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Sozialpolitik für das digitale Zeitalter

Politikwissenschaftler des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“
an der Universität Konstanz untersuchen, was die Bürger*innen in 24 OECD-
Ländern angesichts zunehmender Automatisierung und Digitalisierung des
Arbeitsplatzes von ihren Regierungen erwarten.

Robotisierung, Automatisierung und Digitalisierung: Ein rasanter
technologischer Wandel verändert die Arbeitsmärkte weltweit. Dieser
umfassende Wandel wirkt sich massiv auf die Arbeitsplätze der
Beschäftigten aus, verändert den Arbeitsalltag vieler – und bedroht für
einige die Existenzgrundlage. Was können Regierungen tun, um die
Beschäftigten in dieser Übergangszeit zu unterstützen? Die
Politikwissenschaftler Prof. Dr. Marius R. Busemeyer und Dr. Tobias Tober
vom Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ an der Universität
Konstanz haben die politischen Präferenzen von Befragten in 24 OECD-
Ländern untersucht. Die Ergebnisse veröffentlichen sie nun in einem Policy
Paper in Zusammenarbeit mit dem Berliner Think Tank „Das Progressive
Zentrum“: http://www.progressives-zentrum.org/soziale-kompensation-
umschulung-kuerzere-arbeitszeiten
.

Auf der Grundlage vergleichender, neu erhobener Umfragedaten von über
25.000 Befragten zeichnet die Studie ein facettenreiches Bild. Es gibt
einerseits große Bedenken, dass technologiebedingt Arbeitsplätze in Gefahr
sind. Andererseits haben viele der Befragten auch positive Erwartungen an
den technologischen Wandel. Allgemein gesprochen wünschen sich die
Arbeitnehmer*innen Unterstützung durch die Politik bei der Bewältigung des
technologischen Wandels: Besonders beliebt bei den Befragten ist die
Förderung von Aus- und Weiterbildung, um Beschäftigte in die Lage zu
versetzen, mit den neuen Anforderungen des Arbeitsmarktes umzugehen.

Ebenso beliebt sind aber auch soziale Unterstützungsprogramme wie eine
großzügigere Ausgestaltung der Arbeitslosenversicherung, um auch
diejenigen aufzufangen, deren Arbeitsplätze direkt durch
Rationalisierungsmaßnahmen bedroht sind. Die Politik steht damit
angesichts knapper öffentlicher Haushalte vor schwierigen Entscheidungen:
Einerseits gilt es, durch soziale Investitionen und Bildungsmaßnahmen die
Beschäftigungschancen der Arbeitnehmerschaft zu verbessern; andererseits
müssen auch diejenigen aufgefangen werden, deren Arbeitsplatz unmittelbar
bedroht ist. Auf der Grundlage ihrer Ergebnisse empfehlen die Autoren
daher einen ausgewogenen politischen Ansatz, der beide Aspekte – soziale
Investitionen und soziale Transfers – berücksichtigt, um eine weitere
politische Polarisierung zu vermeiden.

Die wichtigsten Ergebnisse des Policy Papers im Überblick:

Beschäftigte verstehen die Vorzüge der Digitalisierung, fürchten aber um
die Sicherheit des Arbeitsplatzes

Die Befragten erwarten, dass Automatisierung und Digitalisierung ihr
Arbeitsleben positiv beeinflussen werden. Mehr als 50 Prozent in allen 24
untersuchten Ländern erwarten eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und
Privatleben, eine Verringerung der körperlichen Anforderungen und Gefahren
sowie einen Rückgang von ermüdenden und anstrengenden Routineaufgaben. In
Deutschland sind die Erwartungen allerdings nicht ganz so positiv und
liegen bei diesen Fragen mehr als zehn Prozentpunkte unter dem
internationalen Durchschnitt.

Viele Menschen weltweit haben allerdings auch Angst davor, dass ihr
Arbeitsplatz durch den Einsatz von digitaler Technologie, Robotern oder
Algorithmen verloren geht. Die Zahlen variieren stark von Land zu Land:
Türkische (64,9 Prozent) und koreanische (65,5 Prozent) Arbeitnehmer*innen
äußern am häufigsten die Befürchtung, dass die Wahrscheinlichkeit ersetzt
zu werden „hoch“ oder „sehr hoch“ ist. In Österreich (21,5 Prozent) und
Deutschland (27,5 Prozent) sind die Befragten bei dieser Frage deutlich
zuversichtlicher.

„Wir empfehlen der Politik, weder die positiven noch die negativen Folgen
von Automatisierung und Digitalisierung ausschließlich und für sich
genommen zu betonen“, fasst Tobias Tober zusammen. „Die Arbeitnehmer in
den meisten Ländern sind sich sehr wohl bewusst, dass es sowohl Chancen
als auch Gefahren gibt, daher sollte die Politik eine ausgewogene Haltung
einnehmen und ihre Sorgen ernst nehmen.“

Bessere Ausbildung und lebenslanges Lernen werden hoch geschätzt...

Zur Verbesserung der Chancen von Arbeitnehmer*innen auf dem Arbeitsmarkt,
jetzt und in Zukunft, könnte sich eine progressive Politik auf Maßnahmen
zur Förderung von Bildung, Ausbildung und lebenslangem Lernen
konzentrieren. Mehr Investitionen in die Hochschulbildung sowie in
Berufsbildungsmöglichkeiten für junge Menschen würden von durchschnittlich
74,2 Prozent der Befragten in den 24 OECD-Ländern unterstützt. Mit 78
Prozent ist die Unterstützung für verstärkte Investitionen in
Weiterbildungsmöglichkeiten für Menschen im erwerbsfähigen Alter sogar
noch größer.

Andere Maßnahmen finden deutlich weniger Unterstützung. Eine Sondersteuer
für Unternehmen, die auf Roboter oder andere Technologien setzen, findet
zum Beispiel nur die Zustimmung von 46,6 Prozent der Befragten. Die
Autoren empfehlen politischen Entscheidungsträger*innen daher, dem Ausbau
von Bildungsangeboten, insbesondere im Bereich des lebenslangen Lernens,
Priorität einzuräumen.

…aber Sozialprogramme werden vorgezogen

Auch wenn auf Bildung gerichtete Maßnahmen beliebt sind, herrschen bei
denjenigen, die befürchten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, andere
Prioritäten vor. Derart besorgte Arbeitnehmer*innen neigen dazu,
Bildungsinvestitionen weniger zu unterstützen. Sie fordern stattdessen
direktere Formen des Ausgleichs durch Sozialtransfers. Dieser Trend ist
unabhängig von der persönlichen Bildung und dem Alter.

Bessere Infrastruktur, Erwartungen in Deutschland

Vergleicht man die länderübergreifenden Durchschnittswerte mit den Zahlen
für Deutschland, fällt ein Unterschied besonders ins Auge: 74,8 Prozent
der deutschen Befragten unterstützen verstärkte Aufwendungen in die
digitale Infrastruktur, rund 12 Prozent mehr als der Länderdurchschnitt
(62,9 Prozent). Die Befragten aus Deutschland sehen in diesem Bereich
offensichtlich erheblichen Investitionsbedarf.

Mit nur 55,3 Prozent sprechen sich dagegen weniger Befragte für eine
Erhöhung sozialer Transferleistungen aus als in den meisten Ländern
(internationaler Durchschnitt: 61,0 Prozent).

Was können Regierungen unternehmen, um den Wandel zu gestalten?

„Wir sind nach wie vor der Meinung, dass Bildungsinvestitionen Priorität
haben sollten“, sagt Marius Busemeyer. „Gleichzeitig muss die Politik aber
auch die betroffenen Arbeitnehmer direkt unterstützen – natürlich, um
ihnen kurzfristig zu helfen, aber auch, um die politische Polarisierung
rund um dieses Thema nicht weiter anzuheizen.“

Tobias Tober ergänzt: „Denkbar wären zum Beispiel Modelle, die eine
großzügigere Arbeitslosenversicherung mit neuen Instrumenten zur Förderung
des lebenslangen Lernens kombinieren. Wir denken dabei an Lernkonten oder
sogar an einen gesetzlichen Anspruch auf lebenslanges Lernen. Nach unseren
Erkenntnissen ist vieles auch einfach eine Frage der Kommunikation. Es ist
wichtig, dass die Politik die positiven Aspekte des technologischen
Wandels betont, während sie sich zugleich mit seinen Gefahren
auseinandersetzen muss.“

Fakten:

- Neue Publikation:
Marius R. Busemeyer, Tobias Tober (2021): Soziale Kompensation,
Umschulung, kürzere Arbeitszeiten? Die sozialpolitischen Prioritäten der
Bürger*innen für das Zeitalter der Automatisierung. Policy Papers 08:
Ungleichheit und Arbeit. 16. September 2021. Herausgebende:
Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ an der Universität Konstanz
und Das Progressive Zentrum, Berlin.
- Download: http://www.progressives-zentrum.org/soziale-kompensation-
umschulung-kuerzere-arbeitszeiten
.
- „Das Progressive Zentrum“ ist ein unabhängiger und gemeinnütziger Think-
Tank mit dem Ziel, die Vernetzung progressiver Akteurinnen und Akteure zu
fördern und Politik für ökonomischen und gesellschaftlichen Fortschritt
mehrheitsfähig zu machen. Sitz in Berlin, Aktivitäten in vielen Ländern
Europas (u. a. Frankreich, Polen, Großbritannien) sowie in den USA.
- Marius R. Busemeyer ist Professor für Politikwissenschaft mit dem
Schwerpunkt Vergleichende Politische Ökonomie an der Universität Konstanz
und Sprecher des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“. Seine
Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Wohlfahrtsstaatenforschung,
Bildungs- und Sozialpolitik, Theorien des institutionellen Wandels sowie
der Digitalisierung.
- Tobias Tober ist Postdoc am Exzellenzcluster „The Politics of
Inequality” an der Universität Konstanz. Er erforscht das Zusammenspiel
von Märkten, Institutionen und Gesellschaft.

Hinweis an die Redaktionen:

Ein Portrait von Marius R. Busemeyer kann hier heruntergeladen werden:
https://cms.uni-
konstanz.de/fileadmin/exzellenz/inequality/Personen/Busemeyer_Marius.jpg
Bildunterschrift: Prof. Dr. Marius R. Busemeyer, Fachbereich Politik- und
Verwaltungswissenschaft und Sprecher des Exzellenzclusters „The Politics
of Inequality“, Universität Konstanz.
Bild: Ines Janas

Mehr Wert für die Wissenschaft durch Management, Qualitätssicherung und Chancengleichheit

Deutschland investiert viel Geld in seine Wissenschaft. Dennoch bedeutet
Wissenschaftsmanagement in erster Linie Mangel-Management. Das liegt an
dem tatsächlich vorhandenen Mangel, aber auch an einer großen
Zurückhaltung der Wissenschaft gegenüber Management. Darum gilt es, für
die Qualitäten unserer Disziplin zu werben und Vorurteile abzubauen. Als
BWLerinnen und BWLer können wir zwar nicht mehr Geld, aber mehr Wert
schaffen. Und davon profitiert die deutsche Wissenschaft, die so im Rahmen
der gegebenen Struktur ihr Potential voll entfalten kann.

Prof Dr. Carola Jungwirth, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre mit
Schwerpunkt Governance an der Universität Passau, stellt zur
Professionalisierung der Wissenschaft verschiedene Aspekte vor.

Wissenschaft in Deutschland braucht Professionalisierung
Die deutsche Wissenschaft ragt im weltweiten Vergleich oft heraus. Das hat
sich zuletzt bei der Entwicklung von Impfstoffen gezeigt. Die Leistungen
sind auf tatkräftige, oft unternehmerisch und Gemeinwohl-orientiert
handelnde Personen zurückzuführen und sie erbringen sie oft nicht "wegen",
sondern "trotz" des Systems. Dies gilt nicht nur für die
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sondern auch für deren
Management. Zur Professionalisierung in der Wissenschaft gehört die
Entwicklung einer klaren Vision, was mit ihr und durch sie erreicht werden
soll. Dazu gehört eine klare Umsetzungsstrategie. Die Heterogenität
unseres Wissenschaftssystems ist dabei von unschätzbarem Wert. Sie erlaubt
die Entwicklung eines klaren Profils für heterogene Anforderungen auf
institutioneller Ebene.

Qualitätssicherung ist ein zentraler strategischer Baustein
Die Qualitätssicherung in der deutschen Wissenschaft besteht aus einem
komplexen Bündel von Prestigeprojekten, Rankings, Evaluationen,
Begutachtungsverfahren und Akkreditierungen. Dieses Bündel dient dazu,
wissenschaftliche Ergebnisse glaubwürdig und nachvollziehbar sowie
(Bildungs-)Leistungen zertifizierbar und national und international
vergleichbar zu machen. Die globalen Standards zur Qualitätssicherung sind
nicht in jeder Ausprägung für jede Institution gleich wichtig. Auf
institutioneller Ebene ein passendes Qualitätssicherungsbündel zu
schnüren, ist jedoch eine zentrale Managementaufgabe.

Chancengleichheit mit Passung zwischen Begabung und Programm
Im Mittelpunkt stehen sollte die tatsächliche Begabung - unabhängig von
Geschlecht, Herkunft oder einem anderen Merkmal, das die gesuchte Begabung
gar nicht betrifft. Mit transparenten Zulassungs-, Berufungs- und
Begutachtungsverfahren, mit wirksamen und wertschätzend angewandten Fair-
Play-Regeln und mit einem klaren Profil sollten Wissenschaftseinrichtungen
eine Kultur der Chancengleichheit schaffen.

Frau Prof. Jungwirth ist eine von über 170 VHB experts des Verbands der
Hochschullehrer für Betriebswirtschaft e.V. (VHB). Mit rund 2.800
Mitgliedern ist der Verband eine wachsende, lebendige Plattform für
wissenschaftlichen Austausch, Vernetzung und Nachwuchsförderung in allen
Bereichen der BWL und darüber hinaus.

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Meilenstein in der Energiewende: Wissenschaftler:innen der TU Dresden bauen einzigartigen Energiespeicher

In Boxberg/O.L. ist ein Rotationskinetischer Speicher (RKS) in Erstbetrieb
gegangen, dessen Speicherkapazität seinesgleichen sucht. Nicht nur groß,
sondern auch zukunftsorientiert ist die Entwicklung der Stiftungsprofessur
für Baumaschinen der TU Dresden: Sie eignet sich, anders als andere
Speicherlösungen, trotz ihres großen Speichervermögens für den dezentralen
Einsatz in Windparks. Mit diesem Demonstrator erfolgte ein bedeutender
Schritt dieser Technologie in Richtung Marktreife.

Umgesetzt wurde das ambitionierte BMWi-Projekt mit sächsischen
Projektpartnern aus den Bereichen Maschinenbau, Anlagenbau, Hydraulik,
Vakuumtechnologie, Elektrotechnik und Sensorik. In einem Anschlussvorhaben
soll das Betriebsverhalten der errichteten Rotationsmassenspeicher-Anlage
langfristig analysiert und zur Einsatzreife weiterentwickelt Um die
Stromversorgung auch bei Dunkelflaute zu sichern, muss Energie gespeichert
werden und bei Bedarf schnell zur Verfügung stehen. Weil
Windenergieanlagen und somit auch die Mengen des erzeugten Stroms immer
größer werden, bedarf es Speicher mit hoher Speicherkapazität. Bislang
gibt es in Windparks keine Möglichkeit, die anfallenden Energiemengen zu
speichern. Die am Markt verfügbaren, kleineren RKS werden dort aus
wirtschaftlichen Gründen nicht genutzt, weil sie in großer Anzahl
miteinander kombiniert werden müssten.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der TU Dresden haben nun einen
RKS entwickelt, der eine fünf Mal höhere Kapazität als das bislang größte
RKS-System in Verbindung mit erneuerbarer Energiegewinnung aus Windkraft
besitzt. „Ziel war es, einen langlebigen, dynamischen und hocheffizienten
Energiespeicher zu entwickeln, der direkt neben einem Windrad, also dort
wo der Strom erzeugt und mit geringen Verlusten übertragen wird, errichtet
werden kann. Hierfür war es notwendig, völlig neue Anforderungen an das
Speichersystem zu stellen und Grenzen der Technologie zu erweitern.“,
erklärt Dr. Thomas Breitenbach von der projektleitenden Stiftungsprofessur
für Baumaschinen. Mit der erreichten Speicherkapazität von 500 kWh und
einer elektrischen Lade- und Entladeleistung von 500 kW haben die Forscher
erfolgreich Neuland auf dem Gebiet einrotoriger RKS-Systeme betreten.
Derzeit ist kein Kurzzeitspeicher dieser Art bekannt, der eine
vergleichbare Speicherkapazität besitzt und sich für den Einsatz in
zukünftigen erneuerbaren Energiesystemen eignet.
werden.

Gab es 1991 einen zweiten „Deutschen Herbst“? Tagung der Uni Halle thematisiert rechte Gewalt der Wendejahre

In den 1990er Jahren kam es in vielen Orten Deutschlands zu einem Anstieg
rechter Gewalttaten: Mehrere Hundert fremdenfeindliche Straftaten wurden
allein für September und Oktober 1991 registriert. Eine Tagung an der
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) geht den Ursachen,
Wahrnehmungen und Auswirkungen dieser Entwicklung nach. Neben zahlreichen
Vorträgen sind auch eine öffentliche Vorführung des Dokumentarfilms
"Zeinabs Wunden" und eine öffentliche Podiumsdiskussion geplant. Die
Tagung findet am 1. und 2. Oktober im Löwengebäude am Universitätsplatz
statt.

Am 3. Oktober 1991 beging Deutschland zum ersten Mal den Tag der Deutschen
Einheit. "Die Feierlichkeiten fielen in eine Zeit der rasanten und
unerwarteten Zunahme rechter Gewalt", sagt Prof. Dr. Till Kössler von der
MLU, der die Tagung gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Dr. Janosch Steuwer
organisiert. Bereits Mitte September 1991 kam es zu mehreren rassistisch
motivierten Übergriffen im sächsischen Hoyerswerda, auf die weitere
Angriffe gegen Geflüchtete, Migrantinnen und Migranten in der gesamten
Bundesrepublik folgten. Fast 1.300 fremdenfeindliche Straftaten, darunter
allein 220 Brandanschläge, registrierten die Sicherheitsbehörden für
September und Oktober 1991 - mehr als fünf Mal so viele wie im gesamten
Jahr 1990.

"Alle Parteien appellierten an die Bevölkerung und riefen zu Solidarität,
zu einem friedlichen Miteinander auf. Doch die Lage eskalierte am ersten
Tag der Deutschen Einheit weiter", sagt Janosch Steuwer. Die größte
mediale Aufmerksamkeit fand damals ein Brandanschlag auf eine
Flüchtlingsunterkunft in Hünxe in Nordrhein-Westfalen, der in der Nacht
zum 3. Oktober stattfand und bei dem zwei libanesische Mädchen schwer
verletzt wurden. "Hünxe wurde gemeinsam mit Hoyerswerda im Herbst 1991 zur
politischen Chiffre für die Welle rassistischer Gewalt", sagt Kössler.

Die Tagung geht den Ursachen und Auswirkungen dieser Gewaltwelle nach:
Welche Entwicklungen machten diese überhaupt möglich? Wie nahmen
Migrantinnen, Migranten und die zusammenwachsende Mehrheitsgesellschaft in
Ost und West die weitgehend unerwartete Zunahme rechter Gewalt wahr?
Welchen Einfluss hatte sie auf ihre jeweiligen Vorstellungen vom
vereinigten Deutschland? Und wie prägte die Gewalt politische und
gesellschaftliche Debatten der folgenden Jahre? Diese Fragen stehen im
Zentrum der Tagung.

"Die dramatische Verdichtung der rassistischen Gewalt im Herbst 1991, so
die grundlegende These unserer Tagung, schuf wie im Deutschen Herbst 1977
einen historischen Moment, der intensive Diskussionen über das
Selbstverständnis des vereinten Deutschlands und die Frage aufwarf, wie
Staat und Gesellschaft der Gewalt begegnen sollten. Die Frage gehört zu
den drängendsten Herausforderungen der Gegenwart, wie die Anschläge von
Halle und Hanau zeigen", so Steuwer. Der Begriff "Deutscher Herbst 1991"
nimmt Bezug auf den "Deutschen Herbst 1977", mit dem eine Reihe
terroristischer Anschläge, Entführungen und Morde der Roten Armee Fraktion
bezeichnet werden, die zu einer der schwersten Krisen der Bundesrepublik
führten.

Zusätzlich zum wissenschaftlichen Programm findet am Freitag, 1. Oktober,
ab 20 Uhr eine öffentliche Filmvorführung im Puschkino statt. Gezeigt wird
der Dokumentarfilm "Zeinabs Wunden", der die Geschichte eines der Mädchen
nacherzählt, die bei dem Brandanschlag in Hünxe verletzt wurden. Im
Anschluss findet ein Gespräch mit der Filmemacherin Esther Schapira statt.
Mit der Frage "Wie wollen wir an den 'Deutschen Herbst' 1991 erinnern?"
befasst sich zudem die Abschlussdiskussion der Tagung, die am Samstag, 2.
Oktober, um 15 Uhr im Audimax am Universitätsplatz beginnt. Daran
teilnehmen werden Thomas Krüger (Präsident der Bundeszentrale für
politische Bildung), Uta Bretschneider (Direktorin des Zeitgeschichtlichen
Forums Leipzig), Prof. Dr. Ralph Jessen (Vorstand der Bundesstiftung zur
Aufarbeitung der SED-Diktatur), Dr. Massimo Perinelli (Rosa-Luxemburg-
Stiftung) und Anetta Kahane (Amadeu Antonio Stiftung), moderiert wird die
Runde von Prof. Dr. Fabien Virchow von der Hochschule Düsseldorf.



Die Tagung wird von der Bundeszentrale für politische Bildung und der
Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördert. Sie ist Teil
des Programms zu den Einheitsfeierlichkeiten der MLU zum Tag der Deutschen
Einheit.

Weitere Informationen zum Programm der Tagung unter:
https://deutscherherbst1991.de/




Tagung: "Deutscher Herbst 1991". Das vereinigte Deutschland, der 3.
Oktober 1991 und die Herausforderung rechter Gewalt
Freitag, 1. Oktober, bis Samstag, 2. Oktober 2021
Aula im Löwengebäude
Universitätsplatz 11
06108 Halle (Saale)

Die Teilnahme an der Konferenz ist nur mit Anmeldung via E-Mail möglich:
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.le.de



Öffentliche Filmvorführung: Zeinabs Wunden. Brandspuren in einer deutschen
Stadt
Freitag, 1. Oktober, 20 bis 21.30 Uhr
Puschkino
Kardinal-Albrecht-Straße 6
06108 Halle (Saale)



Podiumsdiskussion: Wie sollen wir an den 'Deutschen Herbst' 1991 erinnern?
Samstag, 2. Oktober, 15 bis 16.30 Uhr
Audimax
Universitätsplatz 1
06108 Halle (Saale)