Maschinelles Lernen hilft, Vorboten eines Erdbebens zu erkennen
Labor-Studie liefert ermutigende Ergebnisse für Prognose der „Zeit bis zum
Beben“. Forschende erzeugten in Gesteinsprobe winzige Bebenprozesse. Am
Sonnabend, 4. November, sprechen zwei Forschende des GFZ genau über das
Thema der Pressemitteilung bei der „Berlin ScienceWeek“ : Erdbeben im
Labor und in der Natur (13.30 Uhr, im Museum für Naturkunde). Der Eintritt
ist frei.
Erdbeben mit ihren direkten Auswirkungen wie Tsunamis, Bränden und
Erdrutschen sind die zweitgrößte Naturgefahr weltweit – nach tropischen
Stürmen. Die Vorhersage des Zeitpunkts, der Stärke und des Ortes von
Erdbeben ist daher von entscheidender Bedeutung, aber noch nicht möglich.
Sie gilt als der Heilige Gral der Seismologie in aller Welt. Seit
Jahrzehnten bemühen sich Forschende, zuverlässige diagnostische
Vorläuferphänomene von Erdbeben zu ermitteln, d.h. einen Parameter oder
eine Kombination von Parametern, die vor einem Erdbeben gemessen werden
und es ermöglichen, mit hoher Wahrscheinlichkeit den Zeitpunkt eines
bevorstehenden Erdbebens vorherzusagen.
Gesteinsdeformation im Labor weist auf wichtige Vorläuferprozesse hin
In einer neuen Studie berichten Dr. Sadegh Karimpouli und ein Team aus der
Sektion „Geomechanik und wissenschaftliches Bohren“ des Deutschen
GeoForschungsZentrums (GFZ) zusammen mit Forschenden des Deutschen
Klimarechenzentrums in Hamburg, der Stanford University, USA, und der
University of Memphis, USA, über einen erfolgreichen Ansatz zur Vorhersage
der „Zeit bis zum Erdbeben“ –bei Gesteinsdeformationsexperiment
Labor. Die Forschenden nutzten die akustische Überwachung der Experimente
durch spezielle Mikrophone und neuartige Techniken des maschinellen
Lernens (ML) zur Analyse der akustischen Wellenformen. Die Ergebnisse
wurden in der Zeitschrift Earth and Planetary Science Letters
veröffentlicht. Die Studie wurde durch das EU-Projekt HORIZON DT-GEO
finanziert. „Wir denken, dass unsere Ergebnisse sehr ermutigend sind“,
sagt Erstautor Dr. Karimpouli vom GFZ.
Unabhängig davon, ob die in Gesteinen aufgestaute Energie durch winzige
oder große Erdbeben freigesetzt wird, ob also lediglich ein Zentimeter-
oder ein 100-Kilometer-Teil einer tektonischen Verwerfung aktiviert wird,
geht man davon aus, dass seismischen Ereignissen im allgemeinen
Vorläuferprozesse vorausgehen. Diese Vorgänge lassen sich jedoch in der
Natur nicht ohne weiteres messen, da man nicht nah genug an den Ort des
Geschehens in mehreren Kilometern Tiefe herankommt. „Deshalb bringen wir
Gesteinsproben ins Labor und führen dort Experimente unter voller
Kontrolle der Randbedingungen durch. Und: Bei diesen Experimenten können
wir systematisch Vorläuferprozesse beobachten, die dem Gesteinsbruch
vorauseilen, so genannte akustische Emissionen. Dank der hochauflösenden
Überwachung im Labor können diese Prozesse erkannt, interpretiert und dann
für die Erdbebenprognose im Labor genutzt werden“, sagt Dr. Grzegorz
Kwiatek, Arbeitsgruppenleiter in der GFZ-Sektion „Geomechanik und
wissenschaftliches Bohren“. Er hat die Studie konzipiert und das Projekt
betreut.
„Observationslücke“ zwischen Labor- und Naturmaßstab
Erdbeben sind das Endergebnis eines komplexen tektonischen Ladeprozesses,
bei dem sich Energie in der Erdkruste entlang von großen und kleinen
Störungszonen ansammelt. Die unzureichende Auflösung, also mögliche
Genauigkeit, bei der Beobachtung von Erdbeben in der Natur sowie die
Komplexität der natürlichen Verwerfungssysteme machen es jedoch schwierig,
die Bedeutung verschiedener Parameter zu untersuchen, die in der Natur als
Indikatoren für Vorläuferprozesse gelten könnten. Man spricht hier von
einer Observationslücke zwischen Labor- und Naturmaßstab.
Um die Unzulänglichkeiten der Feldbeobachtungen auszugleichen, griff die
Forschungsgruppe auf Daten aus „Stick-Slip-Experimenten“ im Labor zurück,
mit denen mehrere Erdbebenzyklen einschließlich der
Erdbebenvorläuferprozesse in einer vollständig kontrollierten Umgebung
nachgestellt werden können. „Stick-slip“ bedeutet, dass die Verwerfung
gleitet („slip“), dann stoppt („stick“) und dann wieder belastet wird, bis
sie erneut gleitet.
Viele Mini-Beben in Gesteinsprobe beschleunigen Forschung
Dies ist ein Analogon des seismischen Erdbebenzyklus in der Natur, wo es
allerdings Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauert, bis der gleiche Bereich
wieder ein Erdbeben erzeugt. Um die Forschung zu beschleunigen, stellt man
die Prozesse im Labor im Zeitraffer nach.
Dr. Thomas Goebel vom Center for Earthquake Research and Information,
University of Memphis, USA, einer der Koautoren der Studie, führte solche
Experimente im geomechanischen Hochdrucklabor des GFZ durch. Die
zylindrische Granitprobe mit einem Durchmesser von 5 cm und einer Höhe von
10 cm, die eine raue Verwerfung mit einer komplexen Verwerfungsoberfläche
enthielt, wurde Spannungen ausgesetzt, die typischerweise in der Erdkruste
mehrere Kilometer unter unseren Füßen wirken. Sie wurde dann weiter
belastet, um ein Verwerfungsgleiten auszulösen.
Die Experimente führten zu wiederholten Rutschungen der komplexen
Verwerfung, die Tausende von akustischen Emissionen erzeugten, was das
periodische Auftreten von großen und kleinen Erdbeben an großen
Verwerfungssystemen wie der Nord- und Ostanatolischen Verwerfung in der
Türkei oder der San-Andreas-Verwerfung in Kalifornien nachahmt.
Der Unterschied zwischen dem natürlichen und dem Labormaßstab besteht in
der sorgfältigen Kontrolle der Veränderungen der Spannungs- und
Störungscharakteristika. Dies geht einher mit der Möglichkeit, sowohl die
seismischen als auch die aseismischen Prozesse mit hoher Auflösung unter
Verwendung von Piezosensoren (einer Art Labormikrophone) und anderen
Instrumenten genau zu überwachen. Ein aseismischer Prozess ist eine
langsame Bewegung einer Verwerfung, bei der im Gegensatz zu den schnellen
Bewegungen eines Erdbebens keine zerstörerischen seismische Wellen erzeugt
werden.
Zwei bislang unbekannte Vorläuferphänomene sind besonders interessant
Das Projektteam hat aus den aufgezeichneten seismischen Daten im Labor 47
seismo-mechanische und statistische, zeitabhängige Parameter ausgewählt
und extrahiert, die Informationen über die räumliche und zeitliche
Entwicklung von Spannungen und Schäden in der Labor-Störungszone liefern.
Diese Sammlung enthält z. B. klassische, aus Vorbeben abgeleitete
Vorläuferparameter wie die Seismizitätsrate oder das Verhältnis von
kleinen und großen seismischen Ereignissen.
Das Team verwendete jedoch auch zwei neue Vorhersageparameter, die
Hinweise auf die lokale Schadensentwicklung und die Heterogenität des
Spannungsfeldes auf der und um die Verwerfungsebene geben. Beide Parameter
lassen sich aus der Untersuchung sehr kleiner Signale ableiten, die
typischerweise im seismischen Hintergrundrauschen verborgen sind. Sie
stammen aus der Ableitung des Verwerfungstyps aus den kleinskaligen
akustischen Emissionen und deren Bewegungsmechanismus.
Dr. Sadegh Karimpouli, der Hauptautor der Studie, erklärt: „Der
Grundgedanke bei der Auswahl dieser Parameter war zum einen, die Menge an
signifikanten Eingangsdaten zu maximieren, die die Komplexität des
Erdbebenprozesses abdecken. Andererseits wollten wir Parameter entwickeln,
die im Zusammenhang mit den physikalischen Prozessen in der
Verwerfungszone leicht zu verstehen sind. Schließlich wollten wir ihre
Vorhersagefähigkeiten durch Modelle des maschinellen Lernens (ML)
quantifizieren und bewerten, um dann die Zeit bis zum bevorstehenden
Versatz im Gestein zu bestimmen – und das ist gelungen.“
Noch zu wenig Daten bei komplexen Verwerfungen: Maschinelles Lernen
erschwert
Die Autoren stellen auch einen Unterschied in der Genauigkeit ihrer
Ergebnisse im Vergleich zu Studien anderer Gruppen fest, die an einfachen,
glatten Verwerfungen durchgeführt wurden. Diese Unterschiede passen gut zu
den aktuellen Modellen, wonach die Verwerfungsstruktur und -komplexität
eine wichtige Rolle bei der Auslösung und der Stärke von Erdbeben spielen
und die Möglichkeiten der Erdbebenvorhersage effektiv bestimmen.
Dr. Karimpouli unterstreicht: „Die Vorhersage der Zeit bis zum Erdbeben
für komplexe raue Verwerfungen wie in unserem Fall ist viel schwieriger.
Die Komplexität ergibt sich aus der hundertfach geringeren Anzahl von
Eingabedaten, was es ML erschwert, zu 'lernen'.“ Er fügt hinzu: „Unsere
Beobachtungen des ML-Trainingsprozesses deuten jedoch darauf hin, dass wir
mit mehr Eingabedaten aus mehr Experimenten die Leistung des Modells
verbessern könnten.“
Resümee
Besonders wichtig an dieser Studie ist, dass das Team in der Lage war, die
Bedeutung von Parametern, die Erdbeben vorausgehen, zu gewichten. Sie
stellten fest, dass das neu eingesetzte neuronale Netz jede Information
ausnutzt, auch solche, die der menschliche Beobachter auf den ersten Blick
für unwichtig halten könnte. Zwar ist es bis zu einem universellen
Erdbebenvorhersagesystem noch ein gutes Stück Weg. Die Forschenden kommen
aber zu dem Schluss, dass die neuen Erkenntnisse das Potenzial haben, die
Vorhersage natürlicher Erdbeben entlang tektonischer Verwerfungen in der
Natur erheblich voranzubringen.
Derzeit arbeiten die Wissenschaftler:innen daran, ihre Methoden vom
Labormaßstab auf den Feldmaßstab zu übertragen, indem sie geeignete, aber
seltene Feldbeobachtungen verwenden.
Die vorliegende Studie zeigt, dass mithilfe von ML-Algorithmen, die auf
physikalischen Parametern basieren, eine genauere Aussage über den
Zeitraum zwischen bestimmten Vorläuferphänomenen und einem Beben auch für
komplexe, heterogene, raue Verwerfungen möglich sein könnte.
Weiterführende Arbeiten
Die Arbeitsgruppe „Faulting Mechanics“ unter der Leitung von Dr. Grzegorz
Kwiatek untersucht innerhalb der von Prof. Marco Bohnhoff geleiteten GFZ-
Sektion ‚Geomechanik und wissenschaftliches Bohren‘ die Möglichkeiten zur
Verallgemeinerung der entwickelten ML-Modelle und zur effektiven Nutzung
von seismo-mechanischen Vorläufern auf allen räumlichen Skalen der
Erdbebenprozesse.
Auf der Skala geologischer Lagerstätten setzt die Forschungsgruppe aktuell
ML-Modelle ein, um beispielsweise bei der hydraulischen Stimulierung
geothermischer Lagerstätten zu vermeiden, dass es zu größeren
„Runaway“-Erdbeben kommt: Wenn solche Beben vorhergesagt werden, kann der
Injektionsprozess entsprechend gesteuert werden. So lässt sich der Abbruch
eines Geothermieprojektes vermeiden.
Originalstudie: Sadegh Karimpouli et al.: “Explainable machine learning
for labquake prediction using catalog-driven features” (in: Earth and
Planetary Science Letters, DOI:
https://doi.org/10.1016/j.epsl
Weitere Informationen und verwandte Projekte:
Projekt GEOREAL
https://www.gfz-potsdam.de/pre
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Geothermie-Projekt Helsinki
https://www.gfz-potsdam.de/pre
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