Das Landeszentrum Gesundheit NRW analysierte 14228 Entlassrezepte
Patientinnen und Patienten, die nach einer stationären Behandlung auf
Arzneimittel angewiesen sind, erhalten von den Krankenhäusern und Kliniken
sogenannte „Entlassrezepte“. Das Landeszentrum Gesundheit NRW untersuchte
in einer sozialpharmazeutischen Analyse knapp ein Jahr lang, warum die
Einlösung dieser Rezepte in Apotheken oftmals nur verzögert funktioniert.
Simone Dirkmann, Mitarbeiterin der Fachgruppe Sozialpharmazie, beleuchtet
die Hintergründe und erklärt, warum Betriebsstättennummern und Vorgaben zu
Packungsgrößen die Hauptprobleme darstellen.
Redaktion: Im Fachbereich „Arzneimittelsicherheit, Sozialpharmazie“ des
Landeszentrums Gesundheit NRW (LZG.NRW) wurde zuletzt die Versorgung im
Rahmen des „arzneimittelbezogenen Entlassmanagements“ (aEM) in Apotheken
untersucht. Wie kam es zu diesem sozialpharmazeutischen Projekt?
Dirkmann: Die Amtsapotheker erhielten im Zuge ihrer Revisionen die
Rückmeldung vieler Apothekerinnen und Apotheker, dass die
Rezeptbelieferung nach Krankenhausentlassungen durch die sogenannten
Entlassrezepte mehr und mehr zu Verzögerungen in der Patientenversorgung
führt. Die Motivation des Projekts war es, zu untersuchen, ob die
Versorgung tatsächlich mit den beklagten Schwierigkeiten einhergeht und
falls ja, welche Stolpersteine es konkret gibt. Mit Unterstützung des
LZG.NRW können entsprechende anlassbezogene Erhebungen in den Kommunen
durchgeführt werden.
Redaktion: Können Sie die Zahlen, Daten und Fakten zur Projektdurchführung
zusammenfassen?
Dirkmann: Die Amtsapotheker des nordrhein-westfälischen
Gesundheitsdienstes (ÖGD NRW) wählten ein zweistufiges Verfahren.
Teilnehmende Apotheken sollten zunächst mithilfe eines Fragebogens über
subjektive Probleme, die sie bei der Belieferung von Entlassrezepten
retrospektiv über sechs Monate hinweg feststellen konnten, berichten. Aus
diesen zuvor gesammelten Problemfeldern, die von knapp 685 Apotheken aus
31 (von 53) Kommunen mitgeteilt wurden, ist dann eine zweite
Detailerhebung erstellt worden, anhand derer jedes in der Apotheke
vorgelegte Entlassrezept geprüft und dokumentiert wurde. Es wurde also bei
jedem eingehenden Entlassrezept festgehalten, ob und wenn ja, was für ein
Problem vorlag. Diese Dokumentation erfolgte über weitere sechs Monate.
Durch die Teilnahme von 345 nordrhein-westfälischen Apotheken an dieser
zweiten Phase konnten 14228 Entlassverordnungen ausgewertet werden. Mit 28
Kreisen und kreisfreien Städten haben sich mehr als die Hälfte der
Kommunen und fast jede zehnte Apotheke in NRW an dem
sozialpharmazeutischen Projekt beteiligt.
Redaktion: Welche Probleme hat die Untersuchung ergeben?
Dirkmann: Unsere Untersuchung zeigte, dass zwei von drei Patienten ohne
jede Verzögerung versorgt wurden. Dies bedeutet andererseits aber auch,
dass ein Drittel der Entlassverordnungen nicht direkt und problemlos
beliefert werden konnte, weil z.B. Unklarheiten bürokratischer Natur mit
den Krankenhausärzten geklärt werden mussten. Jeder dritte Patient konnte
folglich erst am nächsten Tag oder gar noch später mit seinen benötigten
Arzneimitteln versorgt werden. Die Hauptprobleme waren Vorgaben zu reinen
Formalitäten sowie zu den maximal zulässigen Verordnungsmengen.
Redaktion: Können Sie die beiden Punkte erläutern? Welche Formalitäten
sind konkret gemeint?
Dirkmann: Neben den üblichen Vorgaben gemäß
Arzneimittelverschreibungsvero
Grundlage der Rahmenvereinbarungen zwischen Kostenträgern und
Leistungserbringern die strenge Einhaltung formeller Details bezüglich
Betriebsstättennummer, lebenslanger Arztnummer, Statusziffer und
Facharztbezeichnung. Fehlen diese, entsprechen sie nicht den exakten
Vorgaben oder unterscheiden sich die Angaben, muss die Apotheke den
jeweiligen Mangel noch vor der Versorgung des Patienten aufdecken und
korrigieren. Da sie dies in den meisten Fällen nicht ohne Zutun des Arztes
kann bzw. darf, wird oftmals eine Rücksprache mit dem Verordner nötig,
obwohl diese inhaltlich für die Pharmakotherapie als solche gar nicht
erforderlich wäre.
Redaktion: Und warum gibt es Probleme mit den Verordnungsmengen?
Dirkmann: Dicht gefolgt von Formfehlern sind nach Apothekenangaben
Verordnungen nicht existenter oder nicht verfügbarer Packungsgrößen.
Hintergrund: Im arzneimittelbezogenen Entlassmanagement dürfen
Krankenhäuser gemäß Arzneimittel-Richtlinie des gemeinsamen
Bundesausschusses (g-BA) i.V.m. § 39 Abs. 1a SGB V grundsätzlich nur eine
Packung mit dem kleinsten Packungsgrößenkennzeichen gemäß sogenannter
Packungsgrößenverordnung verordnen. Dies stellt alle Beteiligten vor große
Hürden. Denn bei einer regelhaften Verordnung der kleinsten Normgröße muss
davon ausgegangen werden, dass das betreffende Arzneimittel grundsätzlich
auch durch einen Hersteller in dieser N1-Größe vertrieben wird. Zudem
setzt es das Wissen des Verordners zu Marktlage und
Packungsgrößeneinteilung voraus. Ist das eine oder andere nicht der Fall,
kann keine direkte Patientenversorgung stattfinden. Sollte das Präparat
von den zuletzt anhaltenden Lieferengpässen betroffen sein, führt auch
dies schnell zu Verzögerungen. Gibt es nur die Option, eine größere
Packung zu beliefern, bedarf dies wiederum einer ärztlichen
Rezeptänderung, falls die zuständige Krankenkasse die Mehrabgabe überhaupt
duldet. Nicht bei allen Kostenträgern ist es im Entlassmanagement möglich,
vertragskonform auf größere Packungen auszuweichen.
Redaktion: Könnten die Patienten daran etwas ändern und schon vor dem
Aufsuchen der Apotheke auf Formalia achten?
Dirkmann: Nein, die Zusammenhänge kann der Patient als Laie überhaupt
nicht nachvollziehen. Erst recht dann nicht, wenn das E-Rezept
flächendeckend umgesetzt ist und nur noch elektronisch verordnet wird.
Solange auch das Entlassmanagement hiervon noch nicht betroffen ist, ist
denkbar, dass ein Patient E-Rezepte auf der eGK gespeichert hat und
zusätzlich Rezepte in Papierform erhält. Bei einer Krankenhausentlassung
können Krankenhausärzte in bestimmten Fällen auch die benötigten
Arzneimittelmengen mitgeben. Für den Laien sind diese Konstellationen
nicht zu überblicken. Und wenn der vertragliche Handlungsspielraum von
Apotheken ausgeschöpft ist und die Kostenübernahme von Kassenrezepten
nicht gesichert ist, hat der Patient im schlimmsten Fall nur die folgenden
Optionen: das Arzneimittel selber zu zahlen oder den Hausarzt um ein neues
Rezept zu bitten. Beides birgt das Risiko, dass Patienten gänzlich auf
ihre Arzneimittel verzichten, sodass Verzögerungen oder sogar Lücken in
der Arzneimittelversorgung entstehen. Im Laufe dieses Jahres war in der
Fachpresse erneut zu lesen, dass sich die Selbstverwaltung auf keine
Vertragsanpassung einigen konnte. Das Vorliegen von Rezepten mit nicht zu
behebenden Formfehlern ist demnach ein reelles und – wie die Ergebnisse
des Projekts zeigen – quantitativ nicht zu vernachlässigendes Problem.
Redaktion: Worin sehen Sie die Ursache für die nur schwer umsetzbaren
Vorgaben?
Dirkmann: Schaut man sich die Daten der Erhebung an, kommt man zu dem
Ergebnis, dass die Eckpunkte, die gesetzlich und vertraglich vereinbart
wurden, in der apothekerlichen Praxis nur schwer oder auch gar nicht
umsetzbar sind. Das kann durch fehlendes Wissen der verschreibenden Ärzte
bei der Rezeptausstellung, aber auch schlicht durch das Marktangebot
bedingt sein. Aber auch sich ändernde Begleitumstände können dazu führen,
dass die Apotheken handlungsunfähig werden – man denke hier z.B. an die
ständig wechselnden COVID-19-Abgaberegelungen oder die begrenzten
Austauschmöglichkeiten bei Lieferengpässen.
Redaktion: Glauben Sie, dass sich die Versorgungssituation nun post-
pandemisch und mit abklingenden Lieferengpässen bessern wird?
Dirkmann: Das denke ich nicht. Die Schwierigkeiten bei der
Entlassmanagement-Versorgung wurden den Amtsapothekern schon seit Anbeginn
des Entlassmanagements gemeldet. Während der Pandemie und bei
Lieferengpässen hat sich die Situation eher noch verschärft. Die Erhebung
hat auch gezeigt, dass partielle Anpassungen in den Gesetzes- und
Vertragspassagen nur marginale und befristete Verbesserungen für das
Entlassmanagement zur Folge hatten. Leistungen müssen wirtschaftlich, aber
eben auch im Sinne des Versicherten ausreichend und zweckmäßig sein.
Dieser Spagat kann bei Rezeptbelieferungen sehr herausfordernd sein.
Konsequent und im Sinne einer schnellen Patientenversorgung wäre es daher,
die detektierten Punkte nochmals zu verifizieren, um dann in gemeinsamer
Runde tragbare Anpassungsmöglichkeiten zu prüfen.
Redaktion: Wer wäre Teil einer solchen Runde?
Dirkmann: Bestenfalls diejenigen, die zum einen die Grundlage für die
Belieferung geschaffen haben und zum anderen die Regelungen auch umsetzen
müssen. Das heißt der Gesetzgeber, der das Entlassmanagement durch das
GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (2015) implementiert hat; ferner der
Gemeinsame Bundesausschuss als höchstes Gremium der Selbstverwaltung zur
Richtlinienerstellung; und abschließend all diejenigen Leistungserbringer,
die die Machbarkeitsanalyse für ihren Versorgungsbereich vornehmen können,
d.h. die verschreibenden Krankenhausärzte und die versorgenden Apotheker.
Zurückliegend wurden bei der Einführung des Entlassmanagements die
gesetzliche Grundlage und die G-BA-Richtlinie erstellt, woraufhin dann ein
entsprechender Rahmenvertrag zwischen DKG, KBV, GKV-SV (2017) und später
dann noch die Vereinbarungen zwischen den Krankenkassen (GKV-SV) und
Apothekerverbänden (DAV e.V.) für die Lieferverträge (2018) folgten. Wenn
diese Prozesse mit unterschiedlichen Parteien in derart kleinteiligem
Gebiet hintereinandergeschaltet werden, kann es passieren, dass das
Endergebnis weder mit der Versorgungsrealität noch mit den Interessen der
jeweiligen Vertragspartner kompatibel ist. Spätestens dann ist die
Unterstützung durch die Politik erforderlich, um die gesetzlichen und
somit auch die darauf aufbauenden vertraglichen Rahmenbedingungen wieder
so praxistauglich zu machen, dass die Arzneimittelversorgung im Sinne der
Bevölkerungsgesundheit und der gewollten Stärkung der GKV-Versorgung
vorgenommen werden kann.
Redaktion: Ist das auch das langfristige Ziel, was Sie mit dem Projekt
verfolgen?
Das wäre jedenfalls wünschenswert. Mit dem öffentlichen Gesundheitsdienst
(ÖGD) existiert eine von wirtschaftlichen Interessen unabhängige
Institution, die über Berufsgrenzen hinaus zielgerichtet vermitteln und
Ergebnisse ehrlich hinterfragen kann, um den Entscheidungsträgern
tatsächlich relevante Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
Projektergebnisse können Stellschrauben sichtbar werden lassen. Die
Überwachung durch die Amtsapotheker in NRW ist somit auch
Verbraucherschutz und führt oftmals zu einem gelungenen Austausch am Ort
des Geschehens. Begehungen in öffentlichen oder auch
krankenhausversorgenden Offizinen, auf Krankenhausstationen und in
dazugehörigen Krankenhausapotheken bieten großes Potential, sich nach
Schwierigkeiten neuer Regelungen zu erkundigen. Letztlich entstand auch
dieses erkenntnisreiche aEM-Projekt genau über diesen Weg. Der ÖGD kann in
den ambulanten und stationären Versorgungsbereichen Theorie und Praxis
abgleichen und dort, wo es erforderlich ist, die beteiligten Akteure und
Politikbereiche beraten.
Redaktion: Ist ein konkretes Folgeprojekt geplant?
In der Stadt Hamm in NRW hat sich ein Good Practice-Beispiel etabliert,
welches die eben erwähnte „gemeinsame Runde“ berücksichtigt. Hier hat die
zuständige Amtsapothekerin, Carola Hiltawsky, einen Arbeitskreis
gegründet, der Krankenhäuser, deren versorgende Krankenhausapotheken sowie
Hausärzte gemeinsam mit niedergelassenen Apotheken ins Boot holt, um die
Stolpersteine in der Versorgung nach Krankenhausaufenthalten
berufsübergreifend zu besprechen. Da die Probleme im Entlassmanagement
weiterhin bestehen, wird nun in diesem Arbeitskreis zur Verbesserung des
Entlassmanagments eine dritte Erhebung durchgeführt, um die vorherigen
Ergebnisse für die eigene Kommune zu verifizieren. Anders als zuvor wird
zusätzlich untersucht, inwieweit die Probleme auch Ressourcen in
Pflegeheimen und Arztpraxen bindet, z.B. durch Korrespondenzen mit Ärzten
und beliefernden Apotheken oder durch Neuausstellung von Rezepten. Hier
geht es nicht um Retaxationen oder Schuldzuweisungen, sondern um eine gute
Fehlerkultur. Die Resonanz der beteiligten Berufsgruppen ist laut
Hiltawsky durchweg und im besonderen Maße positiv. Sie sagte neulich in
einer Fachbesprechung der Amtsapotheker: „Es kostet viel Anstrengung und
Zeit, intersektorale Akteure an einen Tisch zu holen, aber es
funktioniert, wenn alle es wollen.“
Redaktion: Was wäre das langfristige Ziel im arzneimittelbezogenen
Entlassmanagement?
Dirkmann: Das Ziel ist dann erreicht, wenn Patienten unbürokratisch und
zuverlässig versorgt werden können und wenn davon ausgegangen werden kann,
dass dies in den bestehenden Strukturen flächendeckend gelingt. Für die
Sicherstellung der öffentlichen Gesundheit ist es wichtig, einen optimalen
Medikationsprozess zu gewährleisten. Medikationsfehler – hierzu gehören
auch Fehlversorgungen und vermeidbare Therapieverzögerungen – stellen für
Patienten nicht unerhebliche Risiken dar und sind auf ein Mindestmaß zu
reduzieren. Das Entlassmanagement müsste zudem viel mehr noch als jetzt
für Versorgungs- und Betreuungsmanagement stehen. Denn bei all den in
unserem Gespräch getätigten Überlegungen muss man sich einer Sache bewusst
sein: Das Projekt „arzneimittelbezogenes Entlassmanagement“ konzentriert
sich allein auf den Prozess der Rezepteinlösung. Damit geht der
eigentliche Versorgungspfad an den Schnittstellen zwischen Apotheken,
Hausarztpraxen, weiterbehandelnden Kliniken, Pflegediensten, stationären
Rehabilitations- und Pflegeeinrichtungen erst richtig los: das Prüfen des
Medikationsplans, der Abgleich eines Entlassbriefes, die Durchführung
einer Polymedikationsanalyse, die Beantwortung ungeklärter Fragen etc. Für
einen reibungslosen Übergang von der stationären in die ambulante
Versorgung ist insbesondere mit Blick auf medikamentöse Umstellungen das
gesamte Setting zu betrachten. Langfristig müssen daher die Kommunikation
und Interdisziplinarität zwischen Apothekern, Ärzten und sonstigen
Gesundheitsprofessionen mehr in den Vordergrund rücken. Die verpflichtende
Einführung von Stationsapothekern in Niedersachen, der intersektorale
Austausch im Rahmen des NRW-Projekts „Stationsapotheker NRW“,
Informationskampagnen für den Medikationsplan (AKWL, KVWL), Arbeitsgruppen
zur Weiterentwicklung des Entlassmanagements (ADKA), die geplante
Einführung der elektronischen Patientenakte ab 2025 – all dies sind
bereits sinnvolle Ansätze, die einer adäquaten Anschlussversorgung der
Patienten und somit dem Patientenwohl gerecht werden können.