Gab es 1991 einen zweiten „Deutschen Herbst“? Tagung der Uni Halle thematisiert rechte Gewalt der Wendejahre
In den 1990er Jahren kam es in vielen Orten Deutschlands zu einem Anstieg
rechter Gewalttaten: Mehrere Hundert fremdenfeindliche Straftaten wurden
allein für September und Oktober 1991 registriert. Eine Tagung an der
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) geht den Ursachen,
Wahrnehmungen und Auswirkungen dieser Entwicklung nach. Neben zahlreichen
Vorträgen sind auch eine öffentliche Vorführung des Dokumentarfilms
"Zeinabs Wunden" und eine öffentliche Podiumsdiskussion geplant. Die
Tagung findet am 1. und 2. Oktober im Löwengebäude am Universitätsplatz
statt.
Am 3. Oktober 1991 beging Deutschland zum ersten Mal den Tag der Deutschen
Einheit. "Die Feierlichkeiten fielen in eine Zeit der rasanten und
unerwarteten Zunahme rechter Gewalt", sagt Prof. Dr. Till Kössler von der
MLU, der die Tagung gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Dr. Janosch Steuwer
organisiert. Bereits Mitte September 1991 kam es zu mehreren rassistisch
motivierten Übergriffen im sächsischen Hoyerswerda, auf die weitere
Angriffe gegen Geflüchtete, Migrantinnen und Migranten in der gesamten
Bundesrepublik folgten. Fast 1.300 fremdenfeindliche Straftaten, darunter
allein 220 Brandanschläge, registrierten die Sicherheitsbehörden für
September und Oktober 1991 - mehr als fünf Mal so viele wie im gesamten
Jahr 1990.
"Alle Parteien appellierten an die Bevölkerung und riefen zu Solidarität,
zu einem friedlichen Miteinander auf. Doch die Lage eskalierte am ersten
Tag der Deutschen Einheit weiter", sagt Janosch Steuwer. Die größte
mediale Aufmerksamkeit fand damals ein Brandanschlag auf eine
Flüchtlingsunterkunft in Hünxe in Nordrhein-Westfalen, der in der Nacht
zum 3. Oktober stattfand und bei dem zwei libanesische Mädchen schwer
verletzt wurden. "Hünxe wurde gemeinsam mit Hoyerswerda im Herbst 1991 zur
politischen Chiffre für die Welle rassistischer Gewalt", sagt Kössler.
Die Tagung geht den Ursachen und Auswirkungen dieser Gewaltwelle nach:
Welche Entwicklungen machten diese überhaupt möglich? Wie nahmen
Migrantinnen, Migranten und die zusammenwachsende Mehrheitsgesellschaft in
Ost und West die weitgehend unerwartete Zunahme rechter Gewalt wahr?
Welchen Einfluss hatte sie auf ihre jeweiligen Vorstellungen vom
vereinigten Deutschland? Und wie prägte die Gewalt politische und
gesellschaftliche Debatten der folgenden Jahre? Diese Fragen stehen im
Zentrum der Tagung.
"Die dramatische Verdichtung der rassistischen Gewalt im Herbst 1991, so
die grundlegende These unserer Tagung, schuf wie im Deutschen Herbst 1977
einen historischen Moment, der intensive Diskussionen über das
Selbstverständnis des vereinten Deutschlands und die Frage aufwarf, wie
Staat und Gesellschaft der Gewalt begegnen sollten. Die Frage gehört zu
den drängendsten Herausforderungen der Gegenwart, wie die Anschläge von
Halle und Hanau zeigen", so Steuwer. Der Begriff "Deutscher Herbst 1991"
nimmt Bezug auf den "Deutschen Herbst 1977", mit dem eine Reihe
terroristischer Anschläge, Entführungen und Morde der Roten Armee Fraktion
bezeichnet werden, die zu einer der schwersten Krisen der Bundesrepublik
führten.
Zusätzlich zum wissenschaftlichen Programm findet am Freitag, 1. Oktober,
ab 20 Uhr eine öffentliche Filmvorführung im Puschkino statt. Gezeigt wird
der Dokumentarfilm "Zeinabs Wunden", der die Geschichte eines der Mädchen
nacherzählt, die bei dem Brandanschlag in Hünxe verletzt wurden. Im
Anschluss findet ein Gespräch mit der Filmemacherin Esther Schapira statt.
Mit der Frage "Wie wollen wir an den 'Deutschen Herbst' 1991 erinnern?"
befasst sich zudem die Abschlussdiskussion der Tagung, die am Samstag, 2.
Oktober, um 15 Uhr im Audimax am Universitätsplatz beginnt. Daran
teilnehmen werden Thomas Krüger (Präsident der Bundeszentrale für
politische Bildung), Uta Bretschneider (Direktorin des Zeitgeschichtlichen
Forums Leipzig), Prof. Dr. Ralph Jessen (Vorstand der Bundesstiftung zur
Aufarbeitung der SED-Diktatur), Dr. Massimo Perinelli (Rosa-Luxemburg-
Stiftung) und Anetta Kahane (Amadeu Antonio Stiftung), moderiert wird die
Runde von Prof. Dr. Fabien Virchow von der Hochschule Düsseldorf.
Die Tagung wird von der Bundeszentrale für politische Bildung und der
Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördert. Sie ist Teil
des Programms zu den Einheitsfeierlichkeiten der MLU zum Tag der Deutschen
Einheit.
Weitere Informationen zum Programm der Tagung unter:
https://deutscherherbst1991.de
Tagung: "Deutscher Herbst 1991". Das vereinigte Deutschland, der 3.
Oktober 1991 und die Herausforderung rechter Gewalt
Freitag, 1. Oktober, bis Samstag, 2. Oktober 2021
Aula im Löwengebäude
Universitätsplatz 11
06108 Halle (Saale)
Die Teilnahme an der Konferenz ist nur mit Anmeldung via E-Mail möglich:
Öffentliche Filmvorführung: Zeinabs Wunden. Brandspuren in einer deutschen
Stadt
Freitag, 1. Oktober, 20 bis 21.30 Uhr
Puschkino
Kardinal-Albrecht-Straße 6
06108 Halle (Saale)
Podiumsdiskussion: Wie sollen wir an den 'Deutschen Herbst' 1991 erinnern?
Samstag, 2. Oktober, 15 bis 16.30 Uhr
Audimax
Universitätsplatz 1
06108 Halle (Saale)