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Organmangel – welche Lösungsansätze gibt es?

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Die Widerspruchslösung konnte politisch nicht durchgesetzt werden,
Transplantationsmedizinerinnern und -mediziner werten das als vertane
Chance. Umso wichtiger sei es nun, die anderen Stellschrauben zu
betätigen, um bei der Organspende endlich einen positiven Trend
herbeizuführen. Dazu zählen u. a. die Einführung eines Registers, in dem
der Organspendewille hinterlegt ist, die Zulassung von Organen von
Spendern, die an einem Herzversagen verstorben sind, oder die Öffnung der
Lebendspenderegeln. „Wir müssen diese Maßnahmen jetzt beherzt angehen,
damit sich endlich etwas tut!“

Fast 10.000 Menschen in Deutschland warten auf ein lebensrettendes Organ –
doch nur 3.347 Menschen konnten im Jahr 2020 transplantiert werden. Seit
Jahren herrscht ein eklatanter Organmangel und bislang konnte keine, auch
noch so gut gemeinte oder auch gut gemachte Kampagne oder
gesellschaftspolitische Initiative eine Trendwende herbeiführen.

„Die Stärkung der Spendebeauftragten – fälschlicherweise
Transplantationsbeauftragte genannt – war zwar ein erster wichtiger
Schritt. An den Zahlen sieht man aber, dass dies alleine nicht ausreichend
ist. Auch das Gesetz zur ‚Verbesserung der Zusammenarbeit und der
Strukturen bei der Organspende‘ haben wir begrüßt, doch noch ist nicht
wirklich absehbar, welchen Effekt es im Endeffekt haben wird“, erklärt
Prof. Dr. Vedat Schwenger, Stuttgart, Kongresspräsident der DTG-
Jahrestagung 2021. „Wir glauben, dass dringend weitere Maßnahmen benötigt
werden, damit Patientinnen und Patienten mit Organversagen in Deutschland
eine reelle Chance haben, in einer akzeptablen Zeitspanne ein
lebensrettendes Organ zu erhalten.“

Welche Maßnahmen können das sein? Der Stuttgarter Experte hält die
Widerspruchslösung für einen ganz zentralen Baustein und bedauert, dass
die Initiative, sie im Transplantationsgesetz zu verankern, gescheitert
ist. „Die Politik hat hier eine große Chance vertan. Wir
Transplantationsmediziner glauben, dass die Widerspruchslösung flankiert
durch weitere Maßnahmen einen deutlichen Unterschied gemacht hätte,
wenngleich dies von einigen Politikern immer wieder bestritten wurde.“
Menschen mit Organversagen in Deutschland sind durch die Nichteinführung
der Widerspruchslösung gegenüber Menschen in anderen EU Ländern, die
inzwischen überwiegend die Widerspruchslösung praktizieren, im Nachteil
und haben somit auch ein höheres Versterberisiko. Prof. Schwenger weist
darauf hin, dass die politische Entscheidung auch nicht der Meinung der
Mehrheit der Bevölkerung entspricht, denn knapp 80% der deutschen
Bevölkerung haben grundsätzlich eine positive Einstellung zur Organspende.

Doch es gibt noch weitere „Stellschrauben“, um die Situation der
Organspende zu verbessern:

- Einführung eines Registers, in dem der Organspendewille hinterlegt ist
Der Organspendeausweis ist kein verlässliches Dokument und ist bei
Verunfallten oft nicht auffindbar. Viele Angehörige werden dann nach dem
Willen des Verstorbenen gefragt und fühlen sich in der Situation der
Trauer völlig überfordert, eine Entscheidung zu fällen, insbesondere wenn
sie die Frage nie wirklich thematisiert haben. Ein Register, auf das
Spendebeauftragte Zugriff hätten und  in das der Organspendewille nach
turnusmäßiger Abfrage hinterlegt wird, würde viele Probleme lösen: Es gibt
Gewissheit, im Sinne des Verstorbenen zu handeln,  und entlastet somit
letztlich auch die Hinterbliebenen.
Ein weiterer Vorteil: Durch das regelmäßige Abfragen werden mehr Menschen
motiviert, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und eine Entscheidung zu
fällen, was derzeit offensichtlich aus „Bequemlichkeit“ nicht passiert:
Laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wären etwa zwei Drittel
der Bürger spendebereit, aber nur knapp ein Drittel trägt einen
Organspendeausweis bei sich (in der Wahrnehmung von Medizinern auf der
Notfallaufnahme und Intensivstation ist der Anteil sogar noch deutlich
geringer).

- Zulassung von Organen von Spendern, die an einem Herzversagen verstorben
sind
Die Zahl der Organspender ist in den letzten Jahren auf niedrigem Niveau
stabil. Bisherige Maßnahmen zur Steigerung der Organspende zeigten bislang
keinen nennenswerten Effekt. Es ist daher zu überlegen, ob auch
Verstorbene für eine Organspende zugelassen werden sollten, die an einem
Herzversagen versterben („non heart-beating donor“). In den Niederlanden
beispielsweise werden diese „non heart-beating“-Organe transplantiert und
haben zusammen mit Einführung der Widerspruchslösung und Öffnung der
Lebendspenderegeln dazu geführt, dass die Wartezeiten auf ein neues Organ
wesentlich kürzer sind als bei uns (durchschnittlich 2 Jahre vs. 8-10
Jahre). Auch in den USA, in Belgien oder Österreich werden diese Organe
transplantiert.

- Öffnung der Lebendspenderegeln
Im Vergleich zu anderen Ländern gibt es in Deutschland nicht die
Möglichkeit der Kettenspende oder der altruistischen Spende. „Auch wenn
die DTG die Lebendspende grundsätzlich als subsidiär ansieht, müssen wir
angesichts der vielen Menschen, die auf der Warteliste versterben, auch
diese Konzepte diskutieren“, betont Prof. Schwenger.

- Mehr Forschungsförderung, um neue Ansätze (Organregeneration,
Bioprinting, Xenotransplantation) schneller zu entwickeln und die
„Laufzeit“ von Organen zu verlängern
Die medizinische Forschung arbeitet intensiv daran, Organe zu regenerieren
oder vielleicht sogar züchten zu können. 2015 gelang es erstmals,
Nierenorganoide aus induzierten pluripotenten Stammzellen zu entwickeln.
Doch der Weg vom Organoid bis zum komplexen, funktionstüchtigen Organ ist
noch weit. Auch das 3D-Bioprinting hat sich rasant entwickelt, bislang
können aber nur einfache Gewebe (Knorpel, Haut etc.) erzeugt werden, auch
nur in kleinen Volumina. Ebenso stellt die Xenotransplantation, also die
Transplantation von Organen oder Gewebeteilen auf ein Lebewesen einer
anderen Art, beispielsweise vom Tier auf den Menschen, einen
vielversprechenden Forschungsansatz dar, aber auch hier werden noch Jahre
vergehen, bis das Verfahren sicher erforscht ist und im klinischen Alltag
zur Anwendung kommen könnte.

Greifbarer ist der Ansatz, die „Laufzeit“ von Organen zu verlängern. Auch
bei modernen Immunsuppressiva besteht das Risiko langfristiger,
schleichender Organabstoßungen. Vor dem Hintergrund des bestehenden
Organmangels ist daher das Verhindern von Abstoßungen ein wichtiger
Aspekt. Die Optimierung der Immunsuppression kann zu einer verlängerten
Laufzeit der Organe führen, viele kleine Fortschritte wurden in den
letzten Jahren erzielt. Aktuell hat ein Team von Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern aus Heidelberg eine neue Methode entwickelt. Es handelt
sich um eine Zelltherapie („MIC-Therapie“), durch die eine spezifische
immunologische Toleranz gegenüber den Fremdantigenen des Spenderorgans
induziert wird. Möglicherweise kann diese Therapie helfen, die
Funktionstüchtigkeit von Spenderorganen im Körper des Empfängers noch
länger aufrechtzuerhalten, Studien dazu laufen.

„Die Forschungsimpulse aus der Transplantationsmedizin sind enorm
innovativ und angesichts des Organmangels ist es von höchster
gesellschaftlicher Bedeutung, transplantationsmedizinische
Forschungsprojekte zu stärken, auszubauen und in sie zu investieren.
Langfristig wird die Medizin für das Problem ‚Organmangel‘ nachhaltige
Lösungen entwickeln“, da ist sich der Stuttgarter Experte sicher. Doch
angesichts der langen Wartelisten und der Verzweiflung der Menschen, die
auf ein Spenderorgan warten, könne man nicht noch Jahre und Jahrzehnte auf
einen medizinischen Durchbruch warten, sondern müsse die strukturellen und
gesellschaftlichen Hürden schnellstmöglich beseitigen. „Wir müssen die
oben aufgeführten Maßnahmen jetzt beherzt angehen, damit sich endlich
etwas tut“, so das Fazit von Prof. Schwenger.