen nicht
den populistischen Sirenengesängen nachgeben. Die Forschung des IfW Kiel
zeigt, dass Populismus ökonomisch extrem teuer ist und sich negativ auf
das Wirtschaftswachstum auswirkt. Das sind Kosten, die wir uns nicht
leisten können.“