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Depression & Migration: Online-Programm für Geflüchtete aus der Ukraine

Kostenfreies Selbsthilfe-Programm bietet Fachpersonal Möglichkeit,
ukrainische Geflüchtete mit Depression zu unterstützen – 14 weitere
Sprachen inkl. Arabisch verfügbar

Leipzig, 26.09.2022 – Für Migrantinnen und Migranten mit Depression steht
das Online-Programm iFightDepression nun in einer ukrainischen
Sprachversion zur Verfügung. Das an die kognitive Verhaltenstherapie
angelehnte Online-Programm hilft Betroffenen, ihre Erkrankung besser zu
verstehen und zeigt Übungen für den Alltag.

Sprachbarrieren und Versorgungsengpässe für ukrainische Geflüchtete

Die ukrainische Version richtet sich an Geflüchtete in Deutschland und
soll helfen, Sprachbarrieren und Versorgungsengpässe zu überbrücken. Mehr
als 967.000 Menschen sind laut Bundesinnenministerium aus dem Krieg in der
Ukraine nach Deutschland geflüchtet. „Psychisch erkrankte Flüchtlinge
mussten die Behandlung in ihrer Heimat unterbrechen und haben es besonders
schwer, in einem neuen Land Hilfe zu finden. Es fehlen Psychotherapeuten
und Ärzte, die sie in ihrer Muttersprache behandeln können. Mit der
ukrainischen Version des iFightDepression-Programms wollen wir die
Versorgungssituation verbessern und insbesondere Patienten helfen, die
sonst gar keine Unterstützung bekommen würden“, erklärt Prof. Ulrich
Hegerl, Vorsitzender Stiftung Deutsche Depressionshilfe und
Suizidprävention/ Inhaber der Senckenberg-Professur an der Universität
Frankfurt/M. Die ukrainische Version des iFightDepression-Programms
enthält den zusätzlichen Workshop „Die innere Stärke finden“, der die
Resilienz von Menschen stärken soll, die in schwierigen Lebensumständen
und Krisen leben.

Begleitung durch ärztliches und psychotherapeutisches Fachpersonal sowie
Mitarbeitende in Flüchtlingshilfe

Studien belegen die Wirksamkeit von Online-Programmen vor allem dann, wenn
sie von Fachpersonal begleitet werden. Dann sind Online-Angebote ebenso
wirksam wie eine reguläre Psychotherapie. Vor diesem Hintergrund ist
iFightDepression nur für Patienten zugänglich, die dabei professionell
begleitet werden. Als Begleiter des iFightDepression-Programms können sich
Ärzte/Ärztinnen und Psychotherapeuten/Psychotherapeutinnen aber auch
Fachpersonal aus der Flüchtlingshilfe qualifizieren. Nachdem sie ein CME-
zertifiziertes 70-minütiges Online-Training durchlaufen haben, können sie
Patienten und Patientinnen zur Nutzung einladen. iFightDepression ist
sowohl für Fachpersonal als auch für Nutzerinnen und Nutzer kostenfrei.

Kostenfrei in 14 weiteren Sprachen verfügbar

Die Wirksamkeit von iFightDepression wurde in einer randomisierten
kontrollierten Studie (Oehler et al., 2020) nachgewiesen. iFightDepression
ist neben Ukrainisch auch in einer kultursensitiven arabischen Version und
in 13 weiteren Sprachen kostenfrei verfügbar. Mehr Informationen unter:
https://tool.ifightdepression.com
iFightDepression ist ein Projekt der European Alliance Against Depression
(EAAD). Die Verbreitung in Deutschland erfolgt über die Stiftung Deutsche
Depressionshilfe und Suizidprävention.

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Angriffskrieg auf die Ukraine rückt Strahlenschutz stärker ins Bewusstsein

BMUV und BfS stellen zweite Studie zur Wahrnehmung von Strahlung in der
Bevölkerung vor

Knapp die Hälfte der Menschen in Deutschland vertraut darauf, dass der
Staat sie im Falle eines Unfalls in einem Atomkraftwerk schützen wird.
Aufklärungsbedarf besteht dahingehend, wie sich die Bevölkerung bei einem
möglichen AKW-Unfall verhalten soll. Das ist ein Ergebnis der Studie „Was
denkt Deutschland über Strahlung?“, die das Bundesministerium für Umwelt,
Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) und das
Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) gemeinsam in Berlin vorgestellt haben.

Die Ereignisse in der Ukraine zeigen, wie schnell das Risiko einer
atomaren Bedrohung steigen kann. „Es ist unsere Pflicht, die Bevölkerung
bestmöglich über Risiken und Schutzmaßnahmen zu informieren und
Aufklärungsarbeit zu leisten“, sagt Christian Kühn, Parlamentarischer
Staatssekretär im BMUV. „Wo Wissen fehlt, müssen wir die Lücken
schließen.“

Bei der Umfrage im Auftrag des BfS sagten 63 Prozent der Bürger*innen,
eine mögliche radioaktive Belastung durch Atomkraftwerke nach einem Unfall
beunruhige sie sehr. BfS-Präsidentin Inge Paulini betont: „Uns haben in
den ersten Wochen des Krieges viele Fragen erreicht. Oft wollten Menschen
wissen, welche Schutzmaßnahmen in Deutschland bei einem Zwischenfall in
der Ukraine ergriffen werden müssten.“ Die Studie ergab, dass nur zwei von
zehn der Befragten wissen, wie sie sich bei einem möglichen Unfall in
einem Atomkraftwerk verhalten sollten.

Paulini: Klarer Auftrag an Bund, Länder und Kommunen
In der Studie, die zum zweiten Mal nach 2019 stattfand, nennen die meisten
der Befragten als wichtigste Informationsquelle im Falle eines nuklearen
Notfalls das Internet, gefolgt von Fernsehen und Radio. An die
öffentlichen Stellen in der Kommune, im Land oder auch an das BfS würden
sich nur jeweils 13 Prozent der Befragten wenden.

Paulini sieht als Resultat der Studie Handlungsbedarf auf mehreren Ebenen.
„Das ist ein klarer Auftrag an Bund, Länder und Kommunen, die eigenen
Informationsangebote weiter zu verbessern.“ Außerdem fordert sie mehr
Verzahnung des Katastrophenschutzes mit den Planungen für den
radiologischen Notfall: „Vieles davon ist im Strahlenschutzgesetz von 2017
schon angelegt worden. Wenn nun der Bevölkerungs- und Katastrophenschutz
insbesondere infolge der Erfahrungen aus der Flutkatastrophe im
vergangenen Jahr und der Corona-Pandemie neu aufgestellt wird, muss auch
der radiologische Notfall mitgedacht werden.“

Neben Atomkraft sind Mobilfunk- und UV-Strahlung besonders präsent
Zu den Strahlungsthemen, die in der Bevölkerung besonders präsent sind,
zählen neben der Atomkraft und deren möglichen Auswirkungen die
Mobilfunkstrahlung sowie die UV-Strahlung. Ein Großteil der Menschen (62
Prozent) kommt im Alltag nach eigenen Angaben am intensivsten über
Mobilfunk mit dem Thema Strahlung in Berührung. Besorgnis ruft die
Strahlung durch Mobilfunkgeräte und Mobilfunkmasten bei der Mehrheit eher
nicht hervor. Obwohl unterhalb der Grenzwerte keine Gesundheitsschäden zu
befürchten sind, äußern sich sieben beziehungsweise neun Prozent darüber
sehr beunruhigt.

Beim Thema Sonne und UV-Strahlung kennen viele die Risiken: 78 Prozent der
Befragten haben sich zum Thema Sonnenschutz informiert. Wissen und
Verhalten fallen jedoch oft auseinander: Nur 46 Prozent der Menschen
cremen sich zum Beispiel in der Sommersonne immer ein. Frauen schützen
sich deutlich häufiger als Männer. Über den jeweils aktuellen UV-Index,
der bei der Risikoeinschätzung hilft, informiert sich die Mehrheit der
Leute nie - und das, obwohl die Hautkrebszahlen steigen. „Individueller
Sonnenschutz und mehr Maßnahmen zum Schaffen von Schatten durch Bund,
Länder und Kommunen sollten Hand in Hand gehen“, sagt Kühn.

Das Risiko durch Radon wird massiv unterschätzt
Radon wird im Vergleich zu allen anderen abgefragten Strahlungsrisiken am
wenigsten als Gesundheitsrisiko eingeschätzt. Elf Prozent der Befragten
wissen gar nicht, ob das radioaktive Gas überhaupt eine Gefahr darstellt.
Dabei ist Radon nach dem Rauchen eine der wichtigsten Ursachen von
Lungenkrebs. „Beim Edelgas Radon laufen Risiko und Risikoeinschätzung
diametral auseinander“, fasst Parlamentarischer Staatssekretär Kühn
zusammen. „Hier müssen wir verstärkt handeln und noch mehr Aufklärung
leisten!“

Großes Vertrauen und unterschiedliche Risikowahrnehmung im Strahlenschutz
Insgesamt zeigt die Befragung, dass das Gefühl, in Sachen Strahlung vom
Staat geschützt zu werden, gestiegen ist. Besonders ausgeprägt ist das in
der Medizin: 82 Prozent der Befragten fühlen sich hier gut bis sehr gut
geschützt – dieser Anteil war auch in der Vorgängerstudie von 2019 mit 70
Prozent schon sehr hoch. Auch das Gefühl der Informiertheit über Strahlung
im Allgemeinen ist im Vergleich zu 2019 etwas gestiegen. Allerdings liegt
es weiter auf einem niedrigen Niveau.

Paulini: „Die Studie zeigt, dass es in der Bevölkerung erhebliche
Unterschiede bei der Wahrnehmung der einzelnen Strahlungsarten sowie ihres
Risikopotenzials gibt. So passen u.a. bei Mobilfunk und UV-Strahlung die
Risikowahrnehmung und das tatsächliche Risiko nicht zueinander. Dies
begreifen wir als Auftrag an uns, dazu weiter intensiv zu informieren und
aufzuklären und auch den Dialog mit den Bürger*innen zu suchen.“

Bund, Länder und Kommunen bieten Informationsangebote
Informationen zum Strahlenschutz allgemein sowie zum radiologischen
Notfall sind auf den  Internetseiten des BMUV (www.bmuv.de) und des BfS
(www.bfs.de/notfallschutz) zu finden. Weitere Informationen zum
Strahlenschutz-Notfall für die Bevölkerung halten Länder und Kommunen
bereit.

Die repräsentative Studie „Was denkt Deutschland über Strahlung?“ ist von
der Gesellschaft für Innovative Marktforschung (GIM) im Auftrag des BfS
durchgeführt worden und besteht aus zwei Teilen. Im Zeitraum von April bis
Mai 2022 wurden rund 2000 Personen ab 16 Jahren zu ihrer Einstellung
hinsichtlich Strahlung beziehungsweise ihrem Wissen hierzu befragt.
Bereits im November 2021 sowie im Januar 2022 fand der qualitative
Studienteil mit Einzelinterviews und Gruppendiskussionen statt. Die Studie
ist nach 2019 die zweite dieser Art. Ziel der Untersuchungsreihe ist, die
Wahrnehmungen, Kenntnisse und Informationsbedürfnisse der Bevölkerung in
Deutschland zu erfassen und daraus Handlungsempfehlungen abzuleiten.

Link zum Livestream:    PK am 22.09.22, 10.00 – 11.00 Uhr
Veranstaltungshof des Bundesumweltministeriums
Link zur Studie:                www.bfs.de/strahlenbewusstsein22
Kurzfassung:            Ausgewählte Ergebnisse und Grafiken

Vorgängerstudie:         www.bfs.de/strahlenbewusstsein19

Bundesamt für Strahlenschutz
Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) arbeitet für den Schutz des
Menschen und der Umwelt vor Schäden durch Strahlung. Das BfS informiert
die Bevölkerung und berät die Bundesregierung in allen Fragen des
Strahlenschutzes. Die über 550 Beschäftigten bewerten Strahlenrisiken,
überwachen die Umweltradioaktivität, unterstützen aktiv im radiologischen
Notfallschutz und nehmen hoheitliche Aufgaben wahr, darunter im
medizinischen und beruflichen Strahlenschutz. Ultraviolette Strahlung und
strahlenrelevante Aspekte der Digitalisierung und Energiewende sind
weitere Arbeitsfelder. Als wissenschaftlich-technische Bundesoberbehörde
betreibt das BfS Forschung und ist mit nationalen und internationalen
Fachleuten vernetzt. Weitere Informationen unter www.bfs.de.

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EU an historischem Wendepunkt?

Euroskeptiker zweifelten schon mit dem Brexit, der „Flüchtlingswelle“ und
der Pandemie daran, dass die EU ihr Versprechen eines friedlichen Europas
einlösen könne. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt die
EU nun erneut auf die Probe und wirft Fragen nach ihrer gegenwärtigen
Verfassung und Zukunft auf. Bei der Veranstaltung "Europa im Widerstand –
Widerstand gegen Europa" am 26. September 2022 im Futurium in Berlin
diskutieren Expertinnen und Experten ihre aktuellen Forschungsergebnisse
zur Bedeutung von Skepsis und Widerstand in der Geschichte der
europäischen Integration.

Aus historischer Sicht kann die Geschichte der EU kaum als eine Geschichte
stetiger Erweiterung und Vertiefung erzählt werden. Die europäische
Einigung hat ihre Richtung seit den Römischen Verträgen von 1957
wiederholt geändert und wurde von Anfang an von kritischen Stimmen
begleitet. Nur vor diesem Hintergrund der historischen Konfliktgeschichte
des europäischen Zusammenwachsens kann die Frage nach dem gegenwärtigen
Zustand der EU gewinnbringend diskutiert werden.

Bei der Veranstaltung „Europa im Widerstand – Widerstand gegen Europa“
werden erste Ergebnisse des Forschungsprojekts „(De-)Constructing Europe“
im Dialog mit dem Publikum diskutiert. Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler der Institute der Max Weber Stiftung in London, Rom und
Warschau und des Hamburger Instituts für Sozialforschung erläutern ihre
Forschungen und stehen für Gespräche zur Verfügung. Diskutiert werden u.
a. die Fragen: Wie haben Krisen das Zusammenwachsen Europas in der
Vergangenheit beeinflusst? Wie werden Hierarchien zwischen europäischen
Regionen durch die europäische Integration reproduziert oder ausgeglichen?
Und was kann man aus der Skepsis gegenüber der europäischen Einigung für
die zukünftige Förderung von Zusammenhalt in Europa lernen?

Weitere Informationen: europeresist.hypotheses.org/1125

Eine Anmeldung ist bis zum 23. September möglich
(veranstaltungen@maxweberstiftung.de).

Die Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im
Ausland (MWS) fördert die Forschung mit Schwerpunkten auf den Gebieten der
Geschichts-, Kultur-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in
ausgewählten Ländern und damit das gegenseitige Verständnis. Sie unterhält
zurzeit weltweit elf Institute sowie weitere Forschungsgruppen und Büros.
Durch eine unmittelbare Nähe zu den Forschungsgegenständen und im
Austausch unterschiedlicher Perspektiven und Herangehensweisen bietet die
MWS beste Voraussetzungen für exzellente grenzüberschreitende geistes- und
sozialwissenschaftliche Forschung.

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Der Tod von Queen Elisabeth II. als soziales Weltereignis – Interview mit Prof. Dr. Marcel Schütz

Der Tod von Queen Elisabeth II. hat enorme Resonanz nach sich gezogen. Wie
wird so etwas überhaupt zum Weltereignis und wie erklärt sich die große
Popularität der Königin in einer Zeit, die kaum mehr ihre gewesen ist? —
Ein Gespräch mit dem Sozialforscher Prof. Dr. Marcel Schütz, der sich an
der NBS Northern Business School u. a. mit der gesellschaftlichen
Bedeutung von Organisations- und Führungsstrukturen befasst.

Herr Professor Schütz, können Sie sich erinnern, wo Sie waren, als der Tod
der Königin bekannt wurde?

Ja, ich kam von unserer Dozentenkonferenz. Auf der Zugfahrt gab es
Meldungen, es stehe um sie schlecht. Und kaum war ich die Tür
reingekommen, hieß es, sie sei tot. Das fand ich auf eigentümliche Weise
unglaublich, surreal sagten manche, und ich denke, ich werde das immer
genau erinnern – wie vermutlich viele andere. So wie zwei vergleichbare
Momente. Natürlich der 11. September. Und ebenso, vor 25 Jahren, morgens
im Kinderfernsehen, die Eilmeldung vom Unfalltod der Lady Diana in der
Nacht.

---

Die Beerdigung von Lady Diana war ein bis dahin unerreichtes
Medienereignis.

Ja, das war in der medialen Verfertigung und im ganzen Drama drumherum die
größte Trauerveranstaltung um eine einzelne Person. Ein Weltmoment, ein
Untergang der Titanic. Jeder hat noch Elton John vor Augen, diesen Song,
die Kirche, den Trauermarsch der Familie. Dazu die Unfallbilder im Pariser
Tunnel. Schon bemerkenswert, wie sich diese Geschichte eingebrannt hat. So
ein „junger“ Tod, und nun so ein „alter“, was ein Kontrast bei im Grunde
ähnlichen Wirkungen.

---

Selbst mit dem Tod der Queen hat man offenbar nicht gerechnet?

Weil man fast vergisst, dass auch eine Jahrhundertfigur mal stirbt. Je
älter sie wurde, desto beliebter wurde sie. Und halb im Scherz dachte man
ja ein bisschen, sie würde uns alle überleben. Dass das unglaublich
erscheint, hat mit einem Reiz, einer Ausstrahlung zu tun, was ein
Redakteur die Tage treffend in Worte brachte: Omnipräsent und doch im
Hintergrund. Das war die Queen. Und das weicht ab von dem, was man mit
Stars und Promis, den lauten, reichen, protzig-schrillen Leuten,
üblicherweise verbindet.

---

Die Bezeichnung „Jahrhundertfigur“, so nannte sie der Bundeskanzler, passt
also?

Passt perfekt. Aber da gibt es einen Gag. Es ist nicht mehr unser
Jahrhundert. Die Queen war eher ein Relikt des 20. Jahrhunderts. Alle
großen Frauen und Männer der Politik, mit denen sie zu tun hatte, sind
längst tot. Vielleicht darf man es atmosphärisch sagen: So einer Figur
gesteht man zu, noch was länger „zu bleiben“ und Respekt zu zollen.
Kontinuitätssinn eben. Auch wenn die Welt sich weitergedreht hat. Außerdem
war sie die ewige Großmutter. Da hat man quasi generelles Bleiberecht.

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Man kennt die Bilder mit ihren Hüten und dem strahlenden Gesicht bis zum
Schluss. Geht es bei der Queen um Personenkult, der in so oberflächliche
Dinge reicht?

Es geht sehr um Optik. Das gehört zum Stil der Monarchie. Das Auge
„herrscht“ mit. Die große Faszination für die Königin lag in der Aura
einer – wenn das zu sagen hier gestattet ist – Bilderbuchoma. Ihr Habitus
wurde ikonisch. Das Lächeln, das schneeweiße Haar, der altersschwere Gang
in den letzten Jahrzehnten. Kaum wer mag wissen, wer dieser Mensch
wirklich war. Aber sie war eines sicher: eine absolute Marke.

---

In die Richtung kann man einige Stimmen hören, die einem die Tage
begegnen.

Ich habe oft ältere Menschen über die Königsfamilie reden hören. Wie sich
das bei älteren Menschen gehört. Klatsch und Tratsch vom Hofe. Und
irgendwie, in gewissem Sinne, sind ältere elegantere Leute aus dem
einfachen Volk ein wenig wie diese Elisabeth – und sie wie sie. Zumindest
kann man das vermuten. Und dahingehend eine Identifikation pflegen.
Präsident Biden sagte, sie habe ihn an seine Mutter erinnert. Und mich
erinnert sie seit frühester Kindheit an meine vor vielen Jahren
verstorbene Uroma. Das zeigt schon, in der Frau sieht man offenbar schnell
etwas sehr Persönliches.

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Dazu ihr Ruf, öffentlich immer die Fassung zu wahren, was nicht allen in
ihrer Familie gelang. Es gibt die berühmte Szene mit Donald Trump im
Garten. Er versteht das Protokoll nicht und sie navigiert ihn neben sich
her.

Vielleicht war nichts so schrullig wie ihre vornehm-altmodische Art, diese
Handtäschchen zu tragen. Und, wenn wer nicht spurte und wenn es wem an
monarchischer Protokollfähigkeit mangelte, beherrscht mit Arm und Tasche
rumzufuchteln. Ganz die alte Zeit – Form und Disziplin!

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Kommen wir auf die Resonanz, die aus all dem folgt. Wir sprachen von einer
Jahrhundert- oder Weltfigur. So eine Weltfigur braucht eine Weltbühne…

Posthum übersteigt die Weltbühne dieser Frau alles, was man in 70 Jahren
ihr zu Ehren veranstaltet hat. Mal abgesehen von der Krönung. Könige waren
bzw. sind groß, wenn sie installiert werden und vielleicht noch größer,
wenn sie sterben. Der Mythos wird jetzt nicht geboren, er wird vollendet,
bekommt die letzte Würze. Das ist der sichere Platz im Geschichtsbuch des
Jahrtausends – eine halbe Ewigkeit. Mehr Weltbühne geht nicht.

---

Welche Rolle spielen da die Medien?

Medien lieben diese Momente. Es sind ihre Sternstunden. Sie verleihen dem
Ereignis nämlich buchstäblich Flügel. Sie machen daraus das epochale
Ereignis. Es gibt die Beisetzung. Aber alles, was da geschieht, ist
durchgeplant und wird erst über Kameras und Kommentare durch die Welt
gehen. Eigentlich müsste man sagen: auf die Welt kommen. Dass es live und
an einem festen Ort geschieht, ist sehr wichtig. Man ist, wie es anderswo
heißt, mittendrin statt nur dabei.

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Der Tod der Queen fällt in eine Zeit, die man permanent mit „Krise“
überschreibt. Die 20er Jahre dieses Jahrhunderts scheinen ihren Ruf schon
weg zu haben. Hat das einen Einfluss darauf, wie so ein Ableben
wahrgenommen wird?

Ich denke auf jeden Fall. Zufällig prägt das Wort „Zeitenwende“ unser
Jahr. Erst Seuche, dann Krieg und jetzt stirbt noch die Queen – so denkt
manch einer spontan. Diese Trauer bekäme sie auch ohne Pandemie und Krieg,
die damit auf den ersten Blick gar nichts zu tun haben. Aber auf den
zweiten Blick – das klingt vielleicht makaber – ist der Tod fast schon
wieder eine Abwechslung, etwas Normales aus alten Zeiten, überhaupt was,
das nichts mit Politik und Gaspreisen und Beschränkungen zu tun hat.
Historiker können sowas an anderen Beispielen gut nachzeichnen, wie
bestimmte Ereignisse der Vergangenheit sich mit anderen überlagerten,
zwischen ihnen gewissermaßen hereinbrachen, und das dann Einfluss hatte
auf das öffentliche Bewusstsein.

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Es gibt Berichte, dass wildfremde Leute in tiefe Trauer fielen und sich
weinend anriefen. Ist das nicht übertrieben?

Das fragt man sich. Und es gab sogar Artikel, in denen Gründe genannt
wurden, warum Trauer unangebracht sei. Die Verstrickung der Monarchie in
den Kolonialismus. Inhumane Unterdrückung, Gräuel. Das lässt sich nicht
wegreden, aber man kann Mitleid und Ergriffenheit schwer rational steuern,
das Vergangene vor langer Zeit nicht einfach „objektiv“ über die starken
Eindrücke jetzt legen. Wenn jemand heute um die Königin weint, nimmt er
sich das nicht vor. Es passiert. Die Emotionen der Menschen sind
unergründlich.

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Und um was weint man da? Vielleicht doch um den Verlust einer Verbindung
in die Vergangenheit, die symbolisch was hermachte?

Auf jeden Fall. Das sind Empfindungen, die man nicht ausdiskutieren kann.
Markant ist sicher, dass so intime, fast schon familiäre Trauergefühle
durch so ein dem eigenen Leben fernes Ereignis ausgelöst werden. Aber so
funktioniert die Identifikation mit großen Persönlichkeiten. Mitunter
gerade weil man sie nur geglättet dargestellt kennt, darin ein Vorbild
sah. Und davon muss man nun Abschied nehmen. Schade. Und es könnte ja die
eigene Familie sein, die eigene Großmutter. Ein derart langes Leben, und
dann ist auf einen Schlag alles vorbei. Das stimmt nachdenklich. So
schnell geht das also.

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Monarchien stehen in der Kritik. Ist das nicht eine aus der Zeit gefallene
Institution, die eigentlich nur noch zu solchen Zeremonien gebraucht wird?

Ich glaube, hier gibt es keine einfache Antwort. Institutionen leben ein
Stück weit vom Zauber, immer aus der Zeit gefallen zu sein,
selbstverständlich zu gelten, auch wenn man gute Gründe kennt, sie
anzuzweifeln oder abzuschaffen. Ähnlich ist es mit der Kirche. Die mit der
Monarchie viel Austausch an Formen und Prunk hatte. Moderne Monarchien,
wie wir sie in Großbritannien, Skandinavien oder Spanien kennen, sind
heute ein repräsentatives Mittelding aus Staat im Staat und
Familienbetrieb. Natürlich ein sehr besonderer. „Soft Power“ sozusagen.
Ihre Mitglieder haben sich in der breiteren Gesellschaft niedergelassen.
Sie sind ein Stück verbürgerlicht.

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Und pflegen dort mit klangvollen Namen ihre Netzwerke?

Sicher. Das wird wiederum von anderen Institutionen, Politik und
Wirtschaft auch geschätzt, da geschichtsträchtige Traditionen für
Seriosität stehen und die Familien ein kulturelles Kapital einbringen. Ob
das sein muss, ist eine normative Frage. In Deutschland hat man dazu nicht
viel zu sagen. Andere Länder, andere Sitten. Unsere Monarchie ist in den
Wirren von 1918 Knall auf Fall untergegangen. Allerdings haben wir ein
Staatsoberhaupt, das als „Ersatzmonarch“ geschaffen wurde. Vorläufer war
letztlich der Kaiser. Man vergisst, dass alle entmonarchisierten Staaten
sich ein gewisses altes Zeremoniell erhalten. Selbst die USA, deren
Präsident die ehemals britische Krone ersetzte. Jedes noch so
fortschrittliche Land will seinen Stolz kontinuieren, auch waschechte
Demokraten sind für ein wenig Glamour und Pathos empfänglich. Gehört dazu.

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Wird die Monarchie denn jetzt eher geschwächt oder gestärkt?

Ich bin kein Adelsexperte, aber wenn nicht alles täuscht, könnte der neue
König schlechtere Presse haben. Die Anteilnahme der Briten ist stark.
Sicher nicht überall auf der Insel. Schon gar nicht im ganzen
Commonwealth. Aber ich würde nicht darauf setzen, dass im Mutterland
irgendwer Wichtiges absehbar die Monarchie beseitigen will. Neuer König,
neuer Stil, frischer Wind. Da kriegt man erstmal Kredit. Und die nächste
Generation steht bereit. Bei uns mag man sich fragen, ob die Briten
momentan keine anderen Sorgen haben. Aber dort ist das eben ein Thema
nationaler Identität.

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Werden Sie sich die Beisetzung anschauen?

Ich denke, um Ausschnitte wird man kaum herumkommen. Man ist doch
neugierig auf die Bilder, die Choreografie, die Inszenierung. Und da sind
wir bei dem Punkt von vorhin: Man stellt sich nicht groß die Frage, wie
man das alles finden soll. Bei einem Weltereignis muss man im Zweifel
einfach hinsehen. Die majestätische Szenerie ist nicht der Ort und
Zeitpunkt für langes Nachdenken, sondern des kurzen Rauschs.

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Prof. Dr. Marcel Schütz bekleidet die Stiftungsprofessur Organisation und
Management an der NBS Northern Business School:
https://www.nbs.de/forschung/professorinnen-und-professoren
/forschungsprofessur-orgman

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