Studie über Sterblichkeitsraten von beatmeten Patienten: DGAI fordert offenen Diskurs über Grenzen der Intensivmedizin


Der Sprecherkreis des Wissenschaftlichen Arbeitskreises Intensivmedizin
(WAKI) der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin
e.V. (DGAI) plädiert für einen offenen gesellschaftlichen Diskurs über die
Möglichkeiten und Grenzen der Intensivmedizin. Hintergrund ist eine
kürzlich veröffentlichte Studie von Prof. Dr. Christian Karagiannidis, die
eine hohe Sterblichkeitsrate bei mechanisch beatmeten Patienten in
deutschen Krankenhäusern aufzeigt und damit eine Diskussion über eine
generelle Überversorgung und die Notwendigkeit einer Begrenzung in der
deutschen Intensivmedizin angestoßen hat.
Dabei geht es nicht um Zweifel an der grundsätzlichen Effektivität der
künstlichen Beatmung als bewährte und hochwirksame klinische Therapie,
sondern um die Sinnhaftigkeit und die Grenzen ihres Einsatzes bei
Patientinnen und Patienten mit schwersten Grunderkrankungen und insgesamt
schlechter Überlebensprognose.
Angesichts dessen betonen Prof. Dr. Gernot Marx, Prof. Dr. Thorsten
Brenner und Prof. Dr. Hendrik Bracht aus dem Sprecherkreis des WAKI: „Es
bedarf einer individuellen Herangehensweise, um eine an den
Patientenwunsch und an die jeweilige individuelle Prognose angepasste
Therapie zu ermöglichen – inklusive der Bereitschaft zur täglichen
Reevaluation im interdisziplinären und multiprofessionellen
Behandlungsteam“.
Hierbei müsse jederzeit auch die Möglichkeit bestehen, eine primäre
Therapie bei ausbleibendem Erfolg innerhalb weniger Tage in ein
palliatives Konzept zu überführen, um eine mögliche Übertherapie zu
vermeiden. Eine Therapieziellimitierung stelle hierbei eine absolut
legitime Konsequenz dar, wenngleich diese aber niemals ausschließlich z.B.
aufgrund des Alters eines Patienten abgeleitet werden sollte.
Es bedarf einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion
„Es braucht eine äußerst differenzierte Betrachtungsweise, um
sicherstellen zu können, dass unsere Entscheidungen stets auf der
bestmöglichen medizinischen und ethischen Grundlage basieren“, fordern die
DGAI-Experten. „Zudem bedarf es einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion
darüber, ob und in welchem Umfang die Intensivmedizin in Zukunft eine
Begrenzung erfahren sollte“, betont Prof. Thorsten Brenner, 2. Sprecher
des WAKI. Dabei müsse der Fokus auf der Entwicklung von Prozessen und
Kriterien liegen, die sowohl von den Versorgenden, den Patienten als auch
der gesamten Gesellschaft akzeptiert werden können. Darüber hinaus fordern
die DGAI-Experten eine detaillierte Erfassung der poststationären Verläufe
und Überlebensdaten, um wirklich fundierte Entscheidungen treffen zu
können.
Mit diesen Anmerkungen reagiert der WAKI-Sprecherkreis auf die im Juni
2024 veröffentlichte Studie des Autorenteams rund um Prof. Dr. Christian
Karagiannidis, die unter dem Titel „In-hospital mortality, comorbidities,
and costs of one million mechanically ventilated patients in Germany“ eine
Kosten-Nutzen-Analyse der deutschen Intensivmedizin präsentiert.
Die Studie beleuchtet die Sterblichkeit von mechanisch beatmeten Patienten
in deutschen Krankenhäusern. „Mit einer Sterblichkeitsrate von 43,3
Prozent unter den rund eine Million mechanisch beatmeten Patienten in
deutschen Krankenhäusern zeigt sie in erschreckender Weise auf, wie viele
Menschen trotz modernster intensivmedizinischer Betreuung ihr Leben
verlieren – und das oft unter Generierung enormer Kosten. Die
internationalen Vergleichsraten liegen zwischen 28 und 31 Prozent“,
erläutert Prof. Dr. Gernot Marx, 1. Sprecher des WAKI. Hintergrund ist,
dass in Deutschland schwerstkranke Patienten häufiger beatmet werden als
in anderen Staaten, wodurch viele von ihnen – trotz intensivmedizinischer
Maßnahmen – versterben. In anderen Ländern hingegen werden solche
Patienten oft nicht beatmet, was dazu führt, dass sie an ihrer
Grunderkrankung sterben. Die Letalität der beamteten Patienten liegt daher
dort auf einem niedrigeren Niveau.
Vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie, die weltweit Gesundheitssysteme
belastet hat, stelle diese Sterblichkeitsrate in Deutschland eine
erhebliche Herausforderung dar. „Besonders brisant wird die Diskussion
aber dadurch, dass nach der Unterversorgung während der Pandemie nun
intensiv und kontrovers über ein etwaig bestehendes Problem der
Überversorgung bzw. Übertherapie debattiert wird“, kritisiert Prof.
Brenner.
Prof. Dr. Hendrik Bracht, Schriftführer des WAKI, weist dabei auf die
Notwendigkeit einer detaillierteren Betrachtung der Datenerhebung hin:
„Der Datensatz dieser Studie ist mit über einer Million eingeschlossenen
Patienten durchaus repräsentativ. Allerdings erfolgte die Datenerhebung
auf Basis der von den Kostenträgern zur Verfügung gestellten
administrativen Leistungsdaten, die als Abrechnungsdaten fungieren und mit
relevanten Unschärfen oder unvollständigen Angaben assoziiert sein
können.“ Zudem fehlten dabei häufig wichtige klinische Details, wie z.B.
Behandlungsentscheidungen oder eine Angabe zur Erkrankungsschwere, ergänzt
er.
Wie gerechtfertigt ist der Vorwurf einer generellen intensivmedizinischen
Übertherapie?
Der WAKI-Sprecherkreis mahnt daher: „Diese Limitationen sollten bei der
Interpretation der Ergebnisse unbedingt berücksichtigt werden“ – und sieht
die Notwendigkeit, kritisch zu hinterfragen, wie gerechtfertigt der
Vorwurf einer generellen intensivmedizinischen Übertherapie in Deutschland
ist, welche Konsequenzen eine solche Übertherapie für den einzelnen
Patienten hat und wie weit die moderne Intensivmedizin im individuellen
Fall gehen sollte.
Ferner schränken die DGAI-Experten ein: Am häufigsten mussten Patienten
aufgrund internistischer Erkrankungen beatmet werden, insbesondere wegen
Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Pneumonien. Ein detaillierter Vergleich
der Letalität zwischen beatmeten internistischen und chirurgischen
Patienten könnte hier aufschlussreich sein, da ältere Daten signifikante
Unterschiede in den Überlebensraten nahelegen. Die für die Studie
herangezogenen Abrechnungsdaten schließen Patientinnen und Patienten mit
Beatmungsdauer unter 24 Stunden aus – genau diese seien aber mit einer
deutlich geringeren Letalität assoziiert.
Grundsätzlich sollten Therapieentscheidungen nicht pauschal auf Grundlage
des Alters getroffen werden, da das chronologische Alter oft nicht den
tatsächlichen Gesundheitszustand widerspiegelt. Zudem hebt Prof. Marx
hervor, dass in Deutschland zwar eine hohe Sterblichkeit bei älteren
Patienten festgestellt wird, jedoch viele dieser Patienten auch überleben,
während in anderen Ländern diesen Patienten keine Überlebenschancen
angeboten werden. „Das kann man durchaus als ethisch herausfordernd
betrachten“, mahnt er.
Letztlich sei auch die Erfahrung des Behandlungsteams von entscheidender
Bedeutung für den Behandlungserfolg. Nicht zuletzt während der Pandemie
habe das Beispiel der ECMO-Therapie sehr deutlich gezeigt, welchen großen
Einfluss eine hohe Fallzahl und eine Zentralisierung auf spezialisierte
Zentren auf das Outcome der Patienten haben kann.
Originalpublikation:
https://www.dgai.de/aktuelles-
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