KlinSA-Handbuch: Wenn das soziale Umfeld krank macht


Während die Medizin in erster Linie körperliche Faktoren untersucht und
die Psychologie sich eher auf das innerpsychische Geschehen konzentriert,
hat Klinische Sozialarbeit den Fokus auf einem weiteren Aspekt, der die
Gesundheit stark beeinflusst: soziale Bedingungen und Erfahrungen. Den
aktuellen Forschungsstand im deutschsprachigen Raum führt das „Handbuch
Klinische Sozialarbeit“ zusammen. Zu den Herausgebenden gehört Prof. Dr.
Christine Kröger von der Fakultät Soziale Arbeit der Hochschule Coburg.
Jetzt spricht die Coburger Wissenschaftlerin über ihr Fachgebiet, über das
neue Buch und über Menschen, die selten gehört werden.
Die Fakultät Soziale Arbeit der Hochschule Coburg spielt eine führende
Rolle bei der Entwicklung und Etablierung der Klinischen Sozialarbeit als
Fachdisziplin im deutschsprachigen Raum. Prof. Dr. Christine Kröger leitet
hier den Weiterbildungsmaster „Soziale Arbeit: Klinische Sozialarbeit“,
den die Hochschule Coburg gemeinsam mit der Alice Salomon Hochschule
Berlin anbietet.
„Klinische Sozialarbeit“ klingt erst mal nach Krankenhaus, eben nach
Klinik: Aber worum geht es genau?
Prof. Dr. Christine Kröger: Klinische Sozialarbeit versteht sich als
gesundheitsbezogene Sozialarbeit, die eigenständig beratende und
behandelnde Aufgaben wahrnimmt. Daher kommt der Begriff. Das findet nicht
nur in Kliniken statt, sondern beispielsweise auch in Beratungsstellen
oder in der aufsuchenden Arbeit. Es geht um die Unterstützung von komplex
belasteten Menschen, oft mit gravierenden Erkrankungen, die gleichzeitig
in prekären Verhältnissen leben. Sie werden kaum oder gar nicht von der
Gesundheitsversorgung und psychosozialen Angeboten erreicht. Sie ringen um
ein würdevolles Leben und gesellschaftliche Teilhabe.
Was sind das für Menschen, die durchs Raster der Gesundheitsversorgung
fallen?
Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Kinder und Jugendliche, die
massiv Gewalt erleben müssen, beispielsweise in ihren Herkunftsfamilien.
Wohnungslose Menschen. Menschen mit schweren psychiatrischen oder
körperlichen Erkrankungen. Auch Angehörige, die, gerade wenn sie
unterstützen und helfen, selbst oft enorm belastet sind.
Dann braucht es zusätzlich zu medizinischer und psychologischer Hilfe auch
soziale Unterstützung?
Genau, denn soziale Bedingungen können die Gesundheit gefährden und krank
machen. Gleichzeitig helfen gelingende soziale Beziehungen, Belastungen zu
bewältigen. Während die Medizin in erster Linie auf Körperliches blickt
und die Psychologie eher auf das innerpsychische Geschehen, legt die
Klinische Sozialarbeit ihren Schwerpunkt auf soziale und psychosoziale
Aspekte, das heißt auf soziale Verhältnisse, auf das soziale Umfeld und
auf zwischenmenschliche Beziehungen.
Und wie funktioniert das?
Gemeinsam mit Betroffenen werden wesentliche soziale Faktoren und
Beziehungserfahrungen ermittelt. Welche sozialen Beziehungen wirken
unterstützend oder bereichernd? Wo liegen besondere Belastungen? Oft
vermag das bereits erste Veränderungen anzustoßen. Diagnostik und
Intervention gehen häufig ineinander über. Das kennen wir auch aus der
Medizin und Psychotherapie, wo es entlastend ist, zunächst unklare
Beschwerden zu klären: Was ist überhaupt los? Dann kann man intervenieren.
Ausgangspunkt in der Klinischen Sozialarbeit ist eine feinfühlige
Beziehungsgestaltung und Milieuarbeit. Das breite Spektrum
sozialklinischer Interventionskonzepte und Methoden wird auch im „Handbuch
Klinische Sozialarbeit“ dargestellt.
Da gibt es also verschiedene theoretische, konzeptionelle, ethische und
methodische Ansätze – und dieses Handbuch bringt die Grundlagen der
Klinischen Sozialarbeit im deutschsprachigen Raum nun erstmals zusammen?
Ja, wir sind in der Sektion Klinische Sozialarbeit der Deutschen
Gesellschaft für Sozialarbeit (DGSA) zu dem Schluss gekommen, dass es Zeit
ist für so einen großen, aktuellen Überblick. Kolleginnen und Kollegen in
der Forschung, aber auch in der Praxis können sich damit einen Eindruck
vom State of the Art verschaffen. Studierenden der Sozialen Arbeit bietet
das Buch die Möglichkeit, sich differenziert über Perspektiven Klinischer
Sozialarbeit zu informieren. Typische Arbeitsfelder liegen in der Kinder-
und Jugendhilfe, Gesundheitsversorgung, Rehabilitation und Teilhabe,
Suchthilfe, Familienberatung und justiznahen Sozialarbeit.
Hat sich in den letzten Jahren viel verändert?
Die Corona-Pandemie, Krieg in Europa, massive Flucht- und
Migrationsbewegungen: Durch ganz unterschiedliche Einflüsse haben sich
soziale Bedingungen entwickelt, die Menschen erschüttern und verunsichern
können und die auch dazu führen, dass soziale Ungleichheit in unserer
Gesellschaft zunimmt. Mit niederschwelligen Angeboten versucht Klinische
Sozialarbeit diejenigen zu erreichen, die am Rande der Gesellschaft
stehen, die, die selten gehört werden.
Welche Themen haben Sie für das Buch selbst bearbeitet?
Es sind gut ein halbes Dutzend Beiträge aus einem relativ breiten
Spektrum: angefangen beim Gesundheits- und Krankheitsverständnis, über die
Frage: Was wirkt denn eigentlich bei therapeutischen Interventionen? Zwei
weitere für mich besonders bedeutsame Themen sind dieAngehörigen-Arbeit
und die Unterstützung von Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen. In
der Gruppe der Herausgebenden haben wir insgesamt etwa 40 Beiträge von 50
Autorinnen und Autoren koordiniert.
Zum Buch:
Sektion Klinische Sozialarbeit (Hrsg.): Silke Birgitta Gahleitner | Julia
Gebrande | Karsten Giertz | Christine Kröger | Dieter Röh | Eva Wunderer:
Handbuch Klinische Sozialarbeit. 434 Seiten, Weinheim: Juventa, 2024, 30
Euro.
Interview: Natalie Schalk