Wenn Fürsorge an Grenzen stößt: EvH-Forscherinnen diskutieren Rassismus und Diskriminierung im Pflegealltag

Es ist ein leiser Moment auf der Station. Die Pflegekraft steht am Bett
einer Patientin, reicht ihr Wasser, prüft den Verband – eine Routine-
Situation, eine kleine Geste der Zuwendung. Doch plötzlich: Ein
abschätziger Blick, ein spitzer Kommentar: „Sprechen Sie überhaupt richtig
Deutsch?“ Es sind Sätze wie dieser, die zeigen, dass Pflege zwar Fürsorge
meint, aber nicht frei von gesellschaftlichen Machtverhältnissen ist.
Pflege soll für alle da sein – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder
Sprache.
„Doch in der Realität erleben viele Pflegekräfte, aber auch Patient_innen,
rassistische Vorurteile und Ausgrenzung“, erklärt Psychologin Prof. Dr.
Çinur Ghaderi von der Evangelischen Hochschule Bochum (EvH Bochum). „Der
Anspruch auf Gleichheit trifft dabei oft auf eine Praxis, in der
Diskriminierung leider immer wieder stattfindet – und dabei noch viel zu
selten benannt und besprochen wird."
Damit das Thema nicht länger ein Tabu bleibt, haben sich jetzt vier
Wissenschaftlerinnen der EvH Bochum zusammengeschlossen, um strukturelle
Herausforderungen, mangelnde Sensibilität und fehlende Repräsentation
anzugehen. Die Expertinnen für Pflegewissenschaft, Soziale Arbeit,
transkulturelle Psychologie und Rassismusforschung bringen dabei ihre
unterschiedlichen Perspektiven ein und greifen auch auf internationale
Erfahrungen zurück: „Im Pflegealltag beobachten wir schon seit vielen
Jahren ein sehr angespanntes Verhältnis, das durch komplexe Faktoren
bestimmt wird: Wir haben einerseits Patientengruppen mit unterschiedlichen
kulturellen Erfahrungen, andererseits viele Menschen aus dem Ausland, die
bedingt durch den Fachkräftemangel als Pflegerinnen und Pfleger angeworben
werden. Die Arbeitsbelastung ist extrem hoch“, erklärt
Pflegewissenschaftlerin Prof. Dr. Karin Tiesmeyer. Hinzu käme außerdem
eine momentan politisch aufgeladene Situation.
Rassismus hat viele Gesichter
Diskriminierung in der Pflege ist dabei kein einseitiges Phänomen, das
sich nur entlang einfacher Stereotype abspielt. Es sind nicht immer die
offensichtlichen Täterrollen, nicht immer „die Alten gegen die Jungen“
oder „die Deutschen gegen die Zugewanderten“. Rassismus hat viele
Gesichter und genau das mache es so schwer, ihn zu benennen
und zu überwinden, so die Forscherinnen. Kaum jemand könne sich ganz
freimachen von rassistischen Gedanken über andere Kulturen, die wir zum
Teil strukturell erlernt haben. Diese möglicherweise unbewussten
Denkmuster gelte es immer wieder zu hinterfragen und dabei die eigene
Fachlichkeit zu bewahren. In den Kliniken und Pflegeeinrichtungen gibt es
bisher wenig bis gar keine Anlaufstellen oder Austauschformate für diese
Belange. „Die Vorkommnisse bleiben oft unbesprochen, das führt natürlich
zu Unsicherheiten. Viele wissen nicht, wie sie in solchen Situationen
reagieren können, schämen sich, weil sie diskriminiert werden oder weil
sie gar nicht reagiert haben“, so Karin Tiesmeyer.
Schweigen schafft Unsicherheit
Dies führte auch eine Lehrveranstaltung mit Pflegestudierenden an der EvH
zu Tage: „In den sehr offenen Gesprächen mit den Studierenden zeigte sich,
dass eigentlich alle schon einmal Diskriminierung in der Pflegearbeit
erlebt haben, persönlich oder durch Erzählungen von Kolleg_innen und
Patient_innen. In der Ausbildung diese Themen aber bisher keinen Raum
finden“, erzählt Rassismusforscherin Mary Lam, die selbst in der
Kinderkrankenpflege gearbeitet hat. „Das deckt sich mit meinen
persönlichen Erfahrungen. Ich hatte auch immer das Gefühl, dass ich mit
niemandem darüber sprechen konnte, wenn etwas vorgefallen war.“
Fakt ist: Der Pflegeberuf muss attraktiver werden, auch für Fachkräfte aus
dem Ausland. Dafür braucht es bessere Strukturen, fordert Mary Lam. „Wir
können das den Betroffenen nicht selbst überlassen. Pflegekräfte of Color
und internationale Fachkräfte erleben immer wieder, wie Hautfarbe,
Herkunft oder Sprache die Qualität der Interaktion beeinflussen – oft zum
Nachteil. Wenn wir uns nicht damit befassen, riskieren wir, dass sich
viele umorientieren und Potential verloren geht.“
„Close the gap“ als internationales Vorbild
Auch internationale Erkenntnisse bringen die Forscherinnen in ihre
Betrachtung mit ein: „In Australien können wir sehen, was mit
Bevölkerungsgruppen passiert, die aufgrund ihrer Herkunft nicht den
gleichen Zugang zum Gesundheitssystem haben wie andere“, erklärt Prof. Dr.
Kerstin Walther, die selbst zehn Jahre in Sydney gelebt und geforscht hat.
„So hatten etwa die indigenen Aborigines im Schnitt eine 25 Jahre
niedrigere Lebenserwartung, weil sie lange Zeit praktisch ausgegrenzt
wurden von der Gesundheitsversorgung. Das war für eine
Wohlstandsgesellschaft, die sich selbst als multikulturell versteht, ein
immenser Schock.“ Diese Entwicklungen liegen in der Vergangenheit.
Inzwischen hat die australische Regierung reagiert und versucht mit
gezielten Gegenmaßnahmen unter dem Titel „Close the gap!“ die
Versorgungslücken zu schließen. „Für uns sind wiederum die Erfahrungen und
Daten wertvoll, aus denen wir ableiten können, welche Folgen Ausgrenzung
und mangelnde, diversitätsgerechte Versorgung haben können“, so Kerstin
Walther.
Tipps für den Pflegealltag?
„Haltung – Handlung – Schutz“ sind die Schlüsselbegriffe, die dabei helfen
können, kompetent mit unangenehmen Situationen umzugehen. Dahinter
verbirgt sich:
1) Selbst eine respektvolle, empathische, selbstreflektierte,
antirassistische Haltung entwickeln und anderen vorleben.
2) Wenn etwas vorgefallen ist: Situation unterbrechen, nachfragen („Was
meinst Du denn damit?“), ggf. Hintergrundinformationen und Hilfe einholen,
sich mit anderen austauschen und die Situation abschließend aufklären.
3) Schutz für die Zukunft durch Deeskalationstrainings, Fortbildungen und
Maßnahmen, die den Zusammenhalt im Team stärken, eine sensibilisierte
Leitungsebene und Sicherheit für „Whistleblower“
Die vier Forscherinnen sind sich einig: Um langfristig Verbesserungen
anstoßen zu können, müssen die Probleme auf den Tisch und offen besprochen
werden. Dafür brauche es strukturelle Förderungen und auch mehr Platz im
Lehrplan, sowohl in der Ausbildung als auch im Studium, meint Çinur
Ghaderi. „Als Hochschule haben wir den Anspruch, Wissen zu vermitteln,
aber auch ein Bewusstsein für transkulturelle Herausforderungen zu
schaffen. Dabei zieht die polarisierte, politische Atmosphäre auch an
unseren Studierenden nicht spurlos vorbei – da ist es besser, sie
wahrzunehmen, anzusprechen und sichere Räume ohne Angst zu schaffen.“
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Wie weit sind wir wirklich in der Lage, Diversität nicht nur zu fordern,
sondern zu leben und passende Inhalte in der Pflegeausbildung und im
-studium zu verankern? Das Gespräch mit Çinur Ghaderi, Karin Tiesmeyer,
Kerstin Walther und Mary Lam gibt einen eindrücklichen Einblick in
unterschiedliche Perspektiven und in aktuelle Diskriminierungserfahrungen
– und lädt dazu ein, eigene Denkmuster zu hinterfragen. Denn Pflege
bedeutet Nähe. Und Nähe verlangt Haltung.
Interesse geweckt?
Vom 25.-27.09.2025 findet in Düsseldorf der DTPPP-Kongress (Dachverband
der transkulturellen Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im
deutschsprachigen Raum e. V.) statt. Titel: „Ohne Schuld und Scham?
Auswirkungen politischer Sprache auf psychische Gesundheit und
gesellschaftlichen Zusammenhalt“. In diesem Rahmen bieten die EvH-
Wissenschaftlerinnen einen Workshop zum Thema „Pflege im transkulturellen
Kontext – Zwischen Diversitätsanspruch und Diskriminierungsrealität“ an.
Weitere Information und Anmeldung:
https://www.dtppp.de/kongresse