„Es ist so viel sozial kaputtgegangen!“ Die Beschwörung von Gemeinschaft in der Transformation
In der gegenwärtigen „Vielfachtransformation“ machen Erwerbstätige
verbreitet Erfahrungen eines Verlustes sozialer Bindungen im Betrieb und
einer zunehmenden „Spaltung“ und „Polarisierung“ in ihren arbeits- wie
lebensweltlichen Kontexten. In der Vehemenz, mit der sie diese Erfahrungen
artikulieren und kritisieren, drückt sich zugleich eine Sehnsucht nach
Vergemeinschaftung, nahezu eine Beschwörung von Gemeinschaft, aus. Dies
kann man als Krisenanzeiger im gesellschaftlichen Umbruch lesen. Knut
Tullius geht in einem Impulspapier dieser Gemeinschaftsbeschwörung entlang
von drei Thesen nach, die sich auf empirische Befunde des laufenden
Forschungsprojekts „Mentalitäten des Umbruchs“ stützen.
Im Forschungsprojekt „Mentalitäten des Umbruchs“ untersucht das
Soziologische Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) seit 2020 die
mentalitätsprägenden Erfahrungen, Wahrnehmungen und Deutungen von
Umbruchsprozessen in der Arbeits- und Lebenswelt von abhängig
Beschäftigten und ihren Haushaltsmitgliedern in verschiedenen Regionen der
Bundesrepublik: in der Automobilregion Stuttgart, der Luftfahrt- und
Bankenmetropolregion Frankfurt/Main, im peripherisierten Südostthüringen
und in der Strukturwandelregion Rheinland/Ruhr.
„Dabei zeigt sich unter anderem, dass der Betrieb als Ort von
Sozialorientierung und für Sozialintegration nach wie vor eine
mentalitätsprägende Bedeutung hat“, so die erste These: „Denn Beschäftigte
verstehen die Kapital-Arbeit-Beziehung nicht als ein reines
Austauschverhältnis von Arbeitsleistung und finanzieller Gegenleistung,
sondern auch als ein Verhältnis wechselseitigen Füreinander-Einstehens und
auch Aufeinander-Angewiesen-Seins.“
Die zweite These bezieht sich auf das Erleben der
‚Vielfachtransformation‘: „Die Erfahrungen, die abhängig Beschäftigte in
der gegenwärtigen ‚Vielfachtransformation‘ machen, schwächen und
untergraben die sozialintegrativen Bindekräfte der sozialen Ordnung im
Betrieb. Für die von uns befragten Gruppen und Beschäftigtenmilieus stellt
sich ‚Transformation‘ als teils unübersichtliche Gemengelage miteinander
verwobener und sich teils wechselseitig verstärkender Umbruchsprozesse
dar“, hebt SOFI-Forscher Knut Tullius hervor.
In der Summe verblasst der Betrieb als Identifikationsort und sozialer
Begegnungsraum immer mehr. Je mehr er diesbezüglich an Bedeutung verliert,
desto mehr wird er von den Befragten als solcher adressiert und geradezu
beschworen.
Die Affektivität dieser Beschwörung von Gemeinschaft – so die dritte These
– trägt klassenspezifische und auch konstellationsspezifische Merkmale:
Sie ist bei Angelernten und Facharbeitern in der südwestdeutschen
Autoindustrie und am Flughafen ausgeprägter als bei Pflegekräften. Und sie
ist unter Befragten mittlerer und unterer Erwerbsklassen generell deutlich
prononcierter als unter Mitgliedern höherer Erwerbsklassen wie den
technischen und kaufmännischen Wissensarbeiter:innen.
Veröffentlichung:
Tullius, Knut (2024): „Es ist so viel sozial kaputtgegangen!“ Die
Beschwörung von Gemeinschaft in der Transformation. SOFI-Impulspulpapier.
Kostenfreier Download des Impulspapiers:
https://sofi.uni-
goettingen.de/fileadmin/user_u