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EU-Kommission erteilt Zulassung für Lecanemab: Die frühzeitige Diagnose bleibt eine Herausforderung

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Gestern hat die European Commission den ersten Antikörper gegen Alzheimer,
Lecanemab, in Europa zugelassen. Zulassungen anderer Antikörpertherapien
könnten folgen.

Die Therapie kann Alzheimer zwar nicht heilen, aber das
Fortschreiten der Erkrankung verlangsamen. Allerdings kommt sie nur für
Menschen in sehr frühen Stadien einer Alzheimer-Demenz ohne bestimmte
Risikofaktoren in Frage, die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN)
mahnt daher, die Früherkennungsstrukturen zu verbessern und Bevölkerung
wie auch Ärzteschaft stärker für Demenzerkrankungen zu sensibilisieren.
Allein mit der Zulassung sei es noch nicht getan, so die Fachgesellschaft.

Mit Lecanemab steht nun in Europa ein Antikörper gegen die Alzheimer-
Erkrankung zur Verfügung [1] . Die Therapie kann das Fortschreiten der
Alzheimer-Erkrankung um etwa 30 Prozent verlangsamen, sie aber nicht
heilen oder zum Stillstand bringen. „Dennoch ist die Zulassung für alle,
die für die Therapie in Frage kommen, eine gute Nachricht“, erklärt Prof.
Dr. Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für
Neurologie (DGN). „Viele Patientinnen und Patienten in Europa haben darauf
gewartet, denn aus Sicht der Betroffenen macht ein verlangsamtes
Fortschreiten der Erkrankung einen großen Unterschied. In den USA ist das
Medikament bereits seit zwei Jahren zugelassen, in UK seit fast einem
Jahr.“

Doch für viele Patientinnen und Patienten kommt die Therapie nicht in
Frage. Größte Hürde: Das Medikament ist ausschließlich zur Therapie bei
milden kognitiven Einschränkungen in den frühen Alzheimer-
Erkrankungsphasen zugelassen. „Das ist ein Erkrankungsstadium, das viele
Betroffene noch nicht bemerken – oder auch nicht wahrhaben wollen – und in
dem sie die Symptome mit Stress, Burnout oder anderen Lebensumständen
erklären.“ Da es bisher keine kausale Behandlung gab, rieten viele
medizinische Erstversorger dazu, erst einmal abzuwarten, ob sich die
Symptome verschlechtern. Hier müsse nun ein Umdenken stattfinden.

Doch selbst, wenn zu einer Abklärung geraten wird, ist die
Versorgungsrealität so, dass Facharzttermine oft nicht zeitnah zu bekommen
sind. „Wir befürchten daher, dass viele Betroffene das Therapiefenster
verpassen könnten“, erklärt Prof. Berlit. Die DGN appelliert daran, die
Versorgungsstrukturen so zu erweitern, dass jeder „Verdachtsfall“ zeitnah
abgeklärt werden kann. Dabei müsse die diagnostische Kaskade klug
erfolgen. Unbedingt müssen Hausärztinnen und Hausärzte sensibilisiert
werden und eine erste Verdachtsdiagnose sollte in der Hausarztpraxis
gestellt werden, was auch eine entsprechende finanzielle Ausstattung
erfordere. „Die erste diagnostische Abklärung ist zeitintensiv, das ist
nicht ‚nebenbei‘ zu leisten. Eine gute Selektion der Patientinnen und
Patienten ist aber wichtig, um die knappen fachärztlichen Ressourcen
optimal zu nutzen und die weiterführende Diagnostik mit Untersuchung des
Nervenwassers, Bildgebung und genetischer Testung nicht zu überfordern.“

Auch seien Präventionskampagnen erforderlich, damit bestehende Tabus im
Umgang mit Alzheimer überwunden und die Menschen für erste Symptome des
kognitiven Abbaus sensibilisiert werden. „Wir müssen sicherstellen, dass
die Betroffenen rechtzeitig die Diagnose erhalten, damit sie von der
Therapie profitieren können“, erklärt Berlit. „Allein mit der Zulassung
ist es nicht getan.“

Weiter führt er aus, dass sich die Früherkennung wie in vielen anderen
medizinischen Bereichen langfristig auch auszahle. Berechnungen des DZNE
[2] beziffern die Kosten für die Versorgung von Demenz-Kranken in
Deutschland für das Jahr 2020 auf rund 83 Milliarden Euro – das entspräche
mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nach Prognosen könnten
diese Kosten im Jahr 2040 sogar auf rund 141 Milliarden Euro ansteigen.
Man müsse sich darüber im Klaren sein, dass die meisten Mittel in die
Versorgung der schwer Betroffenen fließen, es würde also durchaus auch
gesundheitsökonomisch etwas bringen, wenn bei möglichst vielen Betroffenen
die schwere Erkrankungsphase durch Medikamente hinausgezögert werden
könnte. „Wir hoffen daher, dass uns die Politik beim Ausbau der
Versorgungspfade unterstützt.“

Natürlich seien nicht alle Patientinnen und Patienten für die Therapie
geeignet. Bei Betroffenen mit zwei Kopien des ApoE4-Gens sei die Gefahr
für Nebenwirkungen, sog. Amyloid-related Imaging Abnormalities, kurz ARIA,
die schlimmstenfalls symptomatisch und gefährlich werden könnten, zu hoch.
„Es ist aus unserer Sicht richtig, dass diese Patientengruppe aus
Sicherheitsgründen ausgeschlossen wurde und dass die Zulassung vorsieht,
Patientinnen und Patienten gewissenhaft auszuwählen und auch im Verlauf
weiter zu überwachen. Doch auch das erfordert fachärztliche Kapazitäten.“

Ein weiteres Nadelöhr der Versorgung wird sich zumindest perspektivisch
weiten. Noch ist es so, dass Lecanemab unter fachärztlicher Aufsicht
infundiert werden muss, was Räumlichkeiten, Infusionsliegen und Personal
erfordert. In den USA wurde nun die Zulassung für die subkutane
Darreichungsform von Lecanemab beantragt, was zumindest die Applikation
deutlich vereinfache. „Die Strukturen für die Patientenselektion, die
Diagnostik, Beratung und regelmäßige Therapieüberwachung, wie sie die DGN
vorschlägt, werden daher weiter erforderlich bleiben und müssen darüber
hinaus so ausgelegt sein, dass sie dem demografischen Wandel Rechnung
tragen können“, mahnt der DGN-Generalsekretär.

[1] https://ec.europa.eu/newsroom/sante/items/879055/en
[2] https://www.dzne.de/aktuelles/hintergrund/faktenzentrale