Lancet-Kommission fordert globalen Kurswechsel – One Health als Schlüssel für die Zukunft
Die Welt steht vor einer vernetzten
Gesundheitskrise: Zoonosen, antimikrobielle Resistenzen, Umweltzerstörung
und Klimawandel bedrohen Millionen Menschenleben. Eine internationale
Expertengruppe, die Lancet-One-Health-Kommission, warnt in ihrem ersten
Bericht vor gravierenden Folgen, wenn Regierungen, Wirtschaft und
internationale Organisationen nicht sofort umsteuern.
Das Bernhard-Nocht-
Institut für Tropenmedizin (BNITM) war als führender Partner beteiligt.
Der Kern der Botschaft: Nur ein konsequenter „One-Health“-Ansatz, der die
Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt gemeinsam betrachtet, kann die
eskalierende Kette von Gesundheitskrisen durchbrechen.
Die COVID-19-Pandemie hat drastisch gezeigt, wie eng die Gesundheit von
Menschen, Tieren und Ökosystemen miteinander verflochten ist. Doch
Infektionskrankheiten sind nur die Spitze des Eisbergs.
Antibiotikaresistenzen, die jährlich Millionen Todesfälle verursachen,
schmutzige Luft, kontaminierte Gewässer und der Verlust biologischer
Vielfalt bedrohen nicht nur die globale Gesundheit, sondern auch
Ernährungssicherheit, Wirtschaft und soziale Stabilität. Bislang haben
politische Strategien diese Zusammenhänge kaum berücksichtigt.
“One Health“ setzt genau hier an: Es ist ein integrierter Ansatz, der die
Verbindungen zwischen humaner Gesundheit, Tiergesundheit und Umwelt
systematisch in Forschung, Politik und Praxis einbezieht. Die Kommission
fordert, diesen Ansatz verbindlich in alle relevanten Politikfelder zu
integrieren – von der Landwirtschaft über die Klima- und Umweltpolitik bis
hin zur Wirtschaft. Zugleich erfordert One Health einen fairen und
gleichberechtigten Umgang zwischen Ländern mit hohem und niedrigem
Einkommen. Die Lehre aus der Pandemie ist eindeutig: im globalen
Wettbewerb um Impfstoffe, Schutzausrüstung und Diagnostik dürfen Länder
mit begrenzten Ressourcen nicht das Nachsehen haben. Globale
Gesundheitssicherheit gelingt nur, wenn Ressourcen gerecht verteilt und
Kapazitäten überall gestärkt werden.
Vorgehen: Wer steht hinter dem Bericht?
Die Lancet-One-Health-Kommission wurde 2019 ins Leben gerufen und vereint
40 internationale Expertinnen und Experten aus Medizin,
Veterinärwissenschaften, Umweltforschung, Sozialwissenschaften und
Ökonomie. Der Bericht basiert auf einer umfassenden Auswertung aktueller
Daten, Fallstudien und Szenarioanalysen. Ziel war es, wissenschaftliche
Evidenz zusammenzutragen, Risiken zu quantifizieren und
Handlungsempfehlungen zu entwickeln. Zwei Wissenschaftler des BNITM
brachten ihre Expertise in Global Health, Infektionsepidemiologie,
Tropenmedizin und Krankheitsüberwachung ein: Prof. Dr. John Amuasi, Leiter
der Global One Health Research Group, ist Co-Vorsitzender der Kommission,
BNITM-Vorsitzender und Leiter der Abteilung für Infektionskrankheiten
Prof. Dr. Jürgen May ist Kommissionsmitglied.
Ergebnisse: Bedrohungen sind systemisch – und menschengemacht
Die Analyse ist eindeutig: Zoonosen spielen eine zentrale Rolle. Von allen
bekannten Infektionserregern, die beim Menschen Krankheiten auslösen,
stammen rund 60 Prozent ursprünglich von Tieren. Bei neu auftretenden
Infektionskrankheiten ist der Anteil sogar noch höher: Über 70 Prozent
dieser sogenannten “Emerging Diseases“ – wie Ebola, SARS-CoV-1 oder SARS-
CoV-2 – gehen auf Erreger zurück, die vom Tier auf den Menschen
übergesprungen sind.
Zugleich sterben jeden Tag Hunderte Kinder an vermeidbaren
Durchfallerkrankungen, weil sauberes Wasser fehlt. Luftverschmutzung
fordert Millionen vorzeitige Todesfälle jährlich. Hinzu kommen Kipppunkte
im Ökosystem: Die Korallenriffe sind seit dem 19. Jahrhundert um die
Hälfte geschrumpft, zwischen 2010 und 2015 gingen 32 Millionen Hektar
Tropenwald verloren.
Die Kommission zeigt auch die wirtschaftlichen Folgen: Allein die
Afrikanische Schweinepest führte in China zum Verlust von 40 Prozent der
Schweinepopulation und verursachte Schäden von über 140 Milliarden US-
Dollar. Zugleich könnten integrierte Überwachungssysteme nicht nur Leben
retten, sondern auch Kosten sparen: In Italien etwa wird das West-Nil-
Virus nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Stechmücken, Wildvögeln und
Pferden überwacht. Dieser integrierte Ansatz ermöglichte frühzeitige
Gegenmaßnahmen – und sparte in sechs Jahren mehr als 160.000 Euro im
Vergleich zu einer rein humanmedizinischen Überwachung.
„Das Zeitfenster schließt sich“ – Stimmen aus der Kommission
„Gesundheit ist kein isoliertes medizinisches Problem. Sie entsteht in
komplexen Ökosystemen“, sagt Prof. Jürgen May, Vorstandsvorsitzender und
Leiter der Abteilung Infektionsepidemiologie am BNITM und Mitglied der
Kommission. „Wenn wir weiter in Schubladen denken, riskieren wir
Pandemien, resistente Erreger und den Kollaps unserer Ernährungssysteme.“
Prof. John Amuasi: „Regierungen und internationale Organisationen müssen
One-Health-Ansätze in nationale Strategien und Budgets integrieren. Die
Umsetzung kann allerdings nur funktionieren, wenn die verschiedenen
Interessensgruppen auf Augenhöhe miteinander arbeiten. Das gilt auch für
das kürzlich vereinbarte Pandemie-Abkommen. Nur dann können wir weltweit
Vertrauen stärken und Pandemien verhindern.“ Amuasi ist Leiter der BNITM-
Arbeitsgruppe Globale Gesundheit und korrespondierender Autor des
Berichts.
Ausblick: Eine Roadmap für die Zukunft
Die Kommission legt eine klare Agenda vor. Sie fordert eine internationale
Governance-Struktur für One Health, vergleichbar mit dem Pariser
Klimaabkommen. Nationale Regierungen sollen One Health in Gesetze und
Strategien aufnehmen, Budgets umschichten und Frühwarnsysteme für
Krankheiten an den Schnittstellen zwischen Mensch, Tier und Umwelt
einrichten. Ebenso wichtig ist ein Paradigmenwechsel in der Ökonomie – weg
vom reinen Wachstumsdenken hin zu Modellen, die Wohlbefinden,
Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit in den Mittelpunkt stellen.
One Health soll in die Lehrpläne von Universitäten, in
Entwicklungsprogramme und in internationale Handels- und Klimaverträge
integriert werden. Die Kommission betont: Der Schutz der menschlichen
Gesundheit beginnt im Stall, im Wald, in der Luft und im Wasser. Nur dann
können die Ziele der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten
Nationen – von Gesundheit über Klima bis hin zur Biodiversität – erreicht
werden. Die Verantwortung liegt bei allen UN-Mitgliedstaaten, unterstützt
durch die vier Organisationen Weltgesundheitsorganisation (WHO),
Weltorganisation für Tiergesundheit (WOAH), Ernährungs- und
Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) und
Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP).
Über das Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin (BNITM)
Das Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin (BNITM) ist Deutschlands
größte Einrichtung für Forschung, Versorgung und Lehre im Bereich
tropischer und neu auftretender Infektionskrankheiten. Zu den aktuellen
Schwerpunkten zählen Malaria, hämorrhagische Fieberviren, vernachlässigte
Tropenkrankheiten (NTDs), Immunologie, Epidemiologie und die klinische
Versorgung tropischer Infektionen sowie die Mechanismen der
Virusübertragung durch Stechmücken. Das Institut verfügt über mehrere
Hochsicherheitslabore, darunter ein Labor der Biosicherheitsstufe 4
(BSL-4) und mehrere Labore der Stufe 3 (BSL-3), darunter ein
BSL-3-Insektarium für den Umgang mit hochpathogenen Viren und infizierten
Insekten. Das BNITM unterstützt den Aufbau von Laborkapazitäten, darunter
mobile Labore, in zahlreichen Ländern weltweit, insbesondere im Globalen
Süden.