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Sprachwandel durch Genetik verstehen

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Wenn Populationen aufeinandertreffen, tauschen sie oft Gene aus. Aber es
treffen auch ihre Sprachen aufeinander, und solche Begegnungen können
Sprachen verändern. Wie stark tun sie dies tatsächlich, und unterscheiden
sich diese Veränderungen je nach Art des Kontakts? Um diese Fragen zu
beantworten, hat eine internationale Studie unter Leitung der Universität
Zürich globale Muster des genetischen Austauschs mit linguistischen Daten
verknüpft.

Die Ergebnisse zeigen, dass Kontakt zwischen Populationen die
Ähnlichkeiten zwischen ihren Sprachen weltweit in ähnlichem Mass erhöht,
wobei sich die Auswirkungen je nach sprachlichem Merkmal unterscheiden.

Im Verlauf der Menschheitsgeschichte gab es viele Fälle, in denen zwei
Bevölkerungsgruppen miteinander in Kontakt kamen – insbesondere in den
letzten Jahrtausenden aufgrund gross angelegter Migrationen infolge von
Eroberungen, Kolonialisierung und in jüngerer Zeit auch durch die
Globalisierung. Bei diesen Begegnungen tauschen Populationen nicht nur
genetisches Material, sondern auch kulturelle Elemente aus.

Wenn Populationen miteinander interagieren, können sie Technologien,
Glaubenselemente, Praktiken und insbesondere auch sprachliche Merkmahle
voneinander übernehmen. Im Fall von Sprache können ganze Wörter aber auch
Laute oder grammatikalische Strukturen von einer Sprache in die andere
übertragen werden. So hat beispielsweise das Deutsche im 19. Jahrhundert
das Wort «Zigarette» aus dem Französischen entlehnt, während das
Französische aus dem Deutschen den Begriff «social-démocratie» übernommen
hat.

Solche sprachlichen Kontakteffekte zu untersuchen kann jedoch aufgrund
begrenzter historischer Aufzeichnungen über menschliche Kontakte
herausfordernd sein, insbesondere auf globaler Ebene. Daher ist unser
Wissen darüber, wie sich Sprachen im Laufe der Zeit durch solche
Interaktionen entwickelt haben, lückenhaft. Um diese Lücke zu schliessen
hat sich ein internationales Forschungsteam unter Leitung der Universität
Zürich der Genetik zugewandt, aus der sich die Bevölkerungsgeschichte
rekonstruieren lässt. Ihre neue Studie nutzt erstmals genetische Evidenz
für historischen Kontakt zwischen Populationen, um die Auswirkungen von
Kontakt auf Sprachen zu untersuchen. Durch die Verknüpfung dieser
genetischen Muster mit strukturellen Merkmalen von Hunderten von Sprachen
entdeckte das Forschungsteam systematische Muster sprachlicher Konvergenz.

Genetik zur Lösung linguistischer Fragen einsetzen

„Durch die Verwendung genetischer Daten als Hinweis für vergangenen
Kontakt zwischen Populationen konnten wir das Problem fehlender
historischer Aufzeichnungen umgehen und über 125 vergleichbare Fälle von
Kontakt auf der ganzen Welt nachweisen“, sagt Anna Graff, Hauptautorin der
Studie und Linguistin an der Universität Zürich. „Dies eröffnet neue Wege,
um zu verstehen, wie sich Sprachen durch menschliche Interaktion
entwickeln.“

Das multidisziplinäre Team kombinierte genetische Daten von über 4700
Personen aus 558 Populationen mit zwei grossen linguistischen Datenbanken,
die grammatikalische, phonologische und lexikalische Merkmale in Tausenden
von Sprachen katalogisieren. Sie fanden heraus, dass genetischer Kontakt
die Wahrscheinlichkeit, dass nicht verwandte Sprachen strukturelle
Merkmale gemeinsam haben, um etwa 4-9 % erhöht.

„Was uns am meisten überrascht hat, ist, wie konsistent die Muster sind.
Unabhängig davon, wo auf der Welt Populationen in Kontakt kommen, ihre
Sprachen werden sich in bemerkenswert vergleichbarem Mass ähnlicher“, sagt
Chiara Barbieri, Co-Leitautorin und Populationsgenetikerin an der
Universität Cagliari. "Der genetische Kontakt kann Populationen von
verschiedenen Kontinenten betreffen, zum Beispiel in kolonialen
Situationen der jüngeren Vergangenheit, oder Populationen desselben
Kontinents, zum Beispiel während weit zurückliegender neolithischer
Migrationen. Unsere Ergebnisse zeigen, dass Sprachen in ähnlicher Weise
von Kontakt betroffen sind, unabhängig von dessen geografischem und
sozialem Ausmass. Sprachkontakt folgt also konsistenten Mustern."

Ein genauerer Blick auf Sprachdynamik und Gesellschaft

Allerdings werden nicht alle sprachlichen Merkmale gleich häufig entlehnt.
Während einige Elemente wie die Wortstellung oder Konsonantenlaute
leichter zu übertragen sind als andere grammatikalische oder vokalische
Merkmale, konnte keine einheitliche Hierarchie der Entlehnbarkeit über
verschiedene Kontaktarten hinweg festgestellt werden. „Dies stellt
langjährige Annahmen darüber in Frage, was ein sprachliches Merkmal mehr
oder weniger entlehnbar macht“, erklärt Balthasar Bickel, Co-Leitautor und
Direktor des NFS Evolving Language. „Es deutet darauf hin, dass die
soziale Dynamik des Kontakts, wie Machtungleichgewichte, Prestige und
Gruppenidentität, allfällige Prinzipien aufheben kann, wenn Leute eine
neue Sprache lernen und von ihr Strukturen entlehnen.“

In einigen Fällen fand das Team sogar das Gegenteil von Entlehnung:
Merkmale werden nach dem Kontakt weniger ähnlich. Dieses Phänomen tritt
auf, wenn Gruppen sprachliche Unterschiede betonen, um ihre eigene
Identität zu behaupten. „Während Kontakt in der Regel Sprachen ähnlicher
werden lässt, kann er manchmal auch dazu führen, dass sie sich
diversifizieren», sagt Graff. «Unsere Ergebnisse legen nahe, dass sowohl
Konvergenz als auch Divergenz Teil der globalen Geschichte der
Sprachevolution sind.“

Die Ergebnisse werfen ein neues Licht darauf, wie wir die Geschichte der
Sprachen der Welt verstehen – und darauf, was in der Zukunft liegen
könnte. Kontakt zwischen Populationen wird seit langem mit dem Verlust von
Sprachen in Verbindung gebracht; diese Studie zeigt, dass er auch zur
Erosion struktureller Vielfalt beiträgt. In unserer Welt, die zunehmend
mit den Folgen der Klimakrise und der Globalisierung und damit mit der
Ausdehnung der Landnutzung und massiven demografischen Verschiebungen
konfrontiert ist, könnten sich diese Prozesse noch verstärken und die
sprachlichen Zeugnisse der Menschheitsgeschichte fragmentieren.

Referenz
Anna Graff, Damián E. Blasi, Erik J. Ringen, Vladimir Bajić, Daphné
Bavelier, Kentaro K. Shimizu, Brigitte Pakendorf, Chiara Barbieri,
Balthasar Bickel. 2025. Patterns of genetic admixture reveal similar rates
of borrowing across diverse scenarios of language contact. Science
Advances.

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