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Deutsche Umwelthilfe, NRW-Landesregierung und Bundesstadt Bonn schließen gerichtlichen Vergleich für die Saubere Luft und die Verkehrswende in Bonn

Vor dem Oberverwaltungsgerichts NRW erzielter Vergleich enthält umfassendes Maßnahmenpaket für die Nachrüstung schmutziger Diesel-Fahrzeuge, Verringerung der Zahl  von Pkws auf der Reuterstraße und sowie massiver Ausbau und Vergünstigung des ÖPNV mit Verbesserungen beimsowie Fahrradverkehr – Einhaltung des Grenzwerts für Stickstoffdioxid wird damit für das Jahr 2020 sichergestellt – Deutsche Umwelthilfe erhält zur Kontrolle der Einhaltung monatliche Messdaten – Stadt und Land müssen Verkehrsmengen weiter reduzieren, wenn die Grenzwerteinhaltung beim Dieselabgasgift NO2 nicht wie vom Landesumweltamt berechnet eintritt – Besonders stark belastete Reuterstraße erhält Tempo 30 und Pförtnerampel zur Reduzierung der Verkehrsmenge – DUH, Stadt und Land vereinbaren, sich gemeinsam für Bundesmittel zur Verwirklichung eines „365-Euro-Tickets“ einzusetzen

Berlin, 23.1.2020: Im Verfahren der Deutschen Umwelthilfe (DUH) gegen das Land Nordrhein-Westfalen für die Saubere Luft in Bonn haben die DUH, das beklagte Land und die Bundesstadt Bonn unter Vermittlung des 8. Senats des Oberverwaltungsgerichts NRW in Anwesenheit der Umweltministerin Ursula Heinen-Essen des Landes NRW, des Oberbürgermeisters von Bonn, Ashok-Alexander Sridharan, und des Bundesgeschäftsführers der DUH, Jürgen Resch, einen gerichtlichen Vergleich geschlossen. Mit dem ausgehandelten Maßnahmenkatalog verpflichten sich das Land NRW und die Stadt Bonn, den Grenzwert für das Dieselabgasgift Stickstoffdioxid (NO2) von 40 µg/m3 im Jahresmittel noch in diesem Jahr einzuhalten. Mit der Veröffentlichung der Vereinbarung am 23. Januar 2020 ist der Vergleich rechtsgültig beschlossen. Die internationale Umweltrechtsorganisation ClientEarth unterstützt diese Klage für Saubere Luft der DUH.

Dazu Jürgen Resch, Bundesgeschäftsführer der DUH: „Heute ist ein guter Tag für die Saubere Luft in Bonn. Wenn Stadt und Land die nun rechtsverbindlich vereinbarten Maßnahmen zur Verkehrswende in Bonn konsequent durchsetzen, wird nach zehn Jahren Überschreitung des Grenzwerts für das gesundheitsschädliche Dieselabgasgift NO2 endlich die Saubere Luft in der Bundesstadt Bonn Wirklichkeit. Um sicherzustellen, dass die Maßnahmen auch kommen und gegebenenfalls so lange verschärft beziehungsweise um weitere verkehrslenkenden Entscheidungen ergänzt werden, müssen uns Stadt und Land die Entwicklung der Belastungswerte kontinuierlich berichten und die Verkehrsregelung bei Bedarf nachschärfen. Wir haben zudem unsere Erwartung einer Zustimmung zum Fahrradentscheid durch die Stadt Bonn in den Vergleich aufgenommen. Schließlich haben wir vereinbart, dass sich DUH, Stadt Bonn und Land NRW gemeinsam für Bundesmittel zur schnellen Einführung eines generellen 365-Euro-Tickets einsetzen.“

Die NRW-Landesregierung muss demnach den Luftreinhalteplan für die Stadt Bonn um ein umfassendes Maßnahmenpaket ergänzen. Hierzu gehören nicht nur die Nachrüstung der gesamten ÖPNV-Busflotte auf die Abgasnorm Euro 6/ VI, die Beschaffung von Elektrobussen, sondern auch die Hardware-Nachrüstung von allen geeigneten Kommunalfahrzeugen und der Ausbau von Radschnellrouten.

Der Vergleich beinhaltet außerdem ein Maßnahmenpaket zur deutlichen Verringerung der Abgasemissionen auf der Reuterstraße. Hierzu soll die dort verkehrende Verkehrsmenge deutlich verringert werden. Erreicht werden soll dies durch eine Geschwindigkeitsreduzierung auf Tempo 30, eine umweltsensitive Ampelsteuerung mit kontinuierlicher Prüfung und möglicher Nachsteuerung des Verkehrszuflusses sowie die Einrichtung einer Vorzugsstrecke nach Bad Godesberg.

Da der Grenzwert in Bonn im Jahr 2019 nur noch an der Reuterstraße und dort auch nur noch um 1 µg/m3 überschritten war, können diese Maßnahmen genügen, wenn sie konsequent durchgesetzt werden. Um eine wirkliche Verkehrswende wie in Zürich, Amsterdam, Wien oder Kopenhagen zu erreichen, sind allerdings weitere Maßnahmen dringend notwendig.

Zum erzielten Ergebnis erklärt Remo Klinger, der die DUH in dem Verfahren vertritt: „Ähnlich wie in Essen und Dortmund ist für Bonn ein Vergleich gelungen, der endlich rechtmäßige Zustände schafft. Die mehrstufigen Maßnahmen und die kontinuierliche Kontrolle an verschiedenen Messpunkten macht für alle Seiten transparent, wie zu handeln ist.“

Wesentlicher Bestandteil der Vergleichsvereinbarung ist zudem eine fortlaufende Wirkungskontrolle der festgesetzten Maßnahmen. An drei Messpunkten (Bornheimer Straße, Reuterstraße und Auerberg) werden die Messwerte erhoben. Sollte die DUH Hinweise bzw. Erkenntnisse haben, dass an anderer Stelle die Grenzwerte überschritten werden, ist das Land verpflichtet, diesen von der DUH gemeldeten Verdachtsfall nachzugehen und gegebenenfalls weitere Messungen zu veranlassen. Führen all diese Maßnahmen nicht zur einer Grenzwerteinhaltung im Jahresmittel 2020, sieht die Vereinbarung eine „Auffanglösung“ vor. Dann wird die Anschlussstelle Endenich in Richtung Poppelsdorf auf der Reuterstraße gesperrt. Zudem muss dann die Geschwindigkeitsbegrenzung auf Tempo 30 auf der Reuterstraße verlängert werden. Davon ist jedoch nicht auszugehen, da der Grenzwert in Bonn schon im Jahr 2019 nur noch sehr gering überschritten war. Sollte selbst mit den vereinbarten Auffangmaßnahmen immer nochdennoch eine Überschreitung bleiben, vereinbarten die Parteien ein Schiedsverfahren, in dem kurzfristig wirksame harte Maßnahmen wie ein Dieselfahrverbot zusätzlich beschlossen werden. Ein derartiger Schiedsspruch ist nicht mehr anfechtbar.

Alle Maßnahmen, auch die Auffanglösung, werden in einen neuen Luftreinhalteplan der Stadt Bonn aufgenommen und erhalten somit Rechtsgültigkeit. Der Luftreinhalteplan muss neben dem Maßnahmenpaket auch entsprechende Prognosen enthalten. Damit ist eine unverzügliche Umsetzung der Maßnahmen garantiert.

Alle drei Parteien des Vergleichs, das Land NRW, die Stadt Bonn und die DUH, fordern zudem in der Präambel des richterlichen Vergleichs die Autokonzerne zu einer beschleunigten Hardware-Nachrüstung der schmutzigen Diesel-Bestandsfahrzeuge auf. Zudem hat sich das Land verpflichtet, zu prüfen, welche Dieselfahrzeuge im Landesbesitz kurzfristig nachgerüstet werden. Hierzu wurden für das 1. Quartal 2020 Gespräche zwischen der DUH und der Landesregierung vereinbart.

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„Deutschland verliert einen wichtigen Verbündeten“ Kommentar von Prof. Gabriel Felbermayr, Präsident des IfW Kiel

„Die Wahlen geben Boris Johnson ein eindeutiges Mandat, „sein“
Austrittsabkommen durch das Unterhaus zu bringen. Damit wird am 31.1.2020
die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens beendet sein. Die Option, das Land
könnte doch noch in der EU verbleiben, ist endgültig vom Tisch. Das ist
ein trauriger Moment für Europa und Deutschland. Die EU wird dadurch
wesentlich transformiert. Deutschland verliert einen wichtigen Verbündeten
für Freihandel und den Binnenmarkt.

Das Austrittsabkommen regelt den Austritt, nicht aber die zukünftigen
Beziehungen der EU mit dem Königreich. Am 31.1.2020 beginnt die nächste
Frist zu laufen. Bis Ende 2020 soll nun ein umfassendes Abkommen
verhandelt werden. Dieses müsste sehr viel weiter gehen, als die
ambitioniertesten Freihandelsabkommen, die die EU je verhandelt hat, z.B.
mit Kanada. Schon diese Gespräche haben viele Jahre gedauert, und das
Abkommen mit Kanada ist immer noch nicht vollständig in Kraft.

Weil das Abkommen mit dem Königreich auch Themen umfassen wird, die nicht
allein in die Zuständigkeit Brüssels fallen, werden alle EU-Staaten
zustimmen müssen, inklusive mancher Regionalparlamente. Und weil der
Brexit sicher weiter in Großbritannien polarisieren wird, bleibt auch dort
der Prozess sehr schwierig. Es wird wohl wieder zu Fristverlängerungen
kommen und zu Hängepartien.

Die Unsicherheit ist gestern Abend weniger geworden, aber in einem
unerfreulichen Sinn: Ein Exit vom Brexit ist nicht mehr möglich. Ob es zu
einem weichen oder harten oder smarten Deal mit der EU kommt, ist aber
weiter maximal unsicher.“

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Ursula von der Leyen hielt „Rede des Jahres 2019“

„Europa einen und stärken“: Seminar für Rhetorik würdigt eindrucksvolles
und glaubwürdiges Bekenntnis zu Europa

Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen verleiht die
Auszeichnung „Rede des Jahres“ 2019 an Ursula von der Leyen. Sie erhält
die Auszeichnung für ihre Wahlrede vor dem Europäischen Parlament am 16.
Juli 2019. Die Rede sei ein eindrucksvolles und glaubwürdiges Bekenntnis
zu Europa, ein Beweis für die Integrationskraft der Idee „Europa“ und ein
engagiertes Plädoyer für eine europäische Wertegemeinschaft, so die Jury
in ihrer Begründung.

Ursula von der Leyen hatte nicht die besten Ausgangsbedingungen für ihre
Bewerbung zur EU-Kommissionspräsidentin. Bis zur Abstimmung war offen, wie
sich das Europäische Parlament entscheiden würde. In dieser krisenhaften
Situation gelingt es von der Leyen jedoch in vorbildlicher Weise,
Überzeugungsarbeit zu leisten, für ihr Programm zu argumentieren und für
Europa zu werben.

In ihrer halbstündigen Rede kämpft sie für eine Erneuerung Europas und
bezieht deutlich Position zu aktuellen Herausforderungen wie Klimawandel,
Digitalisierung und Brexit. Pointiert deutet sie die Einigung Europas als
ein „gewaltiges Werk“ und beschwört das Parlament, Europa zu einen und zu
stärken. Unter Beifall erklärt sie den Klimaschutz zu einer zentralen
Herausforderung und wirbt überzeugend für einen „Green Deal“. In der
sorgsam durchkomponierten Rede spannt sie einen weiten Bogen von
Sachthemen, um schließlich einen emotionalen Appell für Europa zu
formulieren: „The world needs more Europe“.

Von der Leyen spricht engagiert und wohl artikuliert, sie zeigt mit einer
akzentuierten Gestik und Körperhaltung, wie wichtig ihr Europa ist. Ihre
in drei Sprachen gehaltene Rede (Französisch, Englisch, Deutsch) ist ein
Muster für die Realität der politischen Rede in der vielsprachigen
Europäischen Union und illustriert damit die kulturelle Vielfalt des
Kontinents in souveräner Weise. In Zeiten von starker Polarisierung setzt
von der Leyen auf die integrative Kraft Europas, wirbt für Einheit und
Zusammenhalt. Ihr Einsatz für Europa wird dabei plausibel aus der eigenen
Biographie abgeleitet: „Deshalb bin ich in Brüssel geboren und Europäerin
gewesen, bevor ich später gelernt habe, dass ich Deutsche bin und
Niedersächsin.“

In Straßburg etabliert sich von der Leyen als „leidenschaftliche
Kämpferin“ für Europa, die eindrucksvoll für die Idee Europa streitet,
Rechtstaatlichkeit und moralische Standards hochhält. Dabei macht es sich
die Rednerin nicht leicht, weil sie Probleme und Schwierigkeiten in ihrer
Rede eben nicht ausspart. Ein Zitat ihres Vaters weist dabei den Weg:
„Europa ist wie eine lange Ehe. Die Liebe wird nicht größer als am ersten
Tag, aber sie wird tiefer.“ Am Ende steht der emotionale Ausruf „Es lebe
Europa!“, ein Appell, der aus tiefstem Herzen zu strömen scheint. Damit
war ihr nicht nur der Applaus der Abgeordneten sicher, sondern auch die
Mehrheit der Stimmen (383 von 747).

Jury: Jutta Beck, Nico Bosler, Dr. Simon Drescher, Dr. Gregor Kalivoda,
Rebecca Kiderlen, Prof. Dr. Joachim Knape, Sebastian König, Prof. Dr. Olaf
Kramer, Michael Pelzer, Clara Rohloff, Viktorija Romascenko, Pia Rox,
Frank Schuhmacher, Prof. Dr. Dietmar Till, Dr. Thomas Zinsmaier, Peter
Weit

Text der Rede:
https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/SPEECH_19_4230

Video der Rede: https://www.youtube.com/watch?v=dR3k4fTmX5Y

Hintergrund „Rede des Jahres“
Die Auszeichnung „Rede des Jahres“ wird seit 1998 vom Seminar für
Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen vergeben und ging seitdem
unter anderem an Margot Käßmann, Marcel Reich-Ranicki und Navid Kermani.
Mit diesem Preis würdigt das Seminar für Allgemeine Rhetorik jährlich eine
Rede, die die politische, soziale oder kulturelle Diskussion entscheidend
beeinflusst hat. Neben das Kriterium der Wirkungsmächtigkeit treten bei
der Auswahl weitere Bewertungs‒maßstäbe wie argumentative Leistung und
stilistische Qualität der Rede. Ziel ist es, das gesamte rhetorische
Kalkül des Redners zu betrachten und zu bewerten.

Die Jury der „Rede des Jahres“ setzt sich aus Mitarbeitenden des Seminars
für Allgemeine Rhetorik sowie einem Vertreter der Studierendenschaft
zusammen.

Den Kriterienkatalog und ehemalige Reden des Jahres finden Sie unter:
http://www.rhetorik.uni-tuebingen.de/portfolio/rede-des-jahres/

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Soziale Probleme, gespaltene Gesellschaft

In Großbritannien stehen diese Woche Neuwahlen an. Die Briten wählen am
12. Dezember zum vierten Mal in zehn Jahren ihr Parlament. Für Prof. Dr.
Roland Sturm, der kürzlich für die Bundeszentrale für politische Bildung
(bpb) den Länderbericht Großbritannien herausgegeben hat, ist diese Wahl
anders, polarisierender. Wir haben mit dem Inhaber des Lehrstuhls für
Deutsche und Vergleichende Politikwissenschaft, Europaforschung und
Politische Ökonomie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-
Nürnberg (FAU) darüber gesprochen, was die Wahl für Großbritannien
bedeutet.

Die Briten wählen am 12. Dezember ihr Parlament. Premierminister Boris
Johnson erhofft sich dadurch eine breite Unterstützung für seine
konservative Partei und für den Brexit. Wird dieser Plan aufgehen?

Auch wenn die aktuellen Umfragen die Konservativen und Premierminister
Boris Johnson vorne sehen, sind Vorhersagen und Prognosen äußerst
schwierig. Denn anders als bei Wahlen in Deutschland, wo das
personalisierte Verhältniswahlrecht gilt, ist es in Großbritannien nicht
entscheidend, so viele Stimmen wie möglich zu bekommen, sondern so viele
Wahlkreise wie möglich, damit Sitze im Parlament und damit gegebenenfalls
eine Regierungsmehrheit zu erreichen. Gewählt wird nach einem relativen
Mehrheitswahlrecht.

Dabei zieht ausschließlich der Kandidat eines Wahlkreises in das Parlament
ein, der die meisten Stimmen erhält. Es gilt das Motto „First-past-the-
post“. Wer als erster die Ziellinie überquert, gewinnt. Der Mitbewerber
geht leer aus. Die Stimmen der Verlierer werden nicht im Parlament
repräsentiert und sind verloren. So könnte es mitunter sein, dass die
Konservative Partei von Boris Johnson zwar landesweit eine hohe
Prozentzahl an Wählerstimmen erhält, aber vergleichsweise wenige Sitze im
Parlament bekommt, wenn sie entscheidende Wahlkreise knapp verliert.

Wagen wir dennoch eine Prognose…

Wir haben die Brexit-Partei von Nigel Farage, die zwar nur in Wahlkreisen
antritt, in denen bei der letzten Wahl die Labour-Partei gewonnen hat, um
den Konservativen nicht zu schaden. Man nimmt aber letztendlich trotzdem
auch in den Labour-Wahlkreisen den Konservativen Stimmen weg, so dass
Labour dadurch leichter wiedergewinnt. Zudem ist unklar, wie sich die
Liberaldemokraten schlagen werden. Einige konservative Europa-Freunde
haben im Vorfeld angekündigt, für diese zu stimmen.

In Schottland wird sicherlich die Schottische Nationalpartei die meisten
Sitze gewinnen und Boris Johnson keine Chance haben. Weiterhin ist offen,
wie sich Wahlbündnisse gegen die Konservativen durchsetzen werden. Die
Konservativen könnten im Süden des Landes einige Wahlkreise verlieren,
aber auch im Gegenzug Wahlkreise im Norden von Labour dazugewinnen, so
dass es am Ende womöglich reichen wird für Boris Johnson und seine
Konservative Partei. Es wird in jedem Fall spannend, wie sich das Ergebnis
in Parlamentssitze umrechnen lassen wird.

Welche Wahlkampfthemen sind für die Briten jenseits des Brexits von
Bedeutung?

Eines der wichtigsten Wahlkampfthemen in Großbritannien ist seit jeher der
steuerfinanzierte National Health Service (NHS), also das staatliche
britische Gesundheitswesen. Im Raum steht aktuell der Labour-Vorwurf,
wonach Boris Johnson nach dem Brexit den Ausverkauf des NHS an US-Firmen
plane. Für die Briten ist das ein Unding, denn das kostenlose
Gesundheitswesen für alle hat in Großbritannien denselben Status wie die
Queen, ist also unantastbar. Wenig überraschend versprechen deshalb auch
alle Parteien sehr viel Geld. Boris Johnson etwa will neue Krankenhäuser
bauen lassen. Nachbesserungen sind auch dringend nötig. Denn die soziale
Lage hat sich seit der Finanzkrise 2008 durch eine rigide Sparpolitik mit
teils massiven Kürzungen deutlich verschärft. Die landesweiten sozialen
Probleme schlagen sich auch im Gesundheitswesen nieder.

Wir lesen jeden Tag Schlagzeilen, die vermitteln, nach dem Brexit gibt es
nur Verlierer. Ist das zu schwarzgemalt?

Es ist schon absurd: Da wurde etwas beschlossen, von dem klar ist, dass es
dem Land schaden wird, wenn es wirklich kommt. Alle seriösen Ökonomen
bestätigen, dass ein vollzogener Brexit Großbritannien wirtschaftlich
einen massiven Schaden zufügen wird. Die Wirtschaftsbeziehungen zu Europa
haben ein solches Ausmaß, dass selbst das Erschließen neuer Märkte in
Indien oder in den USA diese Lücke niemals schließen könnte. Und:
Landstriche wie Wales, wo die Bevölkerung in der Mehrheit für einen
Austritt gestimmt hat, leben paradoxerweise von EU-Geldern. Gewinner wird
es also kaum geben bei einem vollzogenen Brexit, auch wenn Brexit-
Befürworter das Gegenteil behaupten.

Was sagt die Brexit-Debatte über die Gesellschaft in Großbritannien aus?

In der Brexit-Debatte zeigt sich deutlich, wie gespalten die Gesellschaft
in Großbritannien inzwischen ist. Bei allen anderen Themen hat man bisher
immer einen Kompromiss gefunden. Doch in der Brexit-Frage hat der berühmte
britische „Common sense“ versagt. Die beiden Lager sind stattdessen immer
extremer geworden. Boris Johnson will den EU-Ausstieg ohne Wenn und Aber,
zur Not auch ohne ein Abkommen. Dagegen steht der Chef der britischen
Labour-Opposition, Jeremy Corby. Dieser propagiert einen Sozialismus der
70er-Jahre mit einer völlig neuen Wirtschaftsordnung inklusive
Verstaatlichungen. Diese Kompromisslosigkeit im Parlament ist ein Spiegel
der britischen Gesellschaft. Wir erleben sehr ideologisierte Verhältnisse,
die man so bisher nicht kannte in Großbritannien. Bleibt zu hoffen, dass
mit der Wahl am Donnerstag auch der „Common sense“ wiedergewinnt.

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