Die Grenze zwischen Druck und Missbrauch: Wie können Kinder und Jugendliche im Sport geschützt werden?
Die Grenze zwischen Druck im Training und einem Missbrauch von Kindern und
Jugendlichen im Nachwuchs-Leistungssport ist fließend. Aber nicht nur
dort. Auch im normalen Vereins-Freizeitsport wird bisweilen psychischer
und physischer Druck auf die Jüngsten aufgebaut.
Zusammenfalten vor
versammelter Mannschaft, Gruppenzwang, ein Drängen zu gemeinsamen Sauna-
Gängen oder Massagen, Medikamentengaben. In seltenen Fällen sogar bis hin
zum sexuellen Missbrauch als Spitze des Eisberges. Dies alles sind durch
die Medien bekannt gewordene Beispiele, die es zu verhindern gilt. Wie
kann man die jungen Sportler davor schützen?
Mediziner und Sportwissenschaftler der GOTS fordern ein Vereins-System der
kompletten Transparenz und den systematischen Aufbau von kontrollierbaren
Regelwerken für einen sicheren Sport. Darüber hinaus bearbeitet die GOTS
das Thema in entsprechenden Fortbildungen auf Kongressen, in Workshops,
Webinaren und Publikationen, um die Sportärzteschaft dafür zu
sensibilisieren und Kompetenz für Reaktionen zu schaffen.
Die GOTS steht für einen humanistischen Sport ein. Im Zielkonflikt
zwischen hohen Leistungsanforderungen und der gesunden Kindesentwicklung
ist eine Sensibilisierung aller Betreuer, der Eltern und der Athleten für
neue Maßstäbe nötig.
Über 70 Prozent der jungen Freizeitsportler und 84 Prozent der Nachwuchs-
Leistungssportler unter 18 Jahren haben laut Befragungen im Rahmen von
Studien schon einmal unangemessenes Verhalten ihrer Trainer oder sogar
Gewalt (physisch, psychisch, oder auch sexualisiert) im Sport erlebt.
Noch muss beispielsweise in etlichen Sportarten gehungert werden, um das
Gewicht zu halten. Gruppenzwang sorgt dafür, dass Abführmittel oder
Appetitzügler von vielen im Sportinternat oder im Verein genommen werden.
Leicht bekleidet und öffentlich erfolgt dann der Gang zum Wiegen. Über die
Trainingsmethode wiederum wird zusätzlich physischer Druck aufgebaut, wenn
etwa der Fuß des Trainers im Rücken der jungen Mädchen beim Spagat noch
einmal „nachdrückt“. Dazu kommt die nicht seltene Einnahme von
Schmerzmitteln zum Erreichen höherer Trainingseinheiten.
Solche Praktiken müssen ein Ende haben, fordern die Ärzte und
Sportwissenschaftler der GOTS. Dr. Gregor Berrsche, Vorstandsmitglied der
GOTS: „Das Abhängigkeitsverhältnis eines jungen Sportlers von Trainern,
Betreuern, Ärzten lässt den Schutzbefohlenen wenig Möglichkeiten der
Autonomie.“ Oft wollen Kinder auch mit Erfolgen im Sport ihre Trainer und
Eltern glücklich machen. Dafür nehmen sie viel in Kauf, geben ihren
eigenen Bedürfnissen keinen Raum. „Im Nachwuchsleistungssport ist der
jugendliche Körper einer Doppelbelastung ausgesetzt aus Wachstum
einerseits und sportart-spezifischer Belastung andererseits. Es ist die
immanente Aufgabe der Kindersportorthopädie, die Gesunderhaltung in dieser
Phase zu gewährleisten und dabei den jungen Sportlern auch in etwaigen
Zielkonflikten zwischen ihren Interessen und denen des Umfeldes
beizustehen.“ In eigenen wissenschaftlichen Erhebungen im
Nachwuchsleistungssport durch die Play-Study konnten Dr. Berrsche und sein
Team belegen, das gerade in diesen Phasen der Schmerzmittel-Konsum im
Nachwuchsbereich analog dem des Erwachsenen im Leistungssport erfolgt.
Gravierende Defizite in der Ausbildung für medizinische Fachkräfte
Neuen Studien zufolge fühlen sich viele Sportmediziner bei der Bewältigung
dieser Probleme überfordert. Rund 26 % der befragten Ärzte wissen nicht,
wo Fälle von Missbrauch und Belästigung zu melden sind, und 58 % kennen
den zuständigen Verantwortlichen in ihrem Sportverband nicht. Diese
Unkenntnis ist besorgniserregend, da sie auf ein mangelndes
institutionelles Bewusstsein für die verfügbaren Schutzvorkehrungen
hinweist. Darüber hinaus geben 58 % der Ärzte an, keine adäquate
Ausbildung zur Erkennung und Behandlung von Missbrauchs- und
Belästigungsfällen erhalten zu haben.
„Wir brauchen klar definierte Protokolle mit rechtlichen und ethischen
Rahmenbedingungen zur Aufhebung der Schweigepflicht bei Verdacht auf
Missbrauch“, so Prof. Romain Seil, Vorstandmitglied der GOTS. In diesem
Fall könnten Ärzte ohne Angst vor rechtlichen oder beruflichen
Konsequenzen handeln. Ein weiteres Hindernis besteht in der mangelnden
Klarheit über die Abläufe. Viele Ärzte wissen nicht, wie sie einen
Verdachtsfall handhaben sollen und befürchten die Situation falsch
einzuschätzen. Die institutionelle Intransparenz fördert eine „Praxis des
Schweigens“, die das Wohlbefinden und die Sicherheit der Athleten
gefährdet.
Eine gewisse Distanz und Würde im Umgang mit den jungen Sportlern ist eine
der Forderungen, die die GOTS in einem Expertenmeeting zum Kindersport
erarbeitet hat.
PD Dr. Lisa Bode, med. Leiterin des Freiburger Nachwuchsleistungszentrums
und Mitglied der GOTS, hat zusammengetragen, wie das Safeguarding von
Kindern und Jugendlichen organsiert werden kann. Sie sagt: „Wir müssen
eine Kultur des Hinsehens schaffen.“ Dies sei keine Frage des Geldes in
den Vereinen. Kinder und ihre Eltern sollten darüber informiert und
zusätzlich regelmäßig geschult werden, was ein Trainer darf und was nicht.
Seit März 2024 erkennt die Europäische Union den Titel des Sportmediziners
offiziell als eigenständige Fachrichtung an. Diese Anerkennung stellt
einen wichtigen Schritt in der Professionalisierung der Sportmedizin dar
und ebnet den Weg für eine bessere Definition der Verantwortlichkeiten und
spezifischen Kompetenzen in diesem Bereich. Prof. Martin Engelhardt,
Schriftführer der GOTS: „Dazu gehört auch die Fähigkeit, Missbrauchsfälle
zu erkennen und in Übereinstimmung mit internationalen Protokollen zu
handeln, wobei sensibel mit dem Thema umgegangen und unterschiedliche
kulturelle Kontexte berücksichtigt werden müssen“.
Damit dies konkrete Auswirkungen hat, erfolgen seit einiger Zeit
praktische Maßnahmen. Dies umfasst den Aufbau eines Netzwerks
zertifizierter Sportmediziner auf europäischer Ebene, die Behandlung
unangemessenen Verhaltens bis hin zu Gewalttaten in den Lehrinhalten und
die systematische Integration von Maßnahmen zur Kompetenzentwicklung in
der Prävention in die Ausbildungsprogramme. Dazu kommt die Entwicklung
klarer Richtlinien zur Meldung von Missbrauchsfällen. So werden immer mehr
Ärzte und Sportmediziner in die Lage versetzt, kompetent auf diesem Feld
zu agieren und zu reagieren.
Ebenso fordert die GOTS internationale Gesetzgebungen und spezifische
Verhaltenskodizes für die Sportmedizin und ist bereit, an deren
Entwicklung mitzuarbeiten. Solche Gesetze und verbindlichen Regelwerke,
sind unerlässlich, um die Sicherheit und das Wohlbefinden der jungen
Athleten zu gewährleisten. Hier ist auch die Politik gefragt.