Extremes Hochwasser: Soziologische Perspektive auf Wetterkatastrophen
Enorme Regenmassen, Schneehöhen und reißende Fluten haben in den
vergangenen Tagen im südöstlichen Mitteleuropa für teils chaotische
Verhältnisse gesorgt. Der Umgang mit solchen Extremereignissen führt auch
zu Kontroversen über Prävention und Prognostik sowie die Folgen des
Klimawandels. Ein historisch-soziologischer Blick auf Wetterkatastrophen.
Desaströse Wetterverhältnisse treffen uns scheinbar wie aus heiterem
Himmel. Doch brisante Entwicklungen in den meteorologischen Berechnungen
deuten sich oft schon Tage zuvor an. Sich darauf vorzubereiten, ist alles
andere als trivial: Wie massiv und wie verbreitet werden mögliche Schäden
eintreten? Was kann getan werden, um das Schlimmste zu verhindern? Welche
Rettungsmaßnahmen sind möglich? Diese Fragen stellen sich aktuell im
Hinblick auf das extreme Hochwasser in Mitteleuropa.
„Es liegt auf der Hand, dass man ein derart akutes Wetterereignis nicht
mit alltäglichem Erwartungsmanagement regeln kann“, sagt Prof. Dr. Marcel
Schütz. Der Soziologe und Organisationsforscher an der Hamburger Northern
Business School widmet sich dem gesellschaftlichen Umgang mit
Katastrophen: „Das Wort Katastrophe aus dem Griechischen bedeutet so viel
wie Wendung oder Wendepunkt. In der natürlichen Umwelt erfahren wir für
unser Leben ernsthafte Wendungen als recht plötzliche, rasante, teils
brachiale Umbrüche. Bei Stürmen, Sturzfluten, Waldbränden oder Erdbeben
geraten Menschen von jetzt auf gleich in ausweglose Lagen, sind auf sich
allein gestellt oder werden aus dem Leben gerissen.“
Kommunizieren vorläufiger Wahrscheinlichkeiten
Schütz beschäftigt sich unter anderem damit, wie wir katastrophalen
Extremereignissen mit unseren Sicherheitsvorstellungen und prognostischen
Mitteln begegnen – und welche Rolle dabei auch Vagheit und Enttäuschungen
spielen. Der Forscher verweist auf die Anbahnung und Ankündigung brisanter
Wetterlagen: „Meteorologen wollen nicht voreilig Halbgares von sich geben
und keinen Alarmismus schüren. Allerdings ist Wetter heute auch
Infotainment und folgt den Spielregeln der Aufmerksamkeitsökonomie. Warnt
man nicht rechtzeitig und deutlich genug und kommt es dann zu schlimmeren
Schäden, gibt es schwere Vorwürfe.“
„Die Vorausschau auf eine katastrophale Witterung ist immer ein
Kommunizieren vorläufiger Wahrscheinlichkeiten“, gibt Schütz zu bedenken.
Die Wettermodelle der Hochleistungscomputer rechnen Szenarien mit dem
Abstand einiger Tage in verschiedenen Varianten. Oft ändert sich die
geografische Eingrenzung und die Intensität des absehbaren Extremwetters
entsprechend der vielen Parameter. „Die Details kriegt man in der
Wettervorhersage der Abendnachrichten nicht mit. Da sieht man eine
Momentaufnahme.“
Manchmal verschwinden Extremszenarien wieder aus den Modellen, ein anderes
Mal endet es tatsächlich gravierend. „Das verursacht Anspannung und
Fiebern: Kommt der Orkan, kriegen wir einen halben Meter Schnee, wird
unser Tal überschwemmt? Bei all der Hightech müssen sich die
Wetterkundigen an die Konstellation herantasten.“ Während dynamischer
Extremlagen wie Großgewittern, Sturzfluten oder massiven Luftmassengrenzen
lassen sich die Ausmaße mitunter erst „live“ abschätzen. „Und dann muss
man sich entscheiden, ob Bergwanderung, Badesee oder die lange Autofahrt
noch angemessen sind. Für den öffentlichen Schutz gilt: lieber eine
Warnung mehr als eine zu wenig“, sagt Schütz. Vorfälle wie im Ahrtal vor
drei Jahren bieten bedauerliche Gegenbeispiele.
Blick in die Geschichte
Aber erzeugt nicht erst maßgeblich der Klimawandel unsere heutige
Unsicherheit im Umgang mit dem Wetter und seinen extremen Kapriolen? Aus
Sicht des Soziologen Schütz greift man zu kurz, sieht man Extremwetter nur
als das Resultat des anthropogenen Klimawandels. Tatsächlich ist die
Häufung von Extremwetter laut der einschlägigen Forschung mit dem
Klimawandel offenkundig assoziiert. Wo, wann und wie intensiv das jedes
Mal der Fall ist, lässt sich aber nicht generell sagen.
Aufschlussreich ist der Blick in die Geschichte. In den vergangenen
Jahrhunderten gab es in Europa viele exorbitante Wetter- und
Klimaentwicklungen: Extreme Hitzesommer wie 1540 mit monatelanger Dürre
führten dazu, dass der Rhein auszutrocknen begann und Menschen Wein
tranken, weil man das knappe, teurere Wasser nicht bezahlen konnte. Ein
anderes Beispiel ist der eisige Winter 1708/1709, als unzählige Menschen
nichts mehr zu heizen hatten, sie Gliedmaßen, Ohren und Nasen verloren und
erfroren.
Schütz hat sich für eine historische Arbeit Dokumente über die
Magdalenenflut von 1342 angesehen, das vermutlich schwerste Hochwasser des
letzten Jahrtausends im Binnenland Mitteleuropas. Diese Katastrophe steht
in Verbindung mit einer Wetterlage – man spricht vom gefürchteten „Vb-
Tief“ –, die Meteorologen jener am vergangenen Wochenende für ähnlich
halten; wenngleich die damaligen Ausmaße viel drastischer waren. „Solche
Extremereignisse im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit geben uns einen
Eindruck, wie schlimm es um Leib und Leben in großer Zahl stand. Vieh und
Mensch ertranken tausendfach. Es gab keine Warn- und Rettungssysteme, wie
wir sie heute kennen. Dramatische Ernteausfälle, Hungersnöte und Pest
kamen gleich hinterher. Wetterdesaster erzeugten soziale Katastrophen.“
In manchen Regionen sind die Folgen der extremen Wassermassen von 1342 bis
heute sichtbar. Durch die Fluten entstanden tiefe Einkerbungen in
Waldböden und regional gab es gewaltige Erosionen, wodurch die
Landwirtschaft bis heute erschwert wird (siehe Abb.). Das, wie es genannt
wird, „Jahrtausendhochwasser“ ereignete sich inmitten eines natürlichen
Klimawandels, im Übergang von einer wärmeren Phase zur sogenannten Kleinen
Eiszeit.
Soziale Zurechnung von Verantwortung und Schuld
„Trotz dieser Kenntnisse können wir mit Wetterkatastrophen nicht wirklich
gut rechnen“, sagt Schütz. Die vielen Videos und Postings von den Fluten
am vergangenen Wochenende auf den Social-Media-Plattformen zeigen, wie
Menschen staunend und erschrocken danebenstehen. Dabei wird oft vergessen,
dass die Domestizierung unserer Naturräume – das Begradigen und
Beschleunigen einst ausgedehnter Flussläufe, das Versiegeln, Entwalden und
Bebauen von Flächen – die Folgen von Extremwetterereignissen noch
verstärkt. Soziale Infrastrukturen sind vulnerabel, weil sie natürlichen
geologischen und hydrologischen Gegebenheiten in die Quere kommen. „Die
vollen Kräfte der Natur werden in dem Maße erfahrbar, wie man sie zu
beschränken sucht. Wir lernen durch diese Unglücke auf die harte Tour,
dass wir Gewässer, Böden, Wiesen und Gehölze nicht hemmungslos zerstören
dürfen.“
Eine noch so hoch entwickelte Gesellschaft wird mit Naturkatastrophen
letztlich auskommen müssen. Doch durch modernes Wissen, Methodik und
Technik lässt sich die Gefährdung von Leben weiter reduzieren. Waren
Wetter- und Klimakatastrophen in mittelalterlicher Zeit noch Ausdruck
göttlichen Gerichts, sorgen sie heute eher für politischen Zündstoff.
Schütz: „Wir kennen das eigentlich nicht mehr, dass die Naturgewalt
einfach für sich steht. Durch den Klimawandel wird alles, was das Wetter
an Extremen bereithält, als Klimakrise problematisiert. Es gibt
unmittelbare Zurechnungen, wer schuld ist und zu wenig Klimaschutz
betreibt: die Politik, die Wirtschaft, die Gesellschaft mit ihrem Konsum
im Ganzen.“
Und wie hält es der Forscher persönlich mit dem Wetter? „Mich fasziniert
der Wechsel der Jahreszeiten, die stetige Überraschung, die Schönheit und
der Schrecken. Was man sich vom Wetter erhofft und was man am Ende kriegt.
Wenn auch der Klimawandel uns leider mehr und mehr den Schnee raubt, den
ich selbst sehr mag. Die Menschen vor Jahrtausenden sahen die Wolken und
spürten die Winde genau wie wir. In einer durchmodernisierten Welt ist das
Wetter die unberechenbare Konstante und bleibt ein Stück weit Geheimnis –
natürlich.“
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