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Neuer Europäischer Tarifbericht des WSI

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Reale Tariflöhne machen in Europa wieder deutlich Boden gut,
Gewerkschaften reduzieren Kaufkraftverluste – Aufholbedarf besteht aber
weiterhin.Erstmals seit dem Inflationsschub des Jahres 2021 haben die Tariflöhne im
vergangenen Jahr in Europa wieder deutlich Boden gut gemacht: Für die
Eurozone lag der nominale Zuwachs bei 4,5 Prozent und auch nach Abzug der
Inflation verblieb den Beschäftigten ein reales Plus von 2,1 Prozent.


Besonders hohe Kaufkraftgewinne gab es in Österreich (5,4 %), Portugal
(4,5 %) und der Slowakei (3,8 %). Auch in Deutschland lag der
inflationsbereinigte Zuwachs mit 2,8 Prozent leicht oberhalb des
Durchschnitts. Die Erfolge wurden von den Gewerkschaften teilweise hart
erkämpft: Die vergangenen beiden Jahre waren in Europa ausgesprochen
streikreich. Trotzdem besteht bei den Tariflöhnen weiterhin Aufholbedarf.
Das ergibt der neue Europäische Tarifbericht des Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, für
den unter anderem die neuesten verfügbaren Daten der Europäischen
Kommission zur Lohn- und Preisentwicklung ausgewertet werden.*

Während der jüngsten Inflationskrise waren die Tarifsteigerungen zunächst
deutlich hinter die explodierende Inflationsrate zurückgefallen. Das lag
laut Europäischem Tarifbericht häufig an den langen Laufzeiten von
Tarifverträgen, die etwa in Deutschland durchschnittlich zwei Jahre
betragen. Während eines laufenden Tarifvertrags herrscht Friedenspflicht,
sodass die Gewerkschaften erst mit Verzögerung auf unvorhergesehene
Ereignisse wie die Preisschocks reagieren konnten. Die Folge waren
erhebliche Kaufkraftverluste für die Beschäftigten, während
Preiserhöhungen gleichzeitig bei vielen Unternehmen zu steigenden
Gewinnmargen führten, analysieren die Studienautoren Thilo Janssen und Dr.
Malte Lübker. „Die jüngsten Zugewinne lassen sich deshalb als
Gegenbewegung verstehen. Der Aufholprozess ist allerdings noch nicht
abgeschlossen, sodass hohe Lohnforderungen weiterhin Berechtigung haben“,
sagt Lübker.

Mit Ausnahme Portugals liegen die Tariflöhne in allen Ländern mit
verfügbaren Daten nach Abzug der Inflation noch unterhalb des Niveaus des
Jahres 2020. Besonders drastisch sind die Verluste in Tschechien (-11,4
%), Italien (-9,1 %) und Spanien (-5,6 %). In Deutschland beträgt der
Rückstand gegenüber dem Jahr 2020 nach den Daten des WSI-Tarifarchivs noch
4,7 Prozent (siehe auch Abbildung 1 in der pdf-Version dieser PM; Link
unten). Wenn der Tarifindex des Statistischen Bundesamtes verwendet wird,
ergibt sich aufgrund methodischer Unterschiede sogar eine Lücke von 7,8
Prozent (inklusive Sonderzahlungen) bzw. von fast 10 Prozent (ohne
Sonderzahlungen). In der Eurozone insgesamt lagen die realen Tariflöhne im
vergangenen Jahr noch rund 5 Prozent unterhalb des Ausgangsniveaus des
Jahres 2020. Insofern sei das Abflachen des Tariflohnwachstums, das etwa
von der EZB erwartet wird, bedenklich, bilanzieren die WSI-Experten.

Aufholprozess oft erst nach Streiks möglich – Blick aufs
Arbeitskampfvolumen

Die in der Studie dargestellte Entwicklung zeigt eine deutliche Zunahme
des Arbeitskampfvolumens in den Jahren 2023 und 2024 – und zwar selbst in
Ländern wie Österreich, in denen ansonsten kaum gestreikt wird.
Deutschland liegt mit einem Streikaufkommen von jährlich 21 Ausfalltagen
pro 1.000 Beschäftigten gemeinsam mit den Niederlanden im europäischen
Mittelfeld. Umgerechnet auf einzelne Beschäftigte bedeutet dies, dass die
Deutschen durchschnittlich 10 Minuten pro Jahr streiken – also in etwa so
lange, wie eine Kaffeepause dauert.

Deutlich mehr gestreikt wird beispielsweise in Frankreich (102
Ausfalltage), wo die Gewerkschaften – anders als in Deutschland – auch
außerhalb von Tarifauseinandersetzungen zum Streik aufrufen können. Dies
war 2023 etwa bei Protesten gegen die Rentenreform der Fall. Auch in
Belgien (107 Ausfalltage) oder Finnland (93 Tage) ist das
Arbeitskampfvolumen weitaus höher als hierzulande, Polen oder Dänemark
kommen auf je 15 Ausfalltage (siehe auch Abbildung 2 in der pdf-Version).
Im Hochlohnland Schweden (1 Ausfalltag) sind die Beziehungen zwischen
Gewerkschaften und Arbeitgebern traditionell kooperativ. Hier hat vor
allem der Arbeitskampf der Gewerkschaft IF Metall gegen Tesla für
internationales Aufsehen gesorgt. Tesla weigert sich, für seine
schwedischen Niederlassung einen Tarifvertrag zu unterzeichnen. Inzwischen
wird Tesla auch von Gewerkschaften aus anderen Branchen bestreikt, etwa
indem sie Tesla die Postzustellung oder die Wartung von Ladesäulen
verweigern. In Deutschland sind solche Solidaritätsstreiks nur sehr
eingeschränkt möglich.

„Immer wieder lancierte Debatten um eine weitere Einschränkung des
Streikrechts in Deutschland gehen an der Realität vorbei: Weder ist das
Streikvolumen besonders hoch noch ist das Streikrecht besonders liberal“,
bilanzieren die Studienautoren Janssen und Lübker. Zuletzt hatten die
Metallarbeitgeber einen Vorstoß gemacht, das Streikrecht in Deutschland zu
beschränken. Den Vorschlägen zufolge könnten die Arbeitgeber künftig das
Streikrecht der Gewerkschaften aushebeln, indem sie ein
Schlichtungsverfahren beantragen. Noch weitergehende Einschränkungen
wurden für Beschäftigte vorgeschlagen, die in der sogenannten
Daseinsvorsorge arbeiten. Diese beträfen je nach Definition bis zu 50
Prozent aller Beschäftigten in Deutschland. Insgesamt würden
Beschränkungen des Streikrechts die Durchsetzungsfähigkeit der
Gewerkschaften erheblich schwächen. „Durchsetzungsstarke Gewerkschaften,
die die Mittel des Arbeitskampfes im Notfall ausschöpfen können, sind aus
Sicht der Beschäftigten unbedingt erforderlich“, betont Prof. Dr. Bettina
Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des WSI.

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