AWMF: Gut gemeinte EU-Regelungen behindern Patientenversorgung und medizinische Innovation
Unverzichtbare Nischenprodukte, wie sie
beispielsweise in der Kinderkardiologie zum Einsatz kommen, könnten
infolge der europäischen Medizinprodukteverordnung (MDR) vom Markt
verschwinden, und die medizinische Innovation im Bereich von
Labordiagnostik und medizinischen Interventionen könnte aus denselben
Gründen ausgebremst werden. Davor warnt die Arbeitsgemeinschaft der
Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) im
Vorfeld ihrer Delegiertenkonferenz am 4. November 2023, bei der es um
dieses Thema gehen wird.
Da es bei chirurgischen Nischenprodukten häufig keine vergleichbaren
Ersatzprodukte gibt, wirkt sich dies unmittelbar negativ auf die
Versorgung der Patientinnen und Patienten aus. Die AWMF fordert daher die
Koordination durch die Task-Force „Orphan Devices“ auf europäischer Ebene.
Um die Innovationsfähigkeit bei der Entwicklung neuer Medizinprodukte zu
erhalten, müssten Hürden bei der Verfügbarkeit bereits existierender Daten
verringert und die Nutzung von Registerdaten der Fachgesellschaften
ermöglicht werden. Zudem fordert die AWMF in Bezug auf die Neuregelung der
EU-Verordnung über In-vitro-Diagnostika (IVDR), dass Laboren auch
zukünftig die eigene Entwicklung innovativer Diagnostika möglich sein
sollte.
Seit Mai 2021 gilt die europäische Medizinprodukteverordnung, die Medical
Device Regulation (MDR), welche die Marktzulassung von Medizinprodukten,
etwa für chirurgische Instrumente, Implantate, Verbandsstoffe oder
Röntgengeräte regelt. „Als AWMF unterstützen wir das Ziel der MDR, die
Patientensicherheit durch einheitliche europäische Standards zu erhöhen.
Zugleich ist es jedoch wichtig, dass die neuen Regelungen nicht zu
Engpässen in der aktuellen Versorgung führen und dass die
Innovationsfähigkeit der Medizin nicht verschlechtert wird“, betont
Professor Dr. med. Dr. med. dent. Henning Schliephake, stellvertretender
Präsident der AWMF.
Das gelte zum Beispiel für Nischenprodukte, die nur in geringer Stückzahl
benötigt werden und deren Re-Zertifizierung so aufwendig ist, dass
Hersteller sie vom Markt nehmen, erläutert Professor Dr. med. Ernst Klar,
Vorsitzender der Ad-hoc-Kommission „Bewertung von Medizinprodukten“ der
AWMF. So könnte beispielsweise eine speziell für Kinder entwickelte
Biopsie-Zange vom Markt verschwinden, die nach einer Herztransplantation
eine schonende Entnahme von Gewebeproben aus dem Herzen zum Nachweis einer
Abstoßungsreaktion ermöglicht. „Andere Biopsie-Zangen sind größer und
setzen einen erweiterten Gewebedefekt, was zu einer größeren
Verletzungsgefahr und damit einer schlechteren Versorgung führen würde“,
betont der Experte. Gibt es diese Zange nicht mehr, verschlechtere sich
die Versorgung dieser Patienten. Um das zu vermeiden, unterstützt die AWMF
auf europäischer Ebene die neue Task-Force „Orphan Devices“. Sie soll für
Nischenprodukte, die aufgrund geringer Behandlungsfälle selbst keine
klinischen Daten generieren können, entsprechende Leitfäden mit
praktikablen Zulassungsanforderungen entwickeln.
„Die Politik muss darauf achten, dass die Umsetzung der MDR nicht zu einem
Rückgang an Innovationen bei Medizinprodukten führt. Denn auch für die
wissenschaftlichen Studien, die für die Zulassung neu entwickelter
Produkte notwendig sind, werden in der MDR sehr hohe Anforderungen
gestellt, die personell und strukturell aufwendig sind und gegenfinanziert
werden müssen“, so Klar. „Die AWMF fordert entsprechende Unterstützung
durch eine niederschwellig verfügbare Förderung durch das
Bundesministerium für Bildung und Forschung, um vor allem in den
forschenden wissenschaftlichen Institutionen und den Transferbereichen die
höheren materiellen und personellen Aufwände sicherstellen zu können“,
betont der stellvertretende Präsident der AWMF, Professor Schliephake.
Wesentliche Unterstützung kann aber auch durch klinische Daten aus den
Registern der Fachgesellschaften erfolgen, die in Koordination durch die
AWMF für die Neuzulassung und Re-Zertifizierung von Medizinprodukten
besser nutzbar gemacht werden müssen.
Verbot von PFAS darf nicht zu schlechterer Patientenversorgung führen
Engpässe in der Versorgung drohen auch durch das geplante Verbot von
Industriechemikalien wie Per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen (PFAS),
die beispielsweise Teil chirurgischer Instrumente sind sowie in
Herzschrittmachern oder Narkosegeräten vorkommen. Auch wenn die AWMF
grundsätzlich ein Verbot der umweltbelastenden Stoffe unterstützt, weist
sie daraufhin, dass bis zum Entwickeln von Ersatzsubstanzen die
medizinische Versorgung auf dem aktuellen Niveau gesichert bleiben muss.
Denn bisher gibt es für PFAS keine Ersatzstoffe, die genauso langlebig und
gut verträglich sind. „Wir befürchten, dass die Übergangsfristen zu kurz
sind, um gleichwertige Ersatzstoffe zu entwickeln“, so der Experte. Um die
Patientenversorgung dennoch aufrechtzuerhalten, fordert die AWMF, die
PFAS-Untergruppen risikoadaptiert einzustufen und je nach Risiko einen
weiteren Einsatz zu ermöglichen, bis Ersatzstoffe verfügbar sind. Darüber
hinaus brauche es eine entsprechende Forschung und Entwicklung von
unbedenklichen Ersatzstoffen sowie eine effiziente Kontrolle des
Produktionsprozesses und der Entsorgung von PFAS durch die Hersteller, um
die Umweltbelastungen zumindest zu senken.
Laboren sollte auch zukünftig eigene Entwicklung von Diagnostika möglich
sein
Auch im Bereich der Labordiagnostik und Pathologie bringt die Neuregelung
der Verordnung über In-vitro-Diagnostika (IVDR), welche das
Inverkehrbringen von In-vitro-Diagnostika regelt, viele Herausforderungen
mit sich. Häufig stellen Labore In-vitro-Diagnostika selbst her, etwa wenn
es für die Diagnostik von seltenen Erkrankungen keine kommerziell
verfügbaren Produkte gibt. Die neue EU-Verordnung sieht nun vor, dass
diese Produkte aus Eigenherstellung nicht mehr angewandt werden dürfen,
sobald gleichartige Produkte auf dem Markt verfügbar sind. „Eigenständig
entwickelte In-vitro-Diagnostik-Artikel, in die häufig viel Kapazität und
finanzielle Mittel fließen, müssten dann eingestellt werden“, erläutert
Professor Dr. med. Michael Vogeser, Vorsitzender der Ad-hoc-Kommission
„In-vitro Diagnostik“ der AWMF. „IVD aus Eigenherstellung fördern außerdem
die Innovation im Bereich der Universitätsmedizin und müssen auch
zukünftig mit vertretbarem Aufwand einsetzbar sein. Investitionen in
solche Verfahren wären nach den aktuellen Bestimmungen von vornherein
nutzlos, da sie jederzeit durch ein kommerzielles Produkt auf dem Markt
abgelöst werden könnten“, so Schliephake. Dieser Aspekt müsse bei der bis
zum Jahr 2027 vorgesehenen Evaluation der IVDR berücksichtigt werden. Hier
gelte es auch klarzustellen, dass die Regulation von Prozessen und
Verfahren in Laboren nach wie vor in der Verantwortung der
Mitgliedsstaaten liegt und somit in Deutschland im Rahmen der ärztlichen
Selbstverwaltung erfolgen müsse, so Vogeser.
Die aktuelle Stellungnahme der AWMF zum geplanten PFAS-Verbot finden Sie
hier:
https://www.awmf.org/service/a
the-scientific-medical-societi