Wie Menschen trotz radikaler Ungewissheit entscheiden


Die Welt ist komplex, dynamisch und vernetzt. Das führt dazu, dass Folgen
von Entscheidungen häufig nicht kalkulierbar sind. „Dennoch müssen wir oft
Entscheidungen von enormer Tragweite treffen“, sagt der international
renommierte Ökonom und Psychologe Professor Dr. David Tuckett, der am
University College London ein Institut zur Erforschung von
Entscheidungsunsicherheit leitet. Wie Menschen unter Bedingungen radikaler
Ungewissheit entscheiden, erläutert Tuckett am kommenden Montag, 5.
Dezember, um 18.30 Uhr in einem Vortrag der neuen Reihe „Uncertainty-
Talk“.
Der Eintritt zu dem englischsprachigen Vortrag im Hauptgebäude der
Universität Bielefeld (Hörsaal 14) ist kostenlos.
„Entscheidungen in der realen Welt unterscheiden sich in vielerlei
Hinsicht von denen, die in Labors und Lehrbüchern analysiert werden“, sagt
David Tuckett. „Wir müssen oft folgenschwere Entscheidungen fällen, obwohl
wir dafür nur unvollständige Informationen haben, die Wahlmöglichkeiten
mehrdeutig sind und die zukünftige Entwicklung nicht der vergangenen
ähnelt.“ Wie gelingt es Menschen unter solchen unsicheren Bedingungen
trotzdem, zu Entscheidungen zu gelangen? Das erklärt David Tucket mit
seiner Conviction Narrative Theory (Theorie der Überzeugungsnarrative,
CNT).
Klimawandel und Pandemie fordern weitreichende Entscheidungen
„David Tuckett arbeitet stichhaltig heraus, dass Standardansätze der
ökonomischen Entscheidungstheorie das Verhalten vieler Menschen in
Situationen mit radikaler Unsicherheit, wie Entscheidungen zur Berufswahl
oder zum Umgang mit dem Klimawandel und der Pandemie, nicht vollständig
erklären können“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Professor Dr.
Herbert Dawid von der Universität Bielefeld, einer der Organisator*innen
der Uncertainty-Talks. „Tucketts Theorie liefert durch die stärkere
Berücksichtigung psychologischer Aspekte wichtige Einsichten, wie Menschen
solche komplexen Entscheidungssituationen und die damit verbundene
Unsicherheit bewältigen“, sagt der Bielefelder Wissenschaftler. David
Tuckett geht in seiner Theorie davon aus, dass „Überzeugungsnarrative“ es
Individuen ermöglichen, sich auf die Ausführung bestimmter Handlungen
vorzubereiten, auch wenn sie nicht genau wissen können, wie diese ausgehen
werden. Die Narrative dienen den Akteur*innen zudem als einfaches Mittel,
um zu kommunizieren und die Unterstützung anderer für ihre ausgewählten
Handlungen zu gewinnen und um sich selbst zu rechtfertigen.
In seinem Vortrag an der Universität Bielefeld stellt David Tuckett die
Grundsätze seiner Theorie dar. Ebenfalls geht er darauf ein, welche
Anforderungen sich aus dieser Theorie für die Forschung und
Entscheidungsträger*innen in Politik und Wirtschaft ergeben.
Vortragsreihe ist Teil einer neuen Forschungsinitiative
Professor Dr. Herbert Dawid organisiert die Uncertainty-Talks zusammen mit
der Geschichtswissenschaftlerin Professorin Dr. Silke Schwandt und dem
Konfliktforscher Professor Dr. Andreas Zick. Die Vortragsreihe wird in
Kooperation mit dem Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der
Universität Bielefeld veranstaltet. Hervorgegangen ist sie aus einer
Forschungsinitiative an der Universität Bielefeld, die die drei
Wissenschaftler*innen koordinieren. Der Zusammenschluss beschäftigt sich
intensiv mit Unsicherheit. Lange Zeit ist Unsicherheit als allgegenwärtige
Bedrohung betrachtet worden, die es zu kontrollieren und im Zaum zu halten
galt. Die neue Initiative strebt hingegen danach, die Forschung zu
Ungewissheiten und Unsicherheiten auf eine breitere Basis zu stellen und
voranzubringen. Dafür stellt sie die vielfältigen Arten der Navigation von
Unsicherheit in den Mittelpunkt. Die Uncertainty-Talks sollen durch
verschiedene Blickwinkel auf diese Analyse einen Beitrag zum
interdisziplinären Verständnis dieses Forschungsansatzes leisten.
Experte für die Auseinandersetzung mit radikaler Ungewissheit
Professor Dr. David Tuckett ist Ökonom, Medizinsoziologe, Lehr- und
Supervisionsanalytiker der British Psychoanalytical Society sowie Fellow
des Institute of Psychoanalysis, London. Er ist Direktor des Centre for
The Study of Decision-Making Uncertainty am University College London und
leitender Wissenschaftler im Netzwerk CRUISSE, das sich mit der
Auseinandersetzung mit radikaler Ungewissheit in Wissenschaft,
Gesellschaft und Umwelt befasst. In seinen Studien arbeitet er daran,
Erkenntnisse der Psychoanalyse, Soziologie, kognitiven Psychologie und
Wirtschaft zusammenzuführen. Er ist Begründer der Theorie der emotionalen
Finanzwirtschaft, die er in dem Buch „Die verborgenen psychologischen
Dimensionen der Finanzmärkte“ vorstellt.
Tuckett ist Vorsitzender der Arbeitsgruppe für vergleichende klinische
Methoden der Europäischen Psychoanalytischen Föderation (EPF) und
langjähriger Hauptherausgeber (1988-2001) des International Journal of
Psychoanalysis sowie Gründungsredakteur der New Library of Psychoanalysis.
2007 erhielt er den Sigourney Award for Psychoanalysis. 2010 sprach er als
eingeladener Redner auf dem Weltwirtschaftsforum.
Außer dem Vortrag von Dawid Tucket am 5. Dezember stehen auf dem Programm
der Uncertainty-Talks aktuell zwei weitere Veranstaltungen:
- Montag, 19. Dezember 2022, 18.30 Uhr: Professor Dr. Armin Nassehi von
der Ludwig-Maximilians-Universität München. Der Soziologe spricht über das
Thema „Entscheidungen unter Unsicherheitsbedingungen. Ein Pleonasmus oder
ein steigerbarer Sachverhalt?“. Ort: Plenarsaal des Zentrums für
interdisziplinäre Forschung (ZiF).
- Montag, 30. Januar 2023, 18.30 Uhr: Professor Dr. Gerd Gigerenzer vom
Harding-Zentrum für Risikokompetenz an der Universität Potsdam. Der
Psychologe und Risikoforscher hält seinen Vortrag zum Thema „Der Umgang
mit Ungewissheit im digitalen Zeitalter“. Ort: Plenarsaal des ZiF. Der
Vortrag wurde in den Januar verschoben, nachdem er im November ausgefallen
war.