Kinder, die wegen Kurzsichtigkeit eine Brille tragen, sind schon lange
kein ungewöhnlicher Anblick mehr. Als wichtige Ursache gilt vor allem die
Tatsache, dass viele Kinder heute nur noch sehr wenig Zeit im Freien
verbringen und daher nur selten dem Sonnenlicht ausgesetzt sind. Wie
können Eltern am besten gegensteuern? Über verbreitete Myopie-
Behandlungsansätze, neue Rotlicht-Anwendungen, internationale
Studienergebnisse zum Hoffnungsmittel Atropin und den Effekt von
Sonnenlicht wird Professor Dr. med. Wolf Lagrèze von der Deutschen
Ophthalmologischen Gesellschaft e.V. (DOG) auf der Hybrid-Pressekonferenz
am 10. Oktober 2024 anlässlich des Jahreskongresses berichten.
Noch hat die aus Asien bekannte Entwicklung hin zum „Regelfall
Kurzsichtigkeit“ sich in Europa nicht im selben Ausmaß wiederholt: Während
in südostasiatischen Metropolen bereits 80 bis 90 Prozent der jungen
Menschen kurzsichtig sind, liegt dieser Anteil auf unserem Kontinent
derzeit bei 30 bis 40 Prozent. „Jeder zehnte davon, also rund fünf Prozent
aller Menschen in diesem Alter, bekommt eine so genannte hohe Myopie“,
sagt Professor Dr. med. Wolf Lagrèze, Leiter der Sektion
Neuroophthalmologie, Kinderophthalmologie und Schielbehandlung der Klinik
für Augenheilkunde am Universitätsklinikum Freiburg. Darunter verstehen
Mediziner eine Kurzsichtigkeit von mehr als -6 Dioptrien. Ab diesem Wert
steigt das Risiko für langfristige Netzhautschäden an. „Als besonders
kritisch gelten Werte ab -10 Dioptrien“, erläutert Lagrèze. „Dann liegt
das Risiko für eine spätere Sehbehinderung durch Makuladegeneration oder
Netzhautablösung bei über 50 Prozent.“
Widersprüchliche Ergebnisse zum Wirkstoff Atropin
Kurzsichtigkeit ist also kein ausschließlich kosmetisches Problem. Um
schweren Folgeschäden bis hin zu einem Sehverlust im Alter
entgegenzuwirken, ist deshalb bereits eine ganze Reihe unterschiedlicher
Gegenmittel ersonnen und wissenschaftlich untersucht worden. Zu besonderer
Bekanntheit gelangte vor einigen Jahren die Behandlung mit stark
verdünnten Atropin-haltigen Augentropfen, die das Längenwachstum des
Augapfels bremsen sollten. „In Studien aus dem asiatischen Raum wurden
damit gute Ergebnisse erzielt“, berichtet Lagrèze.1 Das habe zu einer
weltweiten Anwendung der niedrig dosierten Atropin-Therapie geführt. „In
Europa und den USA blieben vergleichbare Erfolge aber leider bisher aus“,
betont der DOG-Experte.
So ergab die irische MOSAIC-Studie, bei der eine Formulierung der Firma
Nevakar verwendet wurde, dass eine zweijährige Anwendung von 0,01
prozentigen Atropintropfen das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit im
Vergleich zu Placebo nur um 0,1 Dioptrien verringerte.2 Die amerikanisch-
europäische CHAMP-Studie, die die gleiche Formulierung verwendete,
verglich Placebo mit 0,01 prozentigem und 0,02 prozentigem Atropin.
Ergebnis: Nach dreijähriger Therapie war das Fortschreiten der
Kurzsichtigkeit in der 0,01 prozentigen Gruppe um 0,25 Dioptrien geringer
als in der Placebogruppe.3 „Obwohl dieser Effekt statistisch signifikant
war, erscheint es doch übertrieben, ihn als für die Betroffenen wirklich
klinisch bedeutsam anzusehen“, erklärt Lagrèze. Mit Spannung würden nun
die Ergebnisse der deutschen AIM-Studie erwartet, die die Wirkung von 0,02
prozentigen Atropintropfen in der Formulierung eines deutschen
Vertragsherstellers untersucht.
Längerfristige Studien abwarten – und vorsichtig interpretieren
Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse wird die als Myopie-Boom4
bezeichnete Entwicklung jetzt differenzierter betrachtet. „Wir
berücksichtigen regionale und ethnisch bedingte Unterschiede stärker“,
betont der Freiburger Mediziner. Aufgrund der ernüchternden Atropin-
Erfahrungen werden auch neuartige Myopie-Behandlungsansätze heute
vorsichtiger bewertet und hinsichtlich Sicherheit und Reproduzierbarkeit
kritischer hinterfragt. „Das gilt für die neuartige Rotlicht-Therapie, bei
der die Augen mit einem roten Laserlicht bestrahlt werden, aber auch für
multifokale Optiken wie Multisegmentbrillengläser und spezielle
Kontaktlinsen“, so Lagrèze. Diese seien zwar bereits weit verbreitet,
müssten aber noch in längerfristigen Studien untersucht werden. „Vorsicht
bei der Interpretation möglicher Effekte ist auch deshalb angebracht, weil
der Einfluss neuer Alltagstrends wie die zunehmende Smartphone-Nutzung auf
die Augenentwicklung bislang noch nicht sicher abgeschätzt werden kann“,
fügt der DOG-Experte hinzu.
Weil die Kurzsichtigkeit eine so große Bevölkerungsgruppe betrifft, kann
ihre Behandlung die Gesundheitssysteme erheblich belasten. „Um so
erfreulicher ist es, dass wir mit dem Sonnenlicht über ein wirksames und
sogar kostenloses präventives Mittel verfügen“, so Lagrèze. In
umfangreichen – ebenfalls asiatischen – Studien ist bereits gut belegt,
dass das Risiko für Kurzsichtigkeit mit zunehmender Sonnenlicht-Exposition
abnimmt. Eine jüngst publizierte Studie gibt sogar Hinweise darauf, wie
die optimale Dosierung aussehen sollte: Demnach muss ein Aufenthalt im
Freien mindestens 15 Minuten am Stück dauern, damit das Sonnenlicht seine
vorbeugende Wirkung entfalten kann.5 In der Studie zeigte sich außerdem,
dass für einen messbaren Effekt bereits 2000 Lux Tageslicht ausreichen.
„Das ist eine Lichtstärke, die sogar an einem bedeckten Wintertag noch
erreicht wird“, freut sich Lagrèze.
Quellen:
1) Chia A et al. Atropine for the treatment of childhood myopia: safety
and efficacy of 0.5%, 0.1%, and 0.01% doses (Atropine for the Treatment of
Myopia 2). Ophthalmology 2012 Feb;119(2):347-54. doi:
10.1016/j.ophtha.2011.07.031. Epub 2011 Oct 2.
2) Loughman J et al. Acta Ophthalmol 2024; 102: 245.
3) Zadnik K et al. JAMA Ophthalmol 2023; 141: 99.
4) Dolgin E. The myopia boom. Nature 2015 Mar 19;519(7543):276-8. doi:
10.1038/519276a.
5) Chen J et al. Smartwatch Measures of Outdoor Exposure and Myopia in
Children. JAMA Network Open. 2024;7(8):e2424595.
doi:10.1001/jamanetworkopen.2024.24595