Preisträgerin Cristina Murer entdeckte das Grab-Recycling der Spätantike
Der diesjährige Marie Heim-Vögtlin-Preis geht an Archäologin Cristina
Murer. Der SNF verleiht ihr die Auszeichnung für ihre Forschung zu
Grabplünderungen in der Spätantike, einer Zeit des Umbruchs.
Gerade in Zeiten des Umbruchs und während Krisen müssen Ressourcen durch
Kreativität, Recycling und Kreislaufwirtschaft geschont werden. Oftmals
besinnen sich Gesellschaften dann auf lokale Ressourcen in nächster Nähe
zurück. Das ist heute so – und war in der Spätantike nicht anders, wie
Cristina Murer mit ihrer Forschung zeigen konnte. Allerdings bediente man
sich damals sogar bei den Toten.
Als Ambizione-Projektleiterin an der Universität Bern erforschte sie
dieses Grab-Recycling. Dafür erhält sie vom Schweizerischen Nationalfonds
(SNF) den Marie Heim-Vögtlin-Preis 2024. Die Preisverleihung findet am 12.
November in Bern statt.
Zerstörung hiess Bewahrung
«Die Spätantike steht nicht für den Niedergang der menschlichen
Zivilisation, sie war eine Zeit des Übergangs», sagt Murer. Damals war der
Handel von Marmor zusammengebrochen. Neue Bezugsquellen fand man in den
prachtvollen, inzwischen herrenlosen römischen Gräbern vor Ort. «Ich
konnte zeigen, dass ihre Plünderung und Zerstörung Teil wichtiger
Recyclingprozesse in Städten war; ein kreativer Prozess, aus dem Neues
entstand. Die Gräber wurden also nicht, wie bisher angenommen, von
Christen im Zuge antiheidnischer Massnahmen zerstört.»
Zerstörung bedeute also nicht automatisch das Ende. Ganz im Gegenteil:
Überhaupt erst durch die kreative Wiederverwendung sei somit der Schmuck
antiker Grabbauten über die Zeit erhalten geblieben. «Fast alles aus der
Spätantike, was nicht recycelt und umfunktioniert wurde, ist heute
zerstört.»
Minutiöse Archivarbeit mit alten Tagebüchern
Neben der Arbeit mit den archäologischen Befunden legte Murer grossen Wert
darauf, diese interdisziplinär auszuwerten und in ihren umfassenderen
historischen Kontext zu stellen. «Viele Informationen zum Grabraub in der
Spätantike habe ich Gesetzestexten und literarischen Quellen der Zeit
entnommen. Zudem kämpften wir uns in minutiöser Archivarbeit durch die
italienischen Ausgrabungstagebücher des frühen 20. Jahrhunderts. Das wird
heute kaum noch gemacht, ist aber von grossem wissenschaftlichem Wert.»
Früher habe man kein Interesse an den spätantiken Schichten gehabt und sie
einfach abgetragen. «Mit den alten Grabungstagebüchern konnten wir diese
aber ansatzweise rekonstruieren.»
Murers Interesse an der Epoche begann, als sie sich in ihrer Doktorarbeit
mit Ehrenstatuen von wohlhabenden Frauen im öffentlichen Raum
beschäftigte. Sie fand heraus, dass viele Statuen aus der Kaiserzeit in
der Spätantike wiederverwendet, also recycelt wurden. Oftmals stammten die
Kunstwerke aus alten Gräbern. «Das hat mir zunächst niemand geglaubt – bis
ich es schliesslich beweisen konnte. Dann wollte ich wissen, was noch
alles hinter dem Phänomen steckt.»
Bloss Quotenfrau?
Jetzt den Marie Heim-Vögtlin-Preis zu erhalten, bedeutet Cristina Murer
viel. «Ich freue mich besonders, dass ich diesen Forschungspreis für ein
Orchideenfach wie die Klassische Archäologie erhalte.» Explizit als Frau
ausgezeichnet zu werden, sei ebenfalls sehr wichtig, um Forscherinnen in
ihrem Fachgebiet weiter sichtbar zu machen. «Ich wurde immer nur von
Männern unterrichtet und jetzt bin ich die erste Professorin am Institut
in Tübingen.»
Dieser Wandel sei für die Studierenden wichtig. Auch kämen Studentinnen
mit frauenspezifischen Anliegen jetzt zu ihr, der Vertrauensperson. Der
Vorwurf, eine Quotenfrau zu sein, ist Cristina Murer zwar schon begegnet.
Da müsse man aber drüberstehen, sagt sie. Ihre Tipps? «Ein gesundes
Selbstvertrauen entwickeln, sich mit anderen Forscherinnen und Forschern
in internationalen Netzwerken vernetzen und lernen, sich besser zu
verkaufen.» Um letzteres zu fördern, hat Murer kürzlich für ihre
Studentinnen eine Rhetorikschulung organisiert.
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Auszeichnung für exzellente Forscherinnen
Mit dem Marie Heim-Vögtlin-Preis würdigt der SNF jedes Jahr eine
hervorragende Nachwuchsforscherin. Die Gewinnerinnen sind inspirierende
Vorbilder. Während der Laufzeit ihres SNF-Förderbeitrags konnten sie
bemerkenswerte Resultate erzielen und ihre Karriere entscheidend
vorantreiben. Seit 2020 geht der Preis an eine ehemalige
Beitragsempfängerin der Förderinstrumente MHV, Doc.CH, Postdoc.Mobility,
Ambizione oder PRIMA.
Marie Heim-Vögtlin, die Namensgeberin des Preises, wurde 1868 als erste
Schweizerin an der Universität Zürich zum Studium an der medizinischen
Fakultät zugelassen. Nach dem Abschluss des Studiums eröffnete sie eine
Praxis für Gynäkologie, die sie nach der Geburt ihrer zwei Kinder
weiterführte. Sie zählt zu den Vorreiterinnen im Kampf für den Zugang der
Frauen zu akademischer Bildung.
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