Lernen trotz Alzheimerdemenz


Unsere Gesellschaft wird immer älter. Im Zuge des demografischen Wandels
nimmt die Zahl alterstypischer Erkrankungen stark zu. Aktuell leben etwa
1,7 Millionen Menschen mit Demenz in Deutschland. Laut Schätzungen wird
sich diese Zahl bis zum Jahr 2050 nahezu verdoppeln. Nora Berner von der
FernUniversität in Hagen zeigt mit ihrem Promotionsprojekt auf, wie Lernen
und Bildung auch mit Demenz stattfinden können. Die
Bildungswissenschaftlerin bindet erkrankte Menschen in ihre Forschung mit
ein.
„Wir haben ja heute schon fast alle einen persönlichen Bezug zu
Betroffenen in der Familie oder im Bekanntenkreis, die an Demenz erkrankt
sind“, sagt Bildungswissenschaftlerin Nora Berner von der FernUniversität
in Hagen. Ihr Promotionsprojekt „Alzheimerdemenz als biografische
Erfahrung“ könnte daher nicht aktueller sein. Es zeigt unter anderem auf,
wie Lernen und Bildung auch mit Demenz stattfinden können. „Gerade im
Anfangsstadium lässt sich der eigenständige Umgang mit der Krankheit
lernen und auf biografisch erworbene Fähigkeiten zurückgreifen“, fasst
Nora Berner zusammen.
Forschen mit Betroffenen
Bislang wird überwiegend mit einem medizinischen Fokus über Menschen mit
Demenz geforscht. Die 32-jährige wissenschaftliche Mitarbeiterin aus dem
Lehrgebiet Empirische Bildungsforschung wählt nun eine
erziehungswissenschaftliche Perspektive und bindet erkrankte Menschen im
Sinne des lebenslangen Lernens mit ein. Im deutschsprachigen Raum gibt es
nur wenige Studien, in denen mit Menschen mit Demenz geforscht wird. „Auch
in der Forschung dominiert die Verlustperspektive. Betroffenen wird ein
sinnvoller Beitrag im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung oft
nicht zugetraut“, bedauert Berner.
Als Forscherin geht sie bewusst einen anderen Weg. „Ich zeige eine
Fähigkeitsperspektive auf“, betont sie. „Der Subjektstatus von Menschen
mit Demenz wird gestärkt, indem sie selbst über ihr Leben und ihr
Krankheitserleben Auskunft geben.“ Das ist allerdings nur möglich, da die
FernUni-Wissenschaftlerin gleichzeitig Pädagogin und Praktikerin ist. Nach
dem Studium der Erziehungswissenschaft und Gerontologie arbeitete sie als
Leiterin des Sozialen Dienstes in einer Altenpflegeeinrichtung. „Ich
verfüge über krankheitsspezifisches Fachwissen und kann mit Menschen mit
kognitiven, funktionellen und verhaltensspezifischen Beeinträchtigungen
umgehen“, sagt sie.
Biografisch narrative Interviews
Im Zuge ihrer Promotion rücken die Biografien von 18 an Alzheimerdemenz
erkrankten Menschen zwischen 70 und 92 Jahren in den Fokus. Berner hat
biografisch-narrative Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern in
Pflegeeinrichtungen geführt. Neben der Krankheitsgeschichte erfasst sie
die Lebensgeschichte und biografische Entwicklung ihrer
Interviewpartnerinnen und Interviewpartner. „Die Hälfte der Gespräche ist
gut verlaufen“, bilanziert sie. Bei der anderen Hälfte brach sie zum Wohl
der Teilnehmenden ab und leitete stattdessen in eine pädagogische Maßnahme
wie ein Spiel oder einen Spaziergang über.
Wie prägen biografische Erfahrungen und erworbene Fähigkeiten den Umgang
mit Alzheimerdemenz? Und wie gestalten sich Lern- und Bildungsprozesse bei
betroffenen Menschen? Um diese Fragen ging es in den Gesprächen. Eine
pauschale Antwort darauf und allgemeingültige Ergebnisse gibt es nicht.
„Jede Lebenssituation ist vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte und der
aktuellen Fähigkeiten, aber auch Einschränkungen durch das Älterwerden und
eben auch demenzieller Veränderungen zu betrachten“, fasst Nora Berner
zusammen.
Da ist zum Beispiel der ehemalige Soldat, der von Marschplänen spricht und
sich To-do-Listen schreibt, um zu wissen, was er wann wie erledigen muss.
Oder der frühere Selbstständige, der trotz Alzheimerdemenz wie einst im
Beruf auch im Umgang mit der Krankheit selbstbestimmt entscheiden will,
bis zu welchem Punkt sein Leben für ihn noch lebenswert ist. Und die
Seniorin, die durch ihre Alzheimerdemenz von Zwängen befreit wird und
trotz der Erkrankung aufblüht.
Strategien für mehr Lebensqualität
Erste Ergebnisse des Projekts zeigen, dass durch die Konfrontation mit den
Gegebenheiten des Alters Umgangsstrategien entwickelt werden, um
Lebensqualität zu sichern. Auf der einen Seite werden negative Gefühle
reduziert, indem die Alzheimerdemenz verharmlost oder bagatellisiert wird.
Auf der anderen Seite, versuchen Betroffene Kontrolle über die Krankheit
zu gewinnen, indem sie sich über die Diagnose und Therapien informieren.
Deutlich werden aber auch Einschränkungen und Grenzen möglicher
Bildungsprozesse aufgrund der Erkrankung.
In Nora Berners Promotion bleiben praktische Implikationen außen vor. Eine
Empfehlung stellt die Bildungswissenschaftlerin dennoch heraus: „Ein
Großteil der an Alzheimerdemenz erkrankten Personen wird zu Hause
versorgt“, sagt sie. „Mehr individuelle Förderung, aber auch Anerkennung
und Angebote für Angehörige sind angesichts der zunehmenden Alterung
unserer Gesellschaft unverzichtbar.“
Infobox
Demenz ist der Oberbegriff für mehr als 50 Krankheiten. Gemeinsames
Krankheitsbild ist eine chronische oder fortschreitende Krankheit des
Gehirns bzw. eine Beeinträchtigung der höheren Hirnfunktionen. Die
Ursachen dafür sind unterschiedlich. 70 Prozent aller Menschen mit Demenz
leiden am Typ Alzheimer. Daher wird der Begriff Demenz oft pauschal mit
Alzheimer gleichgesetzt.