SVR: Augenmaß für Folgewirkungen ist umso wichtiger, je grundlegender geplante Gesetzesänderungen sind
Die Beratungen im Bundestag am vergangenen Mittwoch zur Migrationspolitik
haben eine Mehrheit für Vorschläge ergeben, die mit dem geltenden Recht
nicht vereinbar sind.
Dieses Recht mag im Einzelnen verbesserungsbedürftig
sein. Die diskutierten Änderungen stellen aber Rechtsprinzipien
grundsätzlich in Frage, die normativ gut begründet sind, und lassen
zentrale Stellschrauben wie die Behebung von Umsetzungsdefiziten außer
Acht.
Aufgrund der am Mittwoch im Bundestag beschlossenen Anträge und der heute
anstehenden Fortsetzung der Beratungen zu der geforderten deutlichen
Migrationswende sieht sich der Sachverständigenrat für Integration und
Migration (SVR) veranlasst, erneut Stellung zu nehmen. Die geforderten
strikten Maßnahmen zur Schließung aller Grenzen sowie der Zurückweisung
aller Personen ohne gültige Papiere einschließlich Schutzsuchender
verletzen europäisches Recht, das auf der Genfer Flüchtlingskonvention
gründet (vgl. Pressemitteilung vom 29. Januar 2025: https://www.svr-
migration.de/presse/svr-mahnt-
Der SVR erinnert daran, dass die geltenden rechtlichen Grundlagen des
internationalen Flüchtlingsrechts auf den Erfahrungen des Zweiten
Weltkriegs und des Holocausts basieren. Das gilt vor allem für die
Beachtung des in der Genfer Flüchtlingskonvention verankerten Prinzips der
Nichtzurückweisung (Non-Refoulement-Gebot). In Deutschland wurde aus dem
gleichen Grund ein Grundrecht auf Asyl in der Verfassung verankert (Art.
16a GG). „Die Grundpfeiler des Flüchtlingsrechts sollten nicht aufgrund
von Umsetzungsdefiziten und Einzelereignissen vorschnell verabschiedet
werden“, so der SVR-Vorsitzende Prof. Winfried Kluth, „zumal es gerade
jetzt auf europäischer Ebene große Offenheit gibt, an den
Umsetzungsdefiziten des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) zu
arbeiten“.
Besonders bei weitreichenden und präzedenzlosen Änderungen wie es die
geplanten Grenzschließungen oder Zurückweisungen sind, ist die Politik
zudem zu einer besonderen Sorgfalt bei der Folgenabschätzung verpflichtet.
Eine solche hat es bei dem am Mittwoch beratenen Fünf-Punkte-Plan bislang
nicht gegeben. Diese hätte gezeigt, dass die Vorhaben so wie angekündigt
nicht umsetzbar sein werden. „Die angekündigte Migrationswende kann damit
auch jenseits der Frage, ob sie rechtlich angefochten wird, ins Leere
laufen, das würde das ohnehin derzeit geschwächte Vertrauen in politische
Handlungsfähigkeit verringern und damit das Gegenteil dessen bewirken, was
bezweckt wird“, sagt Prof. Kluth.
Der SVR warnt davor, aus schrecklichen Einzeltaten wie in Aschaffenburg im
Eilverfahren Schlussfolgerungen abzuleiten, wie es aktuell geschieht. Dies
birgt die Gefahr, dass die Lösungen zur vermeintlichen Problembehebung mit
einer fundierten nachträglichen Problemanalyse in keinem Zusammenhang mehr
stehen. „Wo Vollzugsdefizite und Abstimmungsschwierigkeiten zwischen
verschiedenen Behörden einerseits und nicht hinreichend therapierte
psychische Erkrankungen oder Traumata andererseits ursächlich sind, ist
eine verbesserte Abstimmung der Behörden gefragt und müssen bestehende
Defizite in der psychosozialen Versorgung angegangen werden. Eine
Verschärfung des Aufenthaltsrechts ist hier nicht das richtige Mittel“, so
die stellvertretende SVR-Vorsitzende Prof. Birgit Glorius.
Der SVR erinnert vor den heutigen Beratungen im Bundestag außerdem daran,
dass eine parteipolitische Instrumentalisierung von Asylpolitik auch
unmittelbare politische Risiken birgt. Die politikwissenschaftliche
Forschung hat gezeigt, dass die Übernahme rechter Positionen sich für
Parteien der demokratischen Mitte nicht auszahlt. Sie können kaum Kapital
für sich daraus schlagen, wenn sie immer restriktivere Maßnahmen fordern.
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Über den Sachverständigenrat:
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration ist ein unabhängiges
und interdisziplinär besetztes Gremium der wissenschaftlichen
Politikberatung. Mit seinen Gutachten soll das Gremium zur Urteilsbildung
bei allen integrations- und migrationspolitisch verantwortlichen Instanzen
sowie der Öffentlichkeit beitragen. Dem SVR gehören neun
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und
Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Winfried Kluth (Vorsitzender), Prof.
Dr. Birgit Glorius (Stellvertretende Vorsitzende), Prof. Dr. Havva Engin,
Prof. Dr. Marc Helbling, Prof. Dr. Matthias Koenig, Prof. Sandra Lavenex,
Ph.D., Prof. Dr. Birgit Leyendecker, Prof. Panu Poutvaara, Ph.D., Prof.
Dr. Hannes Schammann.
Weitere Informationen unter: www.svr-migration.de
Originalpublikation:
https://www.svr-migration.de/p