Studie: Angaben auf Produkten von Säuglingsnahrung kaum wissenschaftlich belegt


Die meisten gesundheits- und nährwertbezogenen Angaben auf
Nahrungsprodukten für Säuglinge, also Ersatz für Muttermilch, sind kaum
oder gar nicht durch hochwertige wissenschaftliche Belege gestützt. Zu
diesem Ergebnis kommt eine internationale Studie aus 15 Ländern, an der
sich Wissenschaftler:innen der Universitätsmedizin Leipzig beteiligt
haben. Die Daten sind aktuell im renommierten Fachmagazin „The BMJ“
veröffentlicht worden.
Gesundheits- und nährwertbezogene Angaben auf Nahrungsprodukten für
Säuglinge sind umstritten, weil sie die vermeintlichen Vorteile gegenüber
dem Stillen hervorheben. Es gibt jedoch nur wenige Daten über die
Häufigkeit der Angaben und ihre wissenschaftliche Untermauerung. Deshalb
untersuchte ein internationales Team von Forscher:innen im Zeitraum von
2020 bis 2022 die Gesundheitsversprechen auf den Verpackungen von
Produkten für Muttermilchersatz und den begleitenden Internetseiten in 15
Ländern auf unterschiedlichen Kontinenten.
„Unsere Ergebnisse zeigen die weit verbreiteten aber schlecht
wissenschaftlich belegten gesundheitsbezogenen Marketingversprechen auf
Ersatzprodukten für Muttermilch. Eine stärkere Regulierung zusätzlich zum
bereits bestehenden Kodex der Weltgesundheitsorganisation zur Vermarktung
solcher Produkte, begleitet von einer konsequenten Ahndung der Abweichung
von diesem Kodex erscheint notwendig“, sagt Jon Genuneit, Mitautor der
Studie und Professor für Pädiatrische Epidemiologie an der Universität
Leipzig. Er und sein Team forschen an der Medizinischen Fakultät unter
anderem zu den Themen Stillverhalten und Muttermilch.
Nur 26 Prozent der Muttermilchersatzprodukte mit wissenschaftlicher
Referenz zu Gesundheitsversprechen
In der aktuellen Studie wurden alle gesundheits- und nährwertbezogenen
Angaben erfasst, die das Produkt oder einen seiner Inhaltsstoffe mit einer
potenziell positiven Wirkung auf das Wachstum, die Entwicklung oder die
Gesundheit der Verbraucher in Verbindung bringt. Bei 608 Produkten waren
die häufigsten Angaben „hilft/unterstützt die Entwicklung des Gehirns
und/oder der Augen und/oder des Nervensystems" (53 Prozent),
„stärkt/unterstützt ein gesundes Immunsystem" (39 Prozent) und
„hilft/unterstützt Wachstum und Entwicklung" (37 Prozent).
In allen Ländern enthielten nur 161 von 608 Ersatzprodukten für
Muttermilch eine wissenschaftliche Referenz zur Unterstützung der Angaben.
Wenn auf wissenschaftliche Belege verwiesen wurde, handelte es sich bei 14
Prozent davon um registrierte klinische Studien. 84 Prozent dieser Studien
wurden von Autor:innen durchgeführt, die entweder von der
Nahrungsmittelindustrie finanziert wurden oder direkt mit der Industrie
verbunden waren. Für 74 Prozent der Produkte, die spezifische
gesundheitsbezogene Angaben machten, gab es keine wissenschaftliche
Referenz.
Wenig Trennschärfe bei Inhaltsstoffen und Gesundheitseffekten
„Zu den meisten Produkten für Säuglingsnahrung wurde mindestens ein
Werbeversprechen gemacht. Oft wurden mehreren Inhaltsstoffen dieselben
oder ähnliche Gesundheitseffekte zugeschrieben und gleichzeitig einzelne
Inhaltsstoffe mit vielfältigen Gesundheitseffekten verbunden. Diese
mangelnde Spezifität könnte darauf hinweisen, dass die Zusammenhänge
zwischen Inhaltsstoff und Gesundheitseffekt nicht ursächlich sind oder
sehr oberflächlich benannt werden, was beim Verbraucher viele Fehlschlüsse
zulässt“, erklärt Prof. Genuneit.
Die häufigsten Zutatengruppen, die in den Angaben der Ersatzprodukte für
Muttermilch genannt wurden, waren ungesättigte Fettsäuren mit 46 Prozent.
Seit Februar 2022 muss in der EU die ungesättigte Fettsäure
Docosahexaensäure (DHA), mit nachgewiesenen, anerkannten
Gesundheitseffekten für die Entwicklung des kindlichen Nervensystems, in
Ersatzprodukten für Muttermilch enthalten sein. Ab Februar 2025 ist der
explizite Werbehinweis auf diesen Inhaltsstoff in der EU verboten. Weitere
häufige Zutaten sind Präbiotika, Probiotika oder Synbiotika in 37 Prozent
der Säuglingsnahrung und bei 20 Prozent hydrolysiertes Eiweiß.
Eine Besonderheit der Studie: Sie erhielt keine gesonderte
Forschungsförderung, sondern wurde von einem internationalen,
medizinischen Netzwerk aus eigenem Antrieb erstellt. Das Thema ist
aktuell, erst Anfang Februar 2023 erschienen drei Artikel in der
renommierten medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ zum hocheffektiven
Marketingapparat der Hersteller von Ersatzprodukten für Muttermilch. Darin
forderten Gesundheitsexpert:innen ein härteres Durchgreifen gegen die
Marketingpraktiken von Firmen und mehr Unterstützung für Mütter beim
Stillen. Die Forscher:innen kommen in ihrer wissenschaftlichen Publikation
in „THE BMJ“ zu einem gemeinsamen Schluss: „Unsere Ergebnisse unterstützen
die Forderung nach einem überarbeiteten Rechtsrahmen für
Muttermilchersatzprodukte, um die Verbraucher besser vor der aggressiven
Vermarktung solcher Produkte und für sie nicht nachvollziehbaren oder
geltenden Gesundheitsversprechen zu schützen."