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Weshalb Rückzieher und Kompromisse zum Regieren gehören

Politikwissenschaftler Prof. Dr. Stephan Bröchler weiß, weshalb politische Kompromisse und Anpassungen von Koalitionsverträgen trotz enttäuschter Erwartungen von Bürgerinnen und Bürgern zum demokratischen Regieren dazugehören.  Quelle: Privat
Politikwissenschaftler Prof. Dr. Stephan Bröchler weiß, weshalb politische Kompromisse und Anpassungen von Koalitionsverträgen trotz enttäuschter Erwartungen von Bürgerinnen und Bürgern zum demokratischen Regieren dazugehören. Quelle: Privat
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Bundesfinanzminister Lars Klingbeil legt Haushaltsplan für die nächsten
Jahre vor. Politikwissenschaftler Professor Dr. Stephan Bröchler von der
Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin im Gespräch über
Wahlversprechen und Regierungsrealität.



Zur Person

Dr. Stephan Bröchler ist Professor für Politik- und
Verwaltungswissenschaften an der Hochschule für Wirtschaft und Recht
Berlin (HWR Berlin). Er forscht zur vergleichenden Regierungslehre und dem
Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland. Er war Mitglied der
Expertenkommission „Wahlen in Berlin“ und ist seit 2022 Landeswahleiter.
Stephan Bröchler ist Mitherausgeber der Zeitschrift Leviathan – Berliner
Zeitschrift für Sozialwissenschaft und verantwortlich für Rezensionen in
der Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft.

Wählerinnen und Wähler fühlen sich enttäuscht, weil Wahlversprechen oft
nicht umgesetzt werden. Was entgegnen Sie?

Stephan Bröchler Die Idee der Demokratie und die Kritik an ihrer Praxis
gehören zusammen wie die zwei Seiten einer Medaille. Das
Auseinanderklaffen von Wahlversprechen und Regierungspolitik ist ebenso
ärgerlich wie unvermeidlich. Denn Deutschland ist eine
Koalitionsdemokratie. Seit 1949 haben sich auf Bundesebene stets Parteien
mit zum Teil sehr unterschiedlichen Zielvorstellungen – augenfällig etwa
die Ampelkoalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP – zu
Regierungsbündnissen zusammenfinden müssen.

In Deutschland gilt aufgrund des Verhältniswahlrechts eben nicht das
Prinzip „The winner takes it all“. Eine Partei kann also nicht einfach ihr
Wahlprogramm eins zu eins umsetzen, sobald sie an der Macht ist. Um
stabile Regierungen zu bilden, ist es unvermeidlich, dass keine Partei
uneingeschränkt auf die Umsetzung ihrer Wahlversprechen besteht. Denn es
gilt, teils stark widersprüchliche Ziele in Kompromisse zu überführen.

Politisch klug ist es daher, auf Wahlversprechen zu verzichten, von denen
von vornherein klar ist, dass sie nach der Wahl nicht umgesetzt werden
können. Eine Erkenntnis, die im letzten Bundestagswahlkampf offenbar zu
wenig Beachtung fand.


Der Koalitionsvertrag 2025 der Bundesregierung (SPD und CDU/CSU) sah zur
Entlastung privater Haushalte und Unternehmen die Senkung der Stromsteuer
vor.  Geblieben ist davon die Ankündigung, die Stromsteuer für das
produzierende Gewerbe und die Landwirtschaft zu senken. Führt ein solcher
Kurswechsel nicht zum Vertrauensverlust?

Stephan Bröchler: Koalitionsverträge sind das Drehbuch der
Regierungsarbeit. Regierung, Opposition, Medien und Bürgerinnen und Bürger
sollen wissen, welche Ziele in der Legislaturperiode umgesetzt werden
sollen. Im aktuellen Koalitionsvertrag ist etwa die Senkung der
Stromsteuer für alle Verbrauchergruppen angekündigt. Gleichzeitig enthält
der Vertrag den sogenannten Finanzierungsvorbehalt: Maßnahmen werden nur
umgesetzt, wenn die nötigen Mittel zur Verfügung stehen.

Vor diesem Hintergrund hat die Regierung zur Salamitaktik gegriffen: Die
ersten „Scheiben“ der Stromsteuersenkung wurden zunächst für das
produzierende Gewerbe und die Landwirtschaft realisiert. Vertrauensschäden
entstehen, wenn – erstens – die Gründe für dieses Vorgehen nicht
transparent kommuniziert werden und – zweitens – bis zum Ende der
Legislaturperiode nicht alle Verbrauchergruppen berücksichtigt werden.

Klimapolitik wirkt inzwischen wie ein politischer Zickzackkurs: Erst
ambitionierte Pläne, dann Rückzieher – bei der Industrie, beim
Heizungsgesetz, jetzt auch bei neuen Gasbohrungen vor Borkum. Dabei wurden
Aufbruch und Transformation versprochen?

Stephan Bröchler: Klimapolitik ist – neben der Friedenspolitik – eine der
größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Sie ist gleichzeitig eine
globale, nationale und regionale Aufgabe und in ihrer politischen
Umsetzung höchst komplex.

Deutschland hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2045 klimaneutral zu werden, um
seinen Beitrag zur Abwendung einer Klimakatastrophe zu leisten. Der
erfolgreiche Ausstieg aus fossilen Brennstoffen und die Umstellung auf
erneuerbare Energien erfordern nicht nur technologische Innovationen in
Energiegewinnung, Produktion und Dienstleistung, sondern auch
tiefgreifende gesellschaftliche und politische Transformationsprozesse.

Eine solche wirtschafts-, demokratie-, verfassungs- und sozialverträgliche
Klimapolitik verlangt nach Konsistenz. Politischer Zickzackkurs und
konsequente Klimapolitik schließen sich gegenseitig aus – ersterer
gefährdet notwendige Transformationen und verzögert den Aufbruch.

Die Koalition gibt sich pro-europäisch – verhält sich bei EU-Reformen für
mehr Transparenz im Gesetzgebungsprozess und bei Lobbyeinflüssen oder der
Einsetzung eines unabhängigen Ethikgremiums zurückhaltend. Welche
Konsequenzen hat die zögerliche Haltung für die deutsche Demokratie?

Stephan Bröchler: In der deutschen Europapolitik mangelt es nicht an
Wissen, sondern an Mut. Der überzeugte Europäer und frühere Bundeskanzler
Helmut Kohl sagte: „Die entschlossene Fortführung des europäischen
Einigungswerks ist die Schicksalsfrage für Deutschland und Europa im 21.
Jahrhundert.“

Doch die dringend notwendige Debatte darüber, welches Europa wir anstreben
und wie die politischen Institutionen weiterentwickelt werden sollen,
bleibt weitgehend aus. Dabei liegen Reformvorschläge seit Jahren auf dem
Tisch – etwa im Weißbuch der Europäischen Kommission. Der damalige
Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker skizzierte darin fünf mögliche
Szenarien für die Zukunft der EU bis 2025. Ich wünsche mir mehr Mut von
der Bundesregierung, aktiv an der Gestaltung Europas mitzuwirken.

Der Koalitionsvertrag versprach eine menschenrechtsorientierte
Migrationspolitik – stattdessen mehr nationale Abschottung,
Binnengrenzkontrollen und Rückführungsabkommen. Welches Signal sendet
Deutschland damit nach innen und außen? Wie steht es um das europäische
Versprechen von Freizügigkeit und Solidarität?

Stephan Bröchler: Das Motto der EU lautet: „In Vielfalt geeint“. Die
Realität sieht leider oft anders aus. Die Europäische Union ist in
zentralen Fragen gespalten. Die Mitgliedstaaten sprechen nicht mit einer
Stimme – nicht nur, aber insbesondere wegen der Blockadepolitik einzelner
Länder wie Ungarn.

Ein prägnantes Beispiel ist der Dissens in der Migrationspolitik. Ohne
Reform der Entscheidungsregeln der EU droht künftig ein Rückfall in
nationale Alleingänge – wie zuletzt beim Schengener Abkommen durch die
deutsche Bundesregierung. Ohne eine Rückkehr zum Abkommen von Schengen
nimmt die EU schweren Schaden.

Wie bewerten Sie das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die
Demokratie aktuell?

Stephan Bröchler: Zum Glück steht der ganz große Teil der Bürgerinnen und
Bürger nicht mit dem Rücken zur Wahlurne, sondern mit dem Gesicht davor:
Bei der letzten Bundestagswahl machten rund 83 Prozent der
wahlberechtigten Deutschen von ihrem Stimmrecht Gebrauch. In Berlin lag
die Beteiligung nur knapp unter dem Bundesschnitt.

Internationale Studien belegen regelmäßig: Deutschland gehört weltweit zu
den besten zehn Prozent der Demokratien. Untergangsszenarien wie die des
bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder, der die neue Koalition aus
CDU/CSU und SPD als „letzte Patrone der Demokratie“ bezeichnet, treffen
nicht den Kern unseres Demokratieproblems.

Welche Bedeutung hat persönliche Beteiligung für eine lebendige
Demokratie?

Stephan Bröchler: Deutschland steht nicht vor dem Absturz in eine
Autokratie. Was mir vielmehr Sorge bereitet, ist etwas anderes – das, was
wir in der Politikwissenschaft als Demokratische Regression bezeichnen:
ein schleichender Prozess, in dessen Verlauf Teile der Bevölkerung das
Vertrauen in das politische System verlieren und sich nicht mehr
repräsentiert fühlen.

Der Pegelstand des Zweifels am Funktionieren der Demokratie steigt. Gerade
in dieser Zeit der Verunsicherung ist es wichtig, nicht am Spielfeldrand
zu stehen, sondern an Wahlen teilzunehmen und sich aktiv für unsere
Demokratie zu engagieren. Denn: Tun zeigt Wollen.

Herr Prof. Bröchler, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führte Sylke Schumann, Pressesprecherin der Hochschule für
Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin).

Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin

Die Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin) ist eine
fachlich breit aufgestellte, international ausgerichtete Hochschule für
angewandte Wissenschaften, einer der bundesweit größten staatlichen
Anbieter für das duale Studium und im akademischen Weiterbildungsbereich.
Sie sichert den Fachkräftebedarf in der Hauptstadtregion und darüber
hinaus. Rund 12 500 Studierende sind in über 60 Studiengängen der
Wirtschafts-, Verwaltungs-, Rechts-, Ingenieur- und Polizei- und
Sicherheitswissenschaften sowie in internationalen Master- und MBA-
Studiengängen eingeschrieben. Die HWR Berlin ist die viertgrößte
Hochschule für den öffentlichen Dienst in Deutschland und mehrfach
prämierte Gründungshochschule. Über 700 Kooperationen mit Partnern in der
Wirtschaft und im öffentlichen Dienst garantieren den ausgeprägten
Praxisbezug in Lehre und Forschung. 195 aktive Partnerschaften mit
Universitäten auf allen Kontinenten fördern einen regen
Studierendenaustausch und die internationale Forschungszusammenarbeit. Die
HWR Berlin ist Mitglied im Hochschulverbund „UAS7 – Alliance for
Excellence“ und unterstützt die Initiative der Hochschulrektorenkonferenz
„Weltoffene Hochschulen – Gegen Fremdenfeindlichkeit“.

http://www.hwr-berlin.de

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