Auszeichnung „Rede des Jahres 2016“ geht an Bundestagspräsident Norbert Lammert
Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen würdigt besonnene
Rede in politisch turbulenten Zeiten
Die Auszeichnung der „Rede des Jahres“ geht in diesem Jahr an Professor
Dr. Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundestages, für seine Rede
zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober in der Dresdner Semperoper.
Damit zeichnet das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität
Tübingen eine besonnene Rede inmitten einer meist stürmisch geführten
politischen Debatte aus.
Lammert steht mit seiner Rede vor einer großen Aufgabe: er soll als hoher
Vertreter des Staates eine Festrede halten, während draußen vor dem Saal
Menschen gegen die Staatsvertreter protestieren. Er soll seine Freude über
die Entwicklung Deutschlands ausdrücken, während draußen dessen Niedergang
beschworen wird. Er soll Lob aussprechen im Augenblick der Kritik. Mit
Ehrlichkeit begegnet er dieser Herausforderung: „Rundum fröhlich ist
Dresden auch in diesem Jahr nicht – und Deutschland auch nicht.“ Diese
Offenheit verschafft ihm Glaubwürdigkeit und zeigt, dass er sich als
Redner aufrichtig mit der politischen Gegenmeinung beschäftigen will.
Bereits diese Einstellung hebt seine Rede in positiver Weise von vielen
der politischen Stimmen des Jahres 2016 ab.
Es gehört zu den großen Stärken seiner Rhetorik, deutliche Worte zu
finden, sich jedoch nicht zu aggressiven Tönen verleiten zu lassen, wenn
er „diejenigen, die heute am lautesten schreien und pfeifen und ihre
erstaunliche Empörung kostenlos zu Markte tragen“ direkt anspricht und an
jene Verantwortung erinnert, die sich aus der deutschen Geschichte ergibt.
Mit Blick auf die Demonstranten vor der Semperoper hält er fest, „Man darf
sogar dagegen sein“, um am Ende doch umso stärker zu resümieren,
Einigkeit, Recht und Freiheit seien mindestens „gleich drei gute Gründe
zum Feiern“.
Lammert versteht es durch die gesamte Rede hindurch, seine politischen
Botschaften für die Hörer konkret zu verdeutlichen, um seine Rede nicht zu
einem der oft gesehenen Schauplätze politischer Allgemeinheiten zu machen.
Dies gelingt ihm, indem er beispielsweise den stilistischen Kunstgriff der
Erzählung wählt. Die Entstehung des Schriftzuges „Dem Deutschen Volke“ am
Reichstagsgebäude, verbindet er in seiner Nacherzählung mit dem bewegenden
Einzelschicksal des Widerstandskämpfers Erich Gloeden, der dem Terror des
NS-Regimes zum Opfer fiel. Damit wird der abstrakte Gedanke, die
Volksvertreter mögen dem Deutschen Volke dienen, emotional aufgeladen und
die Notwendigkeit dieser politischen Forderung auf eindringliche Weise vor
Augen geführt. Hierzu trägt der gekonnte Wechsel unterschiedlicher
stilistischer Ebenen bei: Lammert schildert die Situation des zum
Christentum konvertierten Gloeden, der sich in seinem Land sicher gefühlt
habe „- zu sicher“, wie Lammert anfügt. Die so erzeugte Spannung der
Erzählung kontrastiert stilistisch geschickt mit der schockierend
nüchternen Aufzählung der Fakten: „Gloedens Frau, seine Schwiegermutter
und er selbst wurden im November 1944 in Plötzensee durch das Fallbeil
getötet.“ Doch Lammert bleibt nicht einfach bei der historischen
Betrachtung stehen, sondern führt sie wieder zurück zu der drängenden
Frage der Gegenwart – wer und was darf heute als deutsch gelten, und wer
ist eigentlich jenes deutsche Volk, für das sich noch heute die
Parlamentarier unter dem Reichstagsschriftzug versammeln? Dass er diese
unbequeme Thematik explizit anspricht, macht seine Rede mutig und
engagiert.
Zugleich beweist Lammert besonderes Geschick, seine Zuhörer zu
überraschen, ohne durch diese Effekte den Ernst der Thematik zu übertönen:
Das lange Zitat eines Flüchtlingsberichts, der klingt wie die Flucht einer
Frau aus dem Nahen Osten über das Mittelmeer, entpuppt sich als Bericht
einer Kriegsflüchtigen des zweiten Weltkrieges. Doch dieser Spannungsbogen
steht ganz im Dienst des eigentlichen Anliegens Lammerts: Damals wie
heute, so seine Botschaft, ist die Idee einer staatlichen Einheit in
Frieden in vielen Teilen der Welt bedroht. Und der anschließende
Flüchtlingsbericht einer jungen Frau aus Syrien verdeutlicht, wie groß die
Verantwortung Deutschlands ist, sich vor diesen Dramen nicht zu
verschließen. Diesen dramaturgisch gekonnten Redeaufbau nutzt Lammert
erneut, um sein Anliegen zum Festtag hervorzubringen: „Dieser Staat,
dessen Einheit wir heute feiern, unsere Gesellschaft, kann und will
Möglichkeiten eröffnen, ein Leben in Frieden und Freiheit zu führen.“
Dabei gehört es zur besonderen Charakteristik der Rede, dass sich Lammert
als Redner auch selbst von Emotionen bewegen lässt, etwa, wenn er von der
Bombardierung des letzten Krankenhauses in Aleppo berichtet. Er steht
durch seine persönliche Ergriffenheit für die Integrität seiner Worte,
wirkt wohlwollend und klug, energisch und charmant. Nicht zuletzt dieser
Umstand trug zu dem großen Medienecho bei, welches auf die Rede folgte.
Damit wird sie zu einem bemerkenswerten Dokument politischer Rhetorik in
einem Jahr, welches in vielerlei Hinsicht von öffentlicher Rede und
Gegenrede geprägt war. Im Gegensatz zum herrschenden Ton des Diskurses
rund um Einheit und Spaltung Deutschlands in den vergangenen Monaten,
setzt Lammert ein Zeichen für die überlegte Rede, die den schrillen
Auftritt vermeidet und auf die Stärken der demokratischen Gegenwart setzt.
Denn Deutschland ist „sicher nicht perfekt, aber gewiss in besserer
Verfassung als jemals zuvor.“
Zu der herausragenden rednerischen Qualität Lammerts zählt auch die
Verbindung seines ruhigen und gefassten Vortragsstils mit einer deutlichen
und kraftvollen Sprache am Ende der Rede: „Vieles ist uns gelungen,
manches offenbar besser als anderen“ – mit diesen markanten Worten kann er
seinen Stolz auf die Einheit Deutschlands ausdrücken, ohne einem dumpfen
Nationalismus das Wort zu reden. Und zugleich formuliert er jene prägnante
Mahnung, die seine Rede sprachlich so eindringlich macht: „Das Paradies
auf Erden ist hier nicht.“ Aber weil doch viele Menschen in Not das
Paradies in Deutschland suchen, so seine kluge Argumentation, haben wir
alle eine besondere Verantwortung, den Gedanken von Einheit in Frieden
hochzuhalten. Lammert gibt damit ein Vorbild für jene differenzierte
Betrachtungsweise, die die politische Debatte der letzten Monate rund um
die Identität dieses Landes allzu oft vermissen ließ. Seine Einheits-Rede
wird so zu einem exzellenten Beispiel politischer Festrede.
Jury: Simon Drescher, Pia Engel, Dr. Gregor Kalivoda, Prof. Dr. Joachim
Knape, Sebastian König, Prof. Dr. Olaf Kramer, Severina Laubinger,
Viktorija Romascenko, Frank Schuhmacher, Prof. Dr. Dietmar Till, Dr.
Thomas Zinsmaier
www.rhetorik.uni-tuebingen.de
Hintergrund „Rede des Jahres“
Die Auszeichnung "Rede des Jahres" wird seit 1998 vom Seminar für
Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen vergeben und ging seitdem
unter anderem an Marcel Reich-Ranicki, Joschka Fischer und Papst Benedikt.
Mit diesem Preis würdigt das Seminar für Allgemeine Rhetorik jährlich eine
Rede, die die politische, soziale oder kulturelle Diskussion entscheidend
beeinflusst hat. Neben das Kriterium der Wirkungsmächtigkeit treten bei
der Auswahl weitere Bewertungsmaßstäbe wie argumentative Leistung und
stilistische Qualität der Rede. Ziel ist es, das gesamte rhetorische
Kalkül des Redners zu betrachten und zu bewerten.
Hintergrund „Seminar für Allgemeine Rhetorik“
Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Eberhard Karls Universität
Tübingen ist ein Forschungs- und Lehrinstitut für die Geschichte, Theorie
und Praxis der Rhetorik. Jede Form menschlicher Beredsamkeit, ob sie sich
mündlich, schriftlich oder mit Hilfe von Medien wie Film, Fernsehen und
Internet artikuliert, ist Thema der Forschungsprojekte und
Lehrveranstaltungen des Instituts. Gründliche theoretische und
realitätsnahe praktische Ausbildung sind am Seminar für Allgemeine
Rhetorik eng miteinander verknüpft. Allgemeine Rhetorik wird in Tübingen
im Rahmen des BA-MA-Studiums als Hauptfach und als Nebenfach angeboten.
Weitere Informationen finden Sie unter
http://Text der Rede:
https://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden#url=L3BhcmxhbWVudC9wcmFlc2lkaXVtL3JlZGVuLzIwMTYvMDA0LzQ2MjI5Ng==&mod=mod462012
http://Video der Rede:
https://www.youtube.com/watch?v=Jr1iBELR4kA