Gründliche Bestandaufnahme des Zentralen Arktischen Ozeans in Zeiten des Wandels


Lockeres Meereis, zigtausend Datenpunkte und Proben, überraschend viele
Tiere und Vulkanquellen – das sind die Eindrücke und Erträge, die ein
internationales Forschungsteam jetzt von einer Polarstern-Expedition aus
der zentralen Arktis mitbringt. Das Forschungsschiff des Alfred-Wegener-
Instituts wird nach gut viermonatiger Arktissaison am Sonntag mit dem
Morgenhochwasser in Bremerhaven zurückerwartet.
Einen aktuellen wissenschaftlichen Überblick der eurasischen und zentralen
Arktis bringt die ArcWatch-2-Expedition mit in den Heimathafen der
Polarstern, wenn der Forschungseisbrecher am Sonntag, den 13. Oktober
2024, planmäßig nach Bremerhaven zurückkehrt. Wissenschaftliche
Expeditionsteilnehmende aus 17 Ländern und 24 verschiedenen Instituten
haben einen umfangreichen Datensatz erhoben, der die Bereiche der
Atmosphäre, der Ozeanzirkulation, Meereisphysik, Geochemie und des
Ökosystems umfasst. Die Daten werden nach der Fahrt genutzt, um die
Veränderungen in der Arktis als Teil des globalen Ozean- und Klimasystems
besser zu verstehen.
Prof. Dr. Benjamin Rabe, Leiter der ArcWatch-2-Expedition und
Physikalischer Ozeanograph am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum
für Polar- und Meeresforschung (AWI), sagt: „Wir hatten im langjährigen
Vergleich eine ungewöhnlich lockere Eisbedeckung in der Zentralarktis,
dabei aber ähnliche Bedingungen wie bei der letztjährigen
ArcWatch-1-Expedition. Jetzt wird ein Schwerpunkt unserer Auswertungen
sein, wie dies mit der ebenfalls untersuchten Atmosphäre und der
Ozeanzirkulation zusammenhängt.“ Diese ist ebenfalls im Wandel, wie Dr.
Céline Heuzé, Ozeanographin an der Universität Göteborg, berichtet: „Ein
erster Blick auf die vorläufigen Temperatur- und Salzgehaltsdaten deutet
darauf hin, dass es Veränderungen in der Zirkulation des Atlantikwassers
gibt, wobei eine Analyse der vollständig kalibrierten Daten dies
bestätigen muss.“
Kombiniert werden die ozeanographischen Analysen mit einem weiteren
Schwerpunkt der Reise: der Meereschemie. Diese Arbeitsgruppen sammelten
beispielsweise Daten über Spurenmetalle, die auch für Meereslebewesen
lebenswichtig sind. Das Team untersuchte zusätzlich menschliche
Stoffeinträge, Kohlenstoff in seinen verschiedenen Verbindungen, sowie
Nährstoffe und Umweltbelastungen wie z.B. Quecksilber. So können chemische
Veränderungen im tiefen arktischen Ozean beurteilt werden, die von
Satelliten nicht gesehen werden. Mehr als 20.000 Liter Wasserproben wurden
hierfür genommen, erstmalig auch mit einem neuen, besonders reinen
Beprobungssystem des AWI. Diese Proben erfordern nun zeitaufwändige
Analysen an Land und werden anschließend zum internationalen GEOTRACES-
Programm (https://www.geotraces.org/) beitragen. „So können wir dann zum
Beispiel sehen, wie historische Umwelteinträge sich noch ausbreiten - aber
auch, wo die neuere Umweltgesetzgebung bereits zu stark verminderten
Belastungen führt“, erläutert Dr. Walter Geibert, Geochemiker am AWI und
Co-Fahrtleiter der Reise. Ein weiteres meereschemisches Highlight der
Messungen war die Wolke einer vulkanischen Quelle in einem tiefen Bereich
des Gakkelrückens, wo bisher vom AWI noch keine hydrothermalen Quellen
aufgezeichnet wurden. Solche Quellen sind wichtige Eintragswege von
Stoffen in den Ozean, allerdings waren aus der Arktis erst sehr wenige
bekannt.
Ein weiterer Teil der wertvollen wissenschaftlichen Fracht sind hunderte
Gewebeproben von über 80 Fischen. Mit Einsatz verschiedener Leinen, Netze
sowie akustischer Methoden konnten Biologinnen und Biologen etliche
Fische, Tintenfische und Garnelen in der Zentralarktis nachweisen.
„Leuchtsardinen der Gattung Benthosema waren im Zentralen Arktischen Ozean
omnipräsent“, berichtet AWI-Biologe Dr. Hauke Flores, der das Biologie-
Team an Bord leitete. „Die unter 10 Zentimeter großen Fische und das
Vorhandensein von Garnelen und Tintenfischen, die wir gefunden haben, sind
ein Hinweis darauf, dass das Ökosystem rund um den Nordpol biologisch
diverser ist als bisher angenommen“, sagt Hauke Flores als erste
Einordnung der Ergebnisse. Zusammen mit Proben zur Verbreitung und
Biodiversität mikrobischer und planktonischer Lebensgemeinschaften im
Wasser und im Meereis liefern diese Daten im Rahmen des EU-Projektes
SciCAO (https://cinea.ec.europa.eu/ne
scientific-knowledge-fisheries
Grundlage für das internationale Fischerei-Abkommen für die Zentralarktis
(Central Arctic Ocean Fisheries Agreement - CAOFA). Dieses Abkommen
fordert, wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, bevor eine ökologisch
nachhaltige Entwicklung der Fischerei in der Region in Betracht gezogen
werden kann.
Das AWI-Meereis-Team an Bord außerdem auf der aktuellen Polarstern-
Expedition Eisdickenmessungen mit den Bord-Helikoptern durchgeführt. „Es
war nicht einfach, Wetterfenster für die elf Messflüge zu finden, denn
insgesamt hatten wir aufsummiert nur vier Tage und sechs Stunden
wolkenfreie Bedingungen, während wir durch das Meereis fuhren“, erzählt
der AWI-Meereisphysiker Dr. Niklas Neckel. Nebel und Wolken sind dabei
typisch für die sommerliche Arktis und sind wichtige Teile der
Untersuchungen des Eis-Atmosphärenteams an Bord. Solche Bedingungen waren
auch während eines Live-Streams von Bord zu sehen: Am 19. September
konnten Interessierte auf dem AWI-YouTube-Kanal mit Forschenden chatten
und die Polarstern am Nordpol aus Drohnenperspektive beobachten; das Video
ist hier abrufbar: https://www.youtube.com/watch?
wissenschaftlichen Drohnen wurden in einem Pilotprojekt primär zur
Unterstützung der Navigation und Untersuchung der Eisoberfläche
eingesetzt.
Die Polarstern war seit Anfang Juni auf insgesamt drei Expeditionen in der
Arktis unterwegs. Im Juli und August fanden Hafenanläufe im norwegischen
Tromsø und Longyearbyen auf Spitzbergen statt, um Personal auszutauschen,
wissenschaftliches Gerät umzuladen und Proviant und Treibstoff an Bord zu
nehmen. Das Schiff wird am 13. Oktober mit dem Morgenhochwasser gegen 9:00
Uhr in der Schleuse erwartet und dann bis Ende November zu planmäßigen
Wartungs- und Reparaturarbeiten in der Bremerhavener Lloyd Werft liegen,
bevor sie zur Antarktissaison 2024/25 aufbricht.