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Notstand in der Kinderintensivpflege: „Kinder tragen schwere Folgeschäden davon“

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Aktionsbündnis Angeborene Herzfehler (ABAHF) warnt vor prekärer Situation
in der Kinderintensivmedizin und den Folgeschäden für schwer herzkranke
Kinder mit Bedarf an intensivmedizinischer Versorgung

Die kritische Lage auf Kinderintensivstationen an Deutschlands
Kinderkliniken verfolgt das Aktionsbündnis Angeborene Herzfehler (ABAHF)
mit höchster Besorgnis. Dem Bündnis gehören alle sechs bundesweit tätigen
Patientenorganisationen an. Der chronische Personalmangel in den
Pflegediensten der Kinderkrankenhäuser in Deutschland sorgt bereits seit
Jahren zu einem nicht tragbaren Notstand in der Kinderintensivpflege. Vor
allem auf den Kinderherz-Intensivstationen ist eine dramatische
Unterbesetzung der Pflegedienste zu beklagen. Bereits vor der Corona-
Pandemie mussten Kinderherzzentren im Schnitt 30 Prozent der
Intensivbetten wegen Pflegekräftemangels sperren. Jährlich kommt es in
Deutschlands Kinderherzkliniken zu fast 26.000 Klinikaufnahmen für die
Behandlung von angeborenen Herzfehlern.
Besonders alarmierend sind Zahlen der jüngsten Umfrage der Deutschen
Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) zur
aktuellen Situation der Kinderintensivmedizin in Deutschland (1). Der
Erhebung (Ad-hoc-Umfrage) zufolge hatten von 110 Kinderkliniken zuletzt 43
kein Bett mehr auf der Normalstation frei. In ganz Deutschland gab es
gerade einmal 83 freie Betten auf Kinderintensivstationen, also lediglich
0,75 pro Klinik. Es gibt Räumlichkeiten und sogar Ärzte, aber kein
Pflegepersonal. Grund für die Sperrung von fast 40 Prozent der
Intensivbetten für Kinder ist laut DIVI hauptsächlich der Personalmangel.

Engpässe in den Kinderkrankenhäusern: „Für alle ein unhaltbarer Zustand“
„Aufgrund der jetzigen Situation ist davon auszugehen, dass Kinder in
Notfallsituationen – das kann eine Komplikation aufgrund eines angeborenen
Herzfehlers sein - schwere Folgeschäden davontragen und im schlimmsten
Fall versterben, wenn sie wegen fehlender Intensiv-Pflegekräfte nicht
rechtzeitig intensivmedizinisch versorgt werden. Dies ist für alle ein
unhaltbarer Zustand, auf den sofort reagiert werden muss“, betont der
Notfall- und Intensivmediziner Prof. Dr. med. Stefan Hofer,
Interessensvertreter der Eltern herzkranker Kinder im Vorstand der
Deutschen Herzstiftung. Alarmierend sind die Appelle und Hilferufe von
Kinderintensivmedizinern unmittelbar aus den Kliniken, die eine
intensivmedizinische Versorgung von Kindern als nicht mehr gewährleistet
einstufen. Dr. med. Michael Sasse, Leitender Oberarzt der Abteilung für
Pädiatrische Intensivmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH)
und Leiter des Pädiatrischen Intensivnetzwerks (PIN) an der MHH: „Die
Zustände in den Kinderkliniken sind für mich und mein Team beinahe
unerträglich geworden und wir leiden sehr unter der Unterversorgung der
uns anvertrauten Kinder.“ Im Rahmen der DIVI-Umfrage etwa berichten 51
Kliniken von abgelehnten Patientenanfragen. Somit berichten 46,4 Prozent
der an der Umfrage teilnehmenden Kliniken von insgesamt 116 abgelehnten
Patientinnen und Patienten – an nur einem Tag.

Radikaler Rot-Stift in der Kinderkrankenpflege rächt sich mit prekärer
Notlage
Gerade in der kinderkardiologischen und kinderherzchirurgischen
Intensivpflege sind ein fundiertes Fachwissen und viel Erfahrung gefragt,
um den hohen Ansprüchen an die Versorgung schwerstkranker Neugeborener,
Kinder und Jugendlicher gerecht zu werden. Dass in den letzten Jahren
nicht nur mehrere Zehntausend Pflege-Stellen abgebaut wurden, sondern auch
zahlreiche Kinderkrankenpflegeschulen dem Rotstift zum Opfer fielen, ist
einer der Hauptgründe für die Notlage des Pflegedienstes in Kinderkliniken
und besonders in der Kinderintensivpflege. „So kann der dringende Bedarf
an neuen Pflegerinnen und Pflegern in den Kinderkliniken nicht gedeckt
werden“, gibt Kai Rüenbrink, Sprecher des ABAHF, zu bedenken. Wie dringend
der Handlungsbedarf ist, macht der Kinder- und Notfallmediziner aus
München PD Dr. med. Florian Hoffmann, DIVI-Generalsekretär, deutlich: „Das
sind derzeit katastrophale Zustände. Ein Armutszeugnis für Deutschland.“
Angesichts zahlreicher nicht besetzbarer Planstellen bleibt den Kliniken
oft nichts anders übrig, als Intensivbetten unbelegt zu lassen. Müssen
Notfälle aufgenommen werden, müssen bei den Patienten mit planbaren
(elektiven) Eingriffen oft lange geplante Operationen verschoben werden.
„Für das Kind und die Eltern, die sich vom Arbeitgeber eigens haben
beurlauben lassen, ist das eine Katastrophe“, so ABAHF-Sprecher Rüenbrink.
Internationale Studien (3) zeigen, dass eine Unterbesetzung im
Pflegedienst das Risiko für Schädigungen der Patienten durch sogenannte
unerwünschte Ereignisse erhöht. Werden diese schweren Komplikationen
aufgrund einer Überlastung des Pflegepersonals zu spät oder gar nicht
erkannt, kann das zum Tod im Krankenhaus führen.
„Wir appellieren deshalb an die Bundesregierung, die Thematik
Pflegenotstand ernst zu nehmen und die Versorgung
intensivpflegebedürftiger Kinder schnellstmöglich in den Griff zu
bekommen“, betonen Herzstiftungs-Vorstand Prof. Hofer und ABAHF-Sprecher
Rüenbrink. Das ABAHF folgt den Forderungen der Intensivmediziner des DIVI,
u. a.
- eine Optimierung der Arbeitsbedingungen durch Ausfallkonzepte im Bereich
der Kinderkrankenpflege (geplante Freizeit bleibt Freizeit, Urlaub bleibt
Urlaub) sowie durch Entlastung von pflegefernen Aufgaben (MFA,
Pflegeassistenz, Hostessen, Reinigungskräfte),
- eine Optimierung der Ausbildungsbedingungen und die Verpflichtung der
Kinderkliniken, Kinderkrankenpfleger*innen auszubilden.

Laut einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Untersuchung (2)
könnte u.a. eine Vielzahl PflegerInnen zurückgewonnen werden, wenn die
Arbeitsbedingungen verbessert und Teilzeitkräfte zur Aufstockung ihrer
Stundenzahl motiviert würden. Auch Berufsrückkehrer*innen mit jahrelanger
Erfahrung könnten so zurückgewonnen werden.

(wi)

Quellen:
(1) DIVI-Pressekonferenz: Aktuelle Situation der Kinderintensivmedizin
(01.12.2022) https://youtu.be/X4UcQ651dqQ
„DIVI-PM: Aktuelle Klinik-Umfrage belegt: Durchschnittlich kein freies
Intensivbett für kritisch kranke Kinder – Notfallmediziner fordern neue
Strukturen“ vom 01. Dezember 2022, abgerufen am 9.12.2022:
https://www.divi.de/presse/pressemeldungen/pm-aktuelle-klinik-umfrage-
belegt-durchschnittlich-kein-freies-intensivbett-fuer-kritisch-kranke-
kinder-notfallmediziner-fordern-neue-strukturen

(2) Auffenberg, J. et al., „Ich pflege wieder, wenn ...“, Potenzialanalyse
zur Berufsrückkehr und Arbeitszeitaufstockung von Pflegefachkräften, Ein
Kooperationsprojekt der Arbeitnehmerkammer Bremen, des Instituts Arbeit
und Technik Gelsenkirchen und der Arbeitskammer des Saarlandes, April 2022
(3) Aiken, Linda H et al. BMJ 2012;344:e1717, doi:
https://doi.org/10.1136/bmj.e1717; Kane RL, et al. Nursing Staffing and
Quality of Patient Care. Evidence Report/Technology Assessment No. 151
(Prepared by the Minnesota Evidence-based Practice Center under Contract
No. 290-02-0009.) AHRQ Publication No. 07-E005. In:
https://archive.ahrq.gov/downloads/pub/evidence/pdf/nursestaff/nursestaff.pdf

Das Aktionsbündnis Angeborene Herzfehler (ABAHF)
Um in der Öffentlichkeit mit einer Stimme für eine bessere Versorgung von
Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit angeborenen Herzfehlern und
deren Familien einzutreten und ihnen noch effektiver zu helfen, haben sich
2014 auf Initiative der Deutschen Herzstiftung e. V. sechs bundesweit
tätige Patientenorganisationen zum „Aktionsbündnis Angeborene Herzfehler“
(ABAHF) zusammengeschlossen. Die Organisationen sind: Bundesverband
Herzkranke Kinder e.V., Bundesverein Jemah e.V., Fontanherzen e.V.,
Herzkind e.V., Interessengemeinschaft Das Herzkranke Kind e.V. und die
Kinderherzstiftung der Deutschen Herzstiftung e.V.
Etwa 8.500 Neugeborene mit angeborenem Herzfehler kommen in Deutschland
jährlich zur Welt. Heute erreichen rund 90 % dieser Kinder dank der
Fortschritte der Kinderherzchirurgie und Kinderkardiologie das
Erwachsenenalter. Die Zahl der Erwachsenen mit angeborenem Herzfehler
(EMAH) wird auf über 300.000 geschätzt.