Primärarztsystem: Ausnahmen untergraben das Konzept
Endlich plant die Gesundheitspolitik, ein verbindliches Primärarztsystem
einzuführen. Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und
Familienmedizin (DEGAM) begrüßt diese Entwicklung ausdrücklich – und warnt
gleichzeitig davor, das Konzept noch vor der Einführung durch zahlreiche
Ausnahmen wieder aufzuweichen.
Erst in die Hausarztpraxis – und nur wenn nötig zum Spezialisten. Diese
Regel, die in vielen Ländern längst üblich ist, soll auch in Deutschland
verbindlich eingeführt werden. Die DEGAM setzt sich seit Jahren für ein
solches Primärarztsystem ein, da es die Qualität der medizinischen
Versorgung verbessert und dazu beiträgt, personelle und finanzielle
Ressourcen zu sparen.
„Eine konsequente hausärztliche Steuerung durch ein Primärarztsystem ist
längst überfällig. Es ist höchste Zeit, die medizinische Versorgung wieder
an den tatsächlichen Bedarfen der Patientinnen und Patienten auszurichten.
Nationale und internationale Studien zeigen, dass eine hausärztliche
Primärversorgung die Versorgung vulnerabler Gruppen verbessern,
Hospitalisationen und Notfallbehandlungen verringern und die
Behandlungskontinuität steigern kann. Weitere Vorteile haben wir erst im
Januar dieses Jahres in unserem Positionspapier ‚Mehr Qualität durch
hausärztliche Steuerung‘ zusammengefasst“, kommentiert Prof. Martin
Scherer, Präsident der DEGAM. Sein Fazit: „Es gibt weder Evidenz noch
rationale Argumente dafür, warum sich Deutschland ein unkoordiniertes
System leistet, in dem die eine Hand oft nicht weiß, was die andere tut“.
Während die Pläne, ein solches System auch in Deutschland einzuführen, von
vielen begrüßt werden, gibt es aus verschiedenen Interessensrichtungen
auch kritische Stimmen und Vorschläge für zahlreiche Ausnahmen. So hat
auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) ein Konzept vorgelegt, in
dem bezweifelt wird, dass der Weg zum Hausarzt für alle Altersgruppen
sinnvoll sei. Konkret listet die KBV diverse Ausnahmen auf, die an der
hausärztlichen Praxis vorbeiführen.
„Wenn wir jetzt schon anfangen, Ausnahmen und Gegenargumente zu sammeln,
wird von dem Modell nicht mehr viel übrigbleiben“, kritisiert Martin
Scherer. Ein Beispiel für eine solche Ausnahme ist der Vorschlag, dass
Patienten einen direkten Zugang zur Psychotherapie haben sollen. Die DEGAM
spricht sich dafür aus, dass sowohl der Zugang zur Psychotherapie als auch
zur Psychiatrie über die hausärztliche Praxis koordiniert werden soll. Zum
einen ist es wichtig, dass die Hausärztin / der Hausarzt über die
Behandlung von psychischen Erkrankungen informiert ist – zumal diese
Patienten in der Regel auch somatisch mit behandelt werden müssen. Zum
anderen sind Termine in der Psychotherapie und der Psychiatrie rar. Das
notwendige hartnäckige Herumtelefonieren schaffen gerade oft die Patienten
nicht, die am dringendsten eine Therapie bräuchten. Deshalb ist davon
auszugehen, dass – sollte die KBV-Regelung umgesetzt werden – gerade
schwer psychisch kranke Patientinnen und Patienten weiter durchs Raster
fallen.
Anstatt mögliche Ausnahmen ins Spiel zu bringen, wäre es sinnvoller,
darüber nachzudenken, wie die Rahmenbedingungen für ein funktionierendes
Primärarztsystem gestaltet werden müssen: „Wir müssen den Besuch beim
Hausarzt und bei der Hausärztin auf verschiedenen Ebenen neu denken“,
fordert Prof. Eva Hummers, Vizepräsidentin der DEGAM. „Wir brauchen Team-
Praxen, in denen gut ausgebildete Gesundheitsberufe wie VERAH
(Versorgungsassistenz) oder PCM (Primary Care Management) bestimmte
Tätigkeiten übernehmen können, um die Hausärztinnen und Hausärzte zu
entlasten. Außerdem müssen wir Leistungen, die medizinisch wenig sinnvoll
sind, abbauen, auch wenn manche davon finanziell attraktiv sind. Auch
diese Art der Überversorgung verstopft unsere Praxen und belastet das
System finanziell. Allgemein bekannt ist außerdem, dass wir kluge digitale
Lösungen brauchen – und endlich weniger Bürokratie.“
Im Übrigen weist die DEGAM darauf hin, dass es mit der Hausarztzentrierten
Versorgung (HZV) in Deutschland längst ein System gibt, durch das die
hausärztliche Praxis ihre koordinierende Funktion ausübt und dabei
weiterhin mit den fachspezialistischen Disziplinen eng zusammenarbeitet.
Inzwischen sind zehn Millionen Patientinnen und Patienten in die Verträge
zur HZV eingeschrieben – mit steigender Tendenz. Das Konzept wird
fortlaufend evaluiert, mit sehr guten Ergebnissen: In der HZV steigt die
Behandlungsqualität bei gleichzeitig geringeren Kosten.
Hier finden Sie das Positionspapier Mehr Qualität durch hausärztliche
Steuerung: https://tinyurl.com/yckt9dcb