EU-Mindestlohnrichtlinie gibt Referenz für Mindestlohn deutlich über 14 Euro
Neue Analyse
EU-Mindestlohnrichtlinie gibt Referenz für Mindestlohn deutlich über 14
Euro – in Deutschland droht oberflächliche Umsetzung
Bis zum 15. November 2024 muss die Europäische Mindestlohnrichtlinie in
nationales Recht der Mitgliedsstaaten umgesetzt werden. Das Ziel: EU-weit
etwas gegen Armut durch Niedriglöhne zu erreichen. Bei der Umsetzung haben
die Mitgliedsstaaten allerdings erhebliche Freiheiten, die auch dazu
genutzt werden können, sich auf kosmetische Änderungen zu beschränken.
Auch in Deutschland droht eine nur sehr oberflächliche Umsetzung, ergibt
eine neue Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts
(WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.* So hat die Bundesregierung gerade
erklärt, dass aus ihrer Sicht die bestehende Gesetzeslage ausreiche und
keine gesonderten Anpassungen nötig seien. Bleibe es dabei, stehe das
„politisch für eine verpasste Chance, um in Deutschland angemessene
Mindestlöhne durchzusetzen“, warnt Prof. Dr. Thorsten Schulten, Leiter des
WSI-Tarifarchivs. Beispielsweise liefert die Richtlinie fundierte
Richtgrößen dafür, wie hoch der gesetzliche Mindestlohn sein sollte, um
als „angemessen“ zu gelten: Nach WSI-Berechnungen wären das in Deutschland
aktuell 14,61 Euro und im kommenden Jahr 15,12 Euro (mehr unten und in der
Abbildung in der pdf-Version dieser PM; Link unten). Zur Stärkung des
Tarifsystems, die die EU ebenfalls als Ziel setzt, wären ein
wirkungsvolles Bundestariftreuegesetz nötig und zusätzlich weitere
Reformen.
Mit der im Herbst 2022 verabschiedeten Mindestlohnrichtlinie existiert
erstmals ein EU-weiter gesetzlicher Rahmen, um überall in der EU
„angemessene“ Mindestlöhne durchzusetzen. Die Mitgliedsstaaten sind
aufgefordert, die Richtlinie bis zum 15. November in nationales Recht
umzusetzen. Die Bundesregierung hat nun am 23. Oktober offiziell im
Bundesgesetzblatt bekannt gegeben, dass die Anforderungen der Richtlinie
bereits durch bestehende Gesetze wie das Mindestlohngesetz oder das
Tarifvertragsgesetz erfüllt seien und es keiner gesonderten gesetzlichen
Änderungen bedarf. Diese Entscheidung sei auch „juristisch höchst
umstritten“, so Studienautor Schulten.
„Die EU-Kommission hat richtig erkannt, dass der Schutz gegen Niedriglöhne
mehr Verbindlichkeit braucht und dass eine hohe Abdeckung durch
Tarifverträge und klare Kriterien für angemessene gesetzliche Mindestlöhne
sich ergänzende Schlüssel dafür sind“, sagt Prof. Dr. Bettina Kohlrausch,
wissenschaftliche Direktorin des WSI. „Die Ampelkoalition sollte sich auf
keinen Fall damit zufriedengeben, deutlich hinter der EU-Kommission
zurückzubleiben, sondern substanziell nachlegen.“
Stärkung der Tarifbindung
Zahlreiche empirische Studien zeigen, dass der Niedriglohnsektor eines
Landes umso kleiner ist, je höher die Reichweite von Tarifverträgen
ausfällt. Ein wesentliches Ziel der Richtlinie liegt deshalb darin, die
Tarifvertragssysteme in Europa zu stärken. Überall dort, wo weniger als 80
Prozent der Beschäftigten tarifgebundene Arbeitgeber haben, werden die
nationalen Regierungen verpflichtet, konkrete Aktionspläne zur Förderung
von Tarifverhandlungen vorzulegen. Deutschland gehört zur Mehrheit der
Mitgliedsstaaten, auf die das zutrifft, denn hierzulande arbeitet nur noch
etwa jede*r zweite Beschäftigte in einem Unternehmen mit Tarifvertrag.
Obwohl sich die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag eindeutig zur
Stärkung der Tarifbindung bekannt hat, seien bislang kaum konkrete
politische Maßnahmen ergriffen worden, analysiert Schulten. „Mit dem
offiziellen Entwurf für ein Bundestariftreuegesetz hat die Bundesregierung
nun einen ersten, sinnvollen Vorschlag gemacht, um die Tarifbindung in
Deutschland zu stabilisieren. Insgesamt wird dies jedoch nicht ausreichen,
um eine Trendwende herbeizuführen.“
In Wissenschaft und Gewerkschaften werden weitere Instrumente diskutiert,
von denen einige seit langem in europäischen Nachbarländern erfolgreich
eingesetzt werden. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat dazu einen
umfassenden Maßnahmenkatalog vorgelegt mit zahlreichen Vorschlägen, die in
einen konkreten Aktionsplan zur Stärkung der Tarifbindung eingehen
könnten. Dazu gehören u.a. der Ausbau von Allgemeinverbindlicherklärunge
(AVE) von Tarifverträgen, ein Verbot so genannter OT-Mitgliedschaften in
Arbeitgeberverbänden, eine Stärkung der Nachwirkung von Tarifverträgen bei
Betriebsabspaltungen, bessere (digitale) Zugangsrechte von Gewerkschaften
und Betriebsräten zu Beschäftigten in Unternehmen sowie erweiterte
Nutzungsmöglichkeiten von Vorteilsregelungen für Gewerkschaftsmitglieder.
„Die Bundesregierung ist nun gefordert, die Initiative zu ergreifen und
Strukturen und Verfahren festzulegen, um – in Kooperation mit
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden – einen konkreten Aktionsplan zu
entwickeln“, schreibt Schulten.
Kriterien für einen angemessenen (gesetzlichen) Mindestlohn
Parallel zur Stärkung der Tarifbindung fordert die Europäische
Mindestlohnrichtlinie speziell diejenigen Mitgliedsstaaten, die über einen
gesetzlichen Mindestlohn verfügen, auf, diesen nach klar definierten
Kriterien festzulegen und regelmäßig anzupassen. Während die
Mitgliedstaaten in der Festlegung und Gewichtung dieser Kriterien
weitgehend frei sind, nennt die Richtlinie vier Mindestkriterien, die in
jedem Fall berücksichtigt werden müssen. Das sind: Die Kaufkraft der
gesetzlichen Mindestlöhne unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten;
das allgemeine Niveau der Löhne und ihre Verteilung; die Wachstumsrate der
Löhne sowie langfristige nationale Produktivitätsniveaus und
-entwicklungen.
Außerdem gibt die Richtlinie verbindlich vor, dass die Mitgliedsstaaten
„bei ihrer Bewertung der Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne
Referenzwerte zugrunde (legen)“, so Schulten. Konkret benannt werden
hierbei die „auf internationaler Ebene üblichen Referenzwerte wie 60
Prozent des Bruttomedianlohns und 50 Prozent des Bruttodurchschnittslohns
und/oder Referenzwerte, die auf nationaler Ebene verwendet werden“. Da die
EU keine rechtliche Kompetenz hat, ein verbindliches Mindestlohnniveau
vorzugeben, bleibt die Entscheidung über den konkreten Referenzwert bei
den Mitgliedsstaaten. Allerdings gebe „die Richtlinie die eindringliche
Empfehlung, sich an den international üblichen Standards für zu
orientieren“, betont der Wissenschaftler.
Kennzeichnend für das deutsche Mindestlohnregime ist, dass die Entwicklung
des gesetzlichen Mindestlohns nach der politischen Festlegung seines
Ausgangsniveaus im Jahr 2015 nicht durch den Staat, sondern durch eine
Mindestlohnkommission bestimmt wird. Nach dem Mindestlohngesetz (MiLoG)
setzt sich diese aus jeweils drei Arbeitgeber- und
Gewerkschaftsvertreter*innen plus einer*m „unabhängigen“ Vorsitzende*n
(und zwei beratenden Wissenschaftler*innen) zusammen und spricht
regelmäßig Empfehlungen für die Anpassung des Mindestlohns aus. Die
einzige Ausnahme bildete die außerordentliche Mindestlohnanpassung im
Herbst 2022, bei der unter anderem mit Verweis auf die Europäische
Mindestlohnrichtline das Mindestlohnniveau strukturell erhöht werden
sollte.
Für die regulären Anpassungen durch die Mindestlohnkommission macht das
deutsche Mindestlohngesetz nur relativ allgemeine Vorgaben. Die dort unter
anderem genannte Entwicklung der Tariflöhne war, so Schulten, in den
ersten Jahren der Minimalkonsens, auf den sich Arbeitgeber und
Gewerkschaften bei der Erhöhung des Mindestlohns verständigen konnten.
Allerdings sei schnell deutlich geworden, dass eine ausschließliche
Orientierung an den Tariflöhnen nicht ausreicht, um den Mindestlohn
strukturell auf ein angemessenes Niveau anzuheben. Die Gewerkschaften
unterstützten deshalb den in der EU-Mindestlohnrichtlinie genannten
Referenzwert von 60 Prozent des Medianlohns als Untergrenze für ein
angemessenes Mindestlohnniveau. Die Arbeitgeber hätten sich hingegen von
Beginn an gegen die Richtlinie ausgesprochen und lehnten auch nach ihrer
Verabschiedung den Orientierungswert von 60 Prozent des Medianlohns strikt
ab, schreibt der Forscher. Stattdessen hätten sie bei der jüngsten
Entscheidung der Mindestlohnkommission im Sommer 2023 erstmals das bis
dato konsensuale Verfahren aufgekündigt und führten zusammen mit der
Vorsitzenden und gegen die Stimmen der Gewerkschaften erstmals einen
Mehrheitsbeschluss herbei. „Dieser sah lediglich eine sehr geringe
Erhöhung des Mindestlohns vor und hat dabei die Kriterien der Europäischen
Mindestlohnrichtlinie komplett ignoriert“, schreibt Schulten.
60 Prozent des Medianlohns entsprächen aktuell 14,61 Euro Mindestlohn
Das Grundproblem des deutschen Mindestlohnregimes besteht laut der WSI-
Analyse darin, dass es mit der Orientierung an den Tariflöhnen zwar über
ein Kriterium zur Entwicklung des Mindestlohns verfügt, Kriterien für die
angemessene Höhe des Mindestlohns jedoch fehlen „und damit ein einmal
politisch festgelegtes Mindestlohnniveau einfach fortgeschrieben wird“. In
diese Regelungslücke stoße nun die Europäische Mindestlohnrichtlinie mit
ihrer Empfehlung für einen Referenzwert von 60 Prozent des Medianlohns.
Nach Berechnungen der Industrieländerorganisation OECD schwankt der
deutsche Mindestlohn seit seiner Einführung zwischen 46 und 48 Prozent des
Medianlohns von Vollzeitbeschäftigten. Lediglich die außerordentliche
Mindestlohnerhöhung auf zwölf Euro hat diesen Wert zeitweilig auf knapp 52
Prozent ansteigen lassen. Damit lag der deutsche Mindestlohn nach
Schultens Berechnung in der Regel mindestens zwei Euro unterhalb der
Angemessenheitsschwelle der Europäischen Mindestlohnrichtlinie (siehe auch
Abbildung 1 im Anhang). Um 60 Prozent des Medianlohns zu entsprechen,
hätte der gesetzliche Mindestlohn danach schon bei seiner Einführung im
Jahr 2015 bei 10,59 Euro liegen und im Jahr 2023 bereits auf rund 14 Euro
angehoben werden müssen. Lege man die aktuellen Prognosen für die
Lohnentwicklung für 2024 und 2025 zugrunde, so müsste der Mindestlohn in
diesem Jahr 14,61 Euro betragen und 2025 auf über 15 Euro ansteigen.
Deutsches Mindestlohngesetz und EU-Mindestlohnrichtlinie
Ob für die Umsetzung der Europäischen Mindestlohnrichtlinie eine Änderung
des deutschen Mindestlohngesetzes notwendig ist, ist in der juristischen
Debatte höchst umstritten. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages
kam 2022 zu dem Ergebnis, dass die Anpassungskriterien des
Mindestlohngesetzes so allgemein und weit gefasst sind, dass sie auch im
Sinne der Europäischen Mindestlohnrichtlinie interpretiert werden können.
Andere Stimmen aus der Rechtwissenschaft argumentieren hingegen, dass die
deutlich präziser gefassten Kriterien der Europäischen
Mindestlohnrichtlinie auch explizit in das deutsche Mindestlohngesetz
übernommen werden müssten. Ähnliche Positionen finden sich auch in anderen
EU-Staaten, wie z.B. in den Niederlanden, die die Kriterien der
Europäischen Mindestlohnrichtlinie vollständig in ihr nationales
Mindestlohngesetz übernommen haben, zeigt die WSI-Analyse.
Die Bunderegierung hat sich bislang der Position angeschlossen, wonach
keine Änderung des Mindestlohngesetzes nötig sei. Angesicht der jüngst
durch die Arbeitgeber bestimmten Entscheidung der Mindestlohnkommission
habe sich der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil jedoch genötigt gesehen,
in einem offiziellen Brief zu betonen, dass er die Vorgaben der
Europäischen Mindestlohnrichtline dann als gegeben ansieht, „wenn die
Mindestlohnkommission den Referenzwert von 60 Prozent des
Bruttomedianlohns bei den nächsten Anpassungsentscheidungen
berücksichtigt“, so Schulten. Demgegenüber haben die Arbeitgeberverbände
in einem Antwortschreiben deutlich gemacht, dass sie den Referenzwert der
Europäischen Mindestlohnrichtlinie von 60 Prozent des Medianlohn lediglich
für eine unverbindliche Orientierungsgröße halten.
Wenn für die Zukunft sichergestellt werden solle, dass auch in Deutschland
der gesetzliche Mindestlohn nicht mehr unterhalb der
Angemessenheitsschwelle von 60 Prozent des Medianlohn liegen soll, sollte
diese Zielsetzung auch explizit im deutschen Mindestlohngesetz
festgeschrieben werden, argumentiert der WSI-Forscher. Eine entsprechende
Änderung des Mindestlohngesetzes werde „mittlerweile von einer breiten
politischen Allianz gefordert, die vom ehemaligen ver.di-Chef Frank
Bsirske bis zum neuen CDA-Vorsitzenden und `Vater der Europäischen
Mindestlohnrichtlinie´ Dennis Radtke reicht.“ Eine Übernahme der
Referenzwerte der Mindestlohnrichtlinie in die nationale
Mindestlohngesetzgebung werde auch in einer Reihe anderer EU-Staaten
diskutiert bzw. sei in einigen Ländern auch schon umgesetzt worden.